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„Der Mund kommt nie allein“ … der „Rest“ bestimmt, wann, wie und womit der Patient behandelt werden kann

(c) shutterstock.com/Roman3dArt

Es wäre so einfach: Je nach oralem Befund die gleiche Therapie, ein und dieselbe Prophylaxe für alle! Doch: Jeder Mensch ist anders und manche sind ganz besonders – anders! Daher müssen Sie bei jeder zahnmedizinischen Therapie und Prophylaxebehandlung auf die individuellen Vorerkrankungen und Risiken der Patienten, ob jung oder alt, eingehen. Nur so können Sie unerwünschte Komplikationen und Zwischenfälle vermeiden und die Lebensqualität und -zeit der Patienten erhalten beziehungsweise verbessern.

Den Erfordernissen einer modernen Zahnarztpraxis entsprechend, wendet sich das „Quintessenz Team-Journal“ an das gesamte zahnärztliche Team: Zahnärztinnen, Zahnärzte sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, von Auszubildenden bis zur Dentalhygienikerin. Neben dem Basiswissen für die Auszubildende sorgen Beiträge aus dem klinischen Bereich für ein Kompetenz-Plus. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenlosen Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.

 

A-B-T-Regel

Strukturiertes Vorgehen hilft immer, wenn Patienten zeitsparend, korrekt und sicher, d.as heißt, komplikationslos behandeln werden sollen. Wie kann nun so ein Weg aussehen, der zur optimalen und damit personalisierten Therapie führen wird (Abb. 1)? Inhaltlich können die drei entscheidenden Schritte in einer A-B-T-Regel zusammengefasst werden. Die A-B-T-Regel ist als Merkhilfe für Sie gedacht und (noch) kein standardisierter Begriff. A-B-T steht für Anamnese, Befund und Therapiemöglichkeit (Abb. 2).

Anamnese

Das wertvollste „Instrument“, welches bei jedem Patienten eingesetzt werden kann und muss, ist die Anamnese. Anamnese bedeutet Erinnerung (anámnēsis = altgriechisch) und wird im klinischen Alltag mit der „Krankheitsvorgeschichte“ des Patienten gleichgesetzt. Das Wissen über die Erkrankungen und Risiken des Patienten, der gerade vor Ihnen sitzt, ist eine unverzichtbare Voraussetzung, wenn Sie den Patienten komplikationslos und ohne Zwischenfall behandeln wollen. Nur wenn Sie wissen, dass zum Beispiel der Patient eine Allergie hat, werden Sie auch bei den angewandten Produkten und Hilfsmitteln auf die Allergene (zum Beispiel Latex) verzichten. Daher sei an dieser Stelle kurz das allerwichtigste bezüglich der Anamnese und der Anamneseerhebung zusammengefasst:

Nur eine aktuelle Anamnese ist sinnvoll! Daher wird es auch gesetzlich verlangt, dass die Anamnese im „unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Behandlung“ erhoben beziehungsweise aktualisiert wird (Patienten-Rechtegesetz 2013). Prinzipiell ist eine rein mündlich erfasste oder nachgefragte Anamnese gesetzlich erlaubt. Dabei ist es jedoch wichtig, dass die Inhalte bzw. Veränderungen jedes Mal dokumentiert werden.

Die Vorteile einer schriftlichen gegenüber einer rein mündlichen Anamnese, auch bei der Aktualisierung, liegen jedoch auf der Hand:

  • Der Anamnesebogen kann im Vorfeld schon einmal ausgefüllt werden und führt somit zur Zeitersparnis im Vergleich zum mündlichen Abfragen aller relevanten Informationen.
  • Wichtige Erkrankungen, Schwangerschaft, Allergien, Befunde und Medikamente können nicht vergessen werden, da sie auf dem Bogen abgefragt werden.
  • Da die Patienten zumeist zahn- und allgemeinmedizinische Laien sind, kommen sie nicht von selbst darauf, dass diese Informationen (z. B. Einnahme von blutgerinnungshemmenden Medikamenten oder Bisphosphonate) für eine optimale, komplikationslose Behandlung unverzichtbar sind.
  • Wenn der Patient ein „Dokument“ unterschreiben soll, wird er es gewissenhafter ausfüllen, als wenn er nur gefragt wird, ob alles in Ordnung ist oder sich etwas geändert hat.
  • Bei eventuellen gerichtlichen Ausein­andersetzungen kann der Beweis, dass der Patient Informationen nicht übermittelt hat, schwarz auf weiß erbracht werden.

Eine effektive Anamnese hilft schnell und unkompliziert zu entscheiden, welcher Weg in der Behandlung des Patienten gegangen werden muss. Beim Gesunden der rein „befundorientierte“, bei Patienten mit Erkrankungen oder anderen Risiken (zum Beispiel Schwangerschaft) der patientenorientierte Weg (Abb. 3). Damit ist der erste Schritt zur optimalen, personalisierten Patientenbehandlung getan. Die Zeit der „Gießkannentherapie“ – eine für alle – ist vorbei. Individualisiert auf den Patienten zugeschnitten – das ist die Zahnmedizin von heute, da sie – trotz vermeintlich höherem Zeitaufwand durch wiederholte regelmäßige und ausführliche Anamnese – aufgrund geringerer Komplikationen und Zwischenfälle effektiver, effizienter und sicherer wird.

Befund

Der zweite entscheidende Schritt für eine personalisierte optimale Behandlung ist die aktuelle Befundbeurteilung. Teilweise wird diese auch anamnestisch erfolgen (zum Beispiel bei Schmerzen). Hauptsächlich werden Sie mit Ihren zahnmedizinischen Kenntnissen, den Indizies und der körperlichen, vor allem oralen Untersuchung die Befunde professionell erheben. Wichtig dabei ist bekanntermaßen, dass immer die gesamte Mundhöhle, „rot und weiß“, betrachtet und untersucht wird. Gerade an den Schleimhäuten zeigen sich oft Hinweise auf allgemeinmedizinische Erkrankungen, Risiken oder auch Nebenwirkungen von Medikamenten.

Therapiemöglichkeiten

Welche Therapie bei entsprechendem Befund nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft und Erfahrung angeraten ist, wissen Sie am besten. Bei der A-B-T Regel wird jedoch eine besondere Betonung auf Therapiemöglichkeiten gelegt. Denn wenn Sie die Risikopatienten nicht unnötigerweise gefährden wollen, müssen Sie durchaus alternative Therapiewege zu den sonst üblichen Methoden und Empfehlungen einschlagen.

Zusammengefasst kann das Ziel jeder zahnmedizinischen Behandlung, dem Patienten (und nicht nur der Mundhöhle) gerecht zu werden, nur mit dem Wissen aus der Anamnese, den Befunden und über die Therapiemöglichkeiten optimal umgesetzt werden. Nur diese Kombination verrät, was zu tun ist (To do) und was nicht getan werden darf (No go). Sie bestimmt wann, wie und womit der Patient, der vor Ihnen sitzt, behandelt werden kann (Abb. 5).

Konsequenzen

Spannend wird es nun, wenn sich jeder einmal überlegt, welche Konsequenzen aus der allgemeinmedizinischen Anamnese im Zahnarztpraxisalltag aufgrund der Vorerkrankungen oder Risiken überhaupt relevant sind. Die Übersicht, grafisch in Abbildung 4 dargestellt, überrascht vielleicht, wenn Sie nicht mit so vielen Antworten gerechnet haben. Die gute Nachricht dabei ist, dass Sie viele dieser Konsequenzen wissen, intuitiv korrekt umsetzten und diese selbstverständlich nicht bei jedem Risikopatienten immer zum Tragen kommen. Z. B. Dosierungsanpassungen von Medikamenten bei Nieren-insuffizienten Patienten sind bei einer üblichen PZR nicht notwendig.

Vorerkrankungen

Welche Vorerkrankungen und Risiken zu dieses Konsequenzen führen können, ist ein noch viel größeres Thema. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit soll mit dem abgebildeten, sehr ausführlichen Anamnesebogen ein Überblick über die häufigsten Risiken gegeben werden (Abb. 6). Jedes mögliche Kreuzchen zu einer Frage hat irgendeine Konsequenz für eine zahnmedizinische Behandlung. Sonst wäre die Frage ja überflüssig.

Beispiele für typische Konsequenzen

In der Fußzeile dieses Anamnesebogens wurden als kleine Merkhilfe die allerwichtigsten Konsequenzen aufgelistet. Um Ihnen die Alltagspraxisrelevanz aufzuzeigen und Sie anzufeuern, sich auch zukünftig mit diesem wichtigen Thema zu beschäftigen, wird nun zu jeder Konsequenz ein Beispiel, mit Schwerpunkt auf der Prophylaxesitzung, angesprochen.

Antibiose
Patienten mit Medikamenten, die mit Kiefernekrosen assoziiert sind, zum Beispiel Bisphosphonate oder monoklonale Antikörper, müssen perioperativ über einen längeren Zeitraum antibiotisch abgedeckt werden. Dies kann auch für Parodontalbehandlungen, insbesondere beim tiefen subgingivalen Scalen, gelten.

Befunde
In diesem Fall dreht sich der Hinweis um allgemeinmedizinische Befunde, die eventuell auch in der Zahnarztpraxis erhoben werden müssen. Beispielsweise kann es notwendig werden, bei einem Patienten mit typischen Symptomen eines hohen Blutdruckes diesen zu messen. Bei Blutdruckwerten höher als 180 mmHg systolisch oder 110 mmHg diastolisch muss jede Behandlung abgebrochen oder darf erst gar nicht begonnen werden, da diese Werte den Beginn einer lebensbedrohlichen Situation (= Hypertone Krise) markieren.

Detail
Oft erfordert ein Kreuzchen auf dem Bogen das detaillierte Nachfragen, um die korrekte Konsequenz daraus ziehen zu können. Beispielsweise muss bei einem Herzinfarkt erfragt werden, wann dieser war. Da diese Patienten in den ersten 3 bis 6 Monaten nach diesem ein deutlich höheres Risiko für einen zweiten Herzinfarkt haben, sollte jeder elektive, also verschiebbare Eingriff, zum Beispiel eine PZR, nicht durchgeführt werden.

Diagnostik
Einfaches Beispiel: Sie werden eine Schwangere nicht röntgen, wenn es nicht unbedingt sein muss.

Hilfe
Gerade für Empfehlungen zur Mundhygiene müssen Sie zum Beispiel bei Patienten mit Morbus Parkinson, Tremor (= Zittern) oder auch Schlaganfall erst einmal eruieren, was der Patient überhaupt selbst noch durchführen und leisten kann. Danach müssen Sie die entsprechenden Hilfsmaßnahmen oder Methoden personalisiert empfehlen oder auch mit dem Patienten üben. Beispielsweise können die Flaschen der Mundspüllösungen durch eingeschränkte Fingerfertigkeit oft nicht mehr geöffnet werden.

Information
Leider werden Ihre Patienten von den behandelnden Haus- oder Fachärzten oft nicht auf die Zusammenhänge zwischen Entzündungsgeschehen in der Mundhöhle, allen voran die Parodontitis, und allgemeiner Gesundheit hingewiesen. Daher ist es sinnvoll, gerade den Risikopatienten, die offensichtlich sehr von einem gesunden Mund profitieren wie z. B. Diabetiker, die besondere Bedeutung einer suffizienten Mundhygiene zu erklären. Dies ist übrigens ein wunderbares Beispiel, dass Sie durch Ihre Arbeit die Lebensqualität und -zeit der Patienten verbessern können, da die Prophylaxe und erfolgreiche Behandlung einer Parodontitis das Risiko für Diabeteskomplikationen nachweislich senken.

Konsil
Unter Konsil wird das kollegiale und informative Gespräch unter Kollegen und im Team bezeichnet. Ein klassisches Beispiel einer notwendigen Zusammenarbeit und Beratung findet sich bei einer Medikamenten-induzierten Gingivahyperplasie (zum Beispiel bei Blutdruckmedikamenten wie den Kalziumantagonisten). Hier muss mit den behandelnden Ärzten über Alternativen der Medikation diskutiert werden.

Lagerung

Abb. 7 Gestaute Vena jugularis externa bei sitzender Patientin als Herzinsuffizienzzeichen.
Abb. 7 Gestaute Vena jugularis externa bei sitzender Patientin als Herzinsuffizienzzeichen.
Lagerung ist eine sehr wichtige Konsequenz aus der allgemeinmedizinischen Anamnese. Neben den Besonderheiten bei der Schwangeren im letzten Trimenon können viele andere Risikopatienten durch falsche beziehungsweise zu flache Lagerung gefährdet werden. Ein klassisches Beispiel ist der herzkranke Patient. Patienten mit einer Herzinsuffizienz höheren Grades dürfen nicht ganz flach oder tief gelagert werden, da sonst das Herz zu sehr belastet wird. Im seltenen Extremfall kann dies auch zu einem akuten Herzversagen führen. Als praktische Tipps an dieser Stelle:

  • Fragen Sie den Patienten, wie flach er in der Nacht im Bett liegen kann (= mit wie vielen Kissen er schläft).
  • Lagern Sie ihn ganz langsam und fragen ihn dabei nach seinem Befinden.
  • Achten Sie auf Symptome wie Atemnot (plötzliche Steigerung der Atemfrequenz oder tiefe Atemzüge) und Stauungszeichen (z. B. der Vena jugularis externe am Hals (Abb. 7), die für eine deutliche Herzüberlastung sprechen können.

Ganz allgemein gilt: Alle in einer Zahnarztpraxis tätigen Personen, die Patienten auch lagern, müssen die Lagerungsbesonderheiten bei Risikopatienten kennen!

Lokalanästhesie
Die Lokalanästhesie, vor allem mit Vasokonstriktor, ist bei vielen Risikopatienten kontraindiziert. Hier lohnt es sich, die konkreten Hinweise in den Fachinformationen der Präparate, die in der Praxis angewandt werden, einmal bewusst zu studieren.

Material
Ganz klar müssen alle Materialien, gegen die eine Allergie vorliegt, vermieden werden. Das gilt für alles, was „implantiert“ (zum Beispiel Komposite) oder mit dem „hantiert“ wird (um Beispiel Latexhandschuhe, -kofferdam).

Personal
Ein einfacher Hinweis: Ein Hochrisikopatient ist nichts für einen Berufsanfänger. Zu groß wäre die Gefahr unnötiger Komplikationen.

Recall
Auch hier findet sich eine unüberschaubare Anzahl an Beispielen, wonach Sie aufgrund von Risiken das Recallintervall verkürzen sollten. Das Spektrum reicht vom Raucher über den Diabetiker, Herzpatienten, den Patienten vor und nach Transplantationen bis hin zu allen, bei denen Zusammenhänge zwischen dem schon erwähnten Entzündungsgeschehen in der Mundhöhle und der Erkrankung diskutiert werden.

Termin
Neben der bereits erwähnten Besonderheit, keinen elektiven Eingriff in den ersten 3 bis 6 Monaten nach Herzinfarkt durchzuführen, gibt es noch viele weitereTerminierungsbesonderheiten, die es zu beachten gilt. Typische Beispiele:

  • keine operativen Eingriffe nach koronarer Stentimplantation (hier ist der Zeitraum abhängig von der Stent-Art),
  • keine elektiven Eingriffe in den ersten 9 Monaten nach Schlaganfall,
  • bevorzugte Nachmittagstermine bei Hochrisikopatienten mit Herzerkrankungen oder Hypertonie (= hoher Blutdruck), da vormittags der Blutdruck und das Herzinfarktrisiko am höchsten sind,
  • kein Termin innerhalb eines möglichen tageszeitabhängigen Intervalls für Anfälle bei Epileptikern,
  • kein Termin direkt nach einer Dialyse (wenige Ausnahmen möglich).

UAW
UAW steht für unerwünschte Arzneimittelwirkungen und ist gleichbedeutend mit Nebenwirkungen zu verstehen. Sollten Sie einen Befund in der Mundhöhle diagnostizieren, der nicht zahnmedizinisch zu erklären ist, macht es Sinn darüber nachzudenken, ob er mit einer Allgemeinerkrankung zusammenhängt. Als weitere Ursachen kommen jedoch häufig auch Nebenwirkungen der Patientenmedikation infrage. Daher ist es besonders wichtig, immer die aktuelle Medikation vorliegen zu haben. Die häufigsten UAW sind die Xerostomie, eine erhöhte Blutungsneigung (z. B. ASS), Veränderungen der Mundschleimhaut (z. B. Aphten, Entzündungen, Pilzinfektionen) oder die schon erwähnte Gingivahyperplasie.

Wechselwirkungen
Dieser letzte Punkt betrifft hauptsächlich die Medikamentenverordnung durch die Zahnärzte/-innen. Als ein Beispiel kann die Antibiotikagabe, auch im Rahmen einer Parodontitistherapie erwähnt werden. Antibiotika können die Wirkung blutgerinnungshemmender Medikamente der Patienten (z. B. Marcumar) verstärken. Es gibt nicht viele zu beachtende Wechselwirkungen mit den in der Zahnarztpraxis üblichen Arzneimittel, jedoch – wenn auch sehr selten – sogar einige lebensbedrohliche. Daher gilt auch hier der Tipp, sich über diese in den Beipackzetteln zu informieren.

Fazit

Sie sehen, es ist so einfach: Je nach oralem Befund, je nach den Besonderheiten der Patienten können Sie kombiniert mit Ihrem zahnmedizinischen Fachwissen auch Risikopatienten optimal und personalisiert behandeln. Die A-B-T-Regel als Merkhilfe verdeutlicht, dass erst die Kombination des Wissens aus der individuellen Anamnese, den aktuellen Befunden und über die verschiedenen Therapiemöglichkeiten es ermöglicht, Ihre Patienten risikoarm und sicher zu behandeln. So erhalten oder verbessern Sie die Lebensqualität und -zeit Ihrer jungen oder alten Risikopatienten. Wenn das mal keine Motivation ist, sich mit diesem Thema weiter zu beschäftigen.

Ein Beitrag von Dr. Catherine Kempf, Pullach bei München

 

Quelle: Quintessenz Team-Journal 2/21 Team Interdisziplinär Zahnmedizin Patientenkommunikation Praxis