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Verhalten am Unfallort, Rettungskette und adäquate Primärversorgung sind entscheidend, aber in der Praxis schwierig – ein Fallbericht

Radiologische Ausgangssituation: palatinale Dislokation Zahn 12 (ca. 1 mm), Intrusion Zahn 11 (ca. 8 mm) mit Kronenfraktur und Pulpaexposition, leere Alveole Regio 21 mit Blutkoagulum, bukkale Dislokation Zahn 22 (ca. 2 mm), Dehnung der Alveolarwand Regio 11 und 21 sowie rupturierte Papillen.

Die häufigsten Zahnunfälle im bleibenden Gebiss sind Kronenfrakturen, gefolgt von leichten Dislokationsverletzungen. Schwer dislozierte oder avulsierte Zähne werden reponiert bzw. replantiert und geschient. Ist das Wurzelwachstum bereits abgeschlossen, erfolgt bei Dislokationen von mehr als 1 mm eine zeitnahe Wurzelkanalbehandlung. Die Prognose schwerer Dislokationsverletzungen wird auch durch das Verhalten am Unfallort erheblich beeinflusst. Der Beitrag von Dr. Fabio Saccardin für die Quintessenz Zahnmedizin 11/19 beschreibt die diagnostische und therapeutische Vorgehensweise sowie den Umgang mit Spätfolgen bei Dislokationsverletzungen im bleibenden Gebiss anhand eines komplexen Patientenfalls.

Die „Quintessenz Zahnmedizin“, Monatszeitschrift für die gesamte Zahnmedizin, ist der älteste Titel des Quintessenz-Verlags, sie wurde 2019 wie der Verlag selbst 70 Jahre alt. Die Zeitschrift erscheint mit zwölf Ausgaben jährlich. Drei Ausgaben davon sind aktuelle Schwerpunktausgaben, die zusätzlich einen Online-Wissenstest bieten mit der Möglichkeit, Fortbildungspunkte zu erwerben. Abonnenten erhalten uneingeschränkten Zugang für die Online-Version der Zeitschrift und Zugang zur App-Version. Mehr Infos, Abo-Möglichkeit sowie ein kostenloses Probeheft bekommen Sie im Quintessenz-Shop.

Kronenfrakturen und leichte Dislokationsverletzungen wie Konkussionen oder Lockerungen sind die häufigsten Unfälle im bleibenden Gebiss, wohingegen Wurzelfrakturen eher selten vorkommen4. Die Prognose betroffener Zähne kann durch eine adäquate Primärversorgung erheblich verbessert werden. Bei avulsierten Zähnen spielt zusätzlich die Rettungskette eine wichtige Rolle. Hier sind die Art und die Dauer der extraoralen Lagerung bis zur Replantation entscheidend. Die Umsetzung einer standardisierten Vorgehensweise in der dentalen Traumatologie ist häufig schwierig, da diverse Faktoren wie Zustand des Zahns, Begleitverletzungen, allgemeinmedizinische Erkrankungen und das Alter berücksichtigt werden müssen.

Fallbericht

Anamnese

Ein 51-jähriger Patient stellte sich am Zahnunfallzentrum des Universitären Zentrums für Zahnmedizin in Basel vor, nachdem er bei der Montage einer Deckenlampe vom Stuhl gefallen und mit seinen Oberkieferfrontzähnen an der Kante einer darunter befindlichen Tischplatte aufgeschlagen war. Es gab keine Hinweise für ein Schädel-Hirn-Trauma (­Amnesie, Emesis, Nausea, Diplopie oder Cephalgie). Aufgrund des unklaren Tetanus-Impfstatus erfolgte eine zeitnahe Konsultation beim Hausarzt. Der Patient war Raucher (10,5 Packungsjahre), jedoch allgemeinmedizinisch gesund.

Klinischer und radiologischer Befund

Der extraorale Befund zeigte abgesehen von einer dezent geschwollenen Unterlippe mit einer Exkoriation und einer kleinen Riss-Quetsch-Wunde an der Innenseite keine Auffälligkeiten. Intraoral war der Zahn 12 gelockert (Beweglichkeit Grad 2) sowie 1 mm nach palatinal disloziert und hatte einen Vorkontakt in habitueller Okklusion (Abb. 1 und 2). Zahn 11 war 8 mm intrudiert und wies zusätzlich eine Kronenfraktur mit Pulpaexposition auf. Das zugehörige Kronenfragment des Zahnes 11 sowie der avulsierte Zahn 21 fehlten und befanden sich laut Angaben des Patienten noch am Unfallort. Zahn 22 zeigte eine bukkale Dislokation von 2 mm. Die Alveolarwand Regio 11 und 21 war nach bukkal gedehnt, aber es konnte keine Stufe im Sinne einer Alveolarfortsatzfraktur palpiert werden. Darüber hinaus zeigten sich rupturierte Papillen 12 bis 22.

Primärversorgung

Unter Lokalanästhesie erfolgte die vorsichtige Entfernung des intrudierten Zahns 11 mittels Wurzelrestzange (Abb. 3). Im Sinne einer antiresorptiven und regenerativen Therapie (ART) wurde Zahn 11 für 30 Minuten im Medium der Zahnrettungsbox ­(Miradent SOS Zahnbox, Hager & Werken) mit NoResorb (Apotheke Dr. Hörmann) zwischengelagert. Währenddessen erfolgte die Reposition der Zähne 12 und 22 (Abb. 4). Nach Konditionierung und Bonding (Total Etch und Heliobond, Ivoclar Vivadent) der Zähne 13, 12, 22 und 23 (Abb. 5) wurden diese mit einer Titan-Trauma-Schiene (TTS, Medartis) und einem dünnfließenden, fluoreszierenden Komposit (Tetric EvoFlow,  Ivoclar Vivadent) fixiert. Hieran schloss sich die Versorgung der Weichgewebsverletzungen an. Dabei wurden die extraorale Riss-Quetsch-Wunde und die Schürfwunde mit einem in Kochsalzlösung getränkten Tupfer gereinigt sowie die rupturierten Papillen 12 bis 22 mit vertikalen Matratzennähten (Supramid 5-0, Serag-Wiessner) adaptiert. Nach extra­oraler Konditionierung und Bonding der Zahnkrone 11 folgte die Applikation eines Schmelzmatrixprotein-­Gels (Emdogain, Straumann) auf die Wurzeloberfläche. Anschließend konnte Zahn 11 replantiert und in die Schienung einbezogen werden. Dessen exponierte Dentinfläche wurde mit dünnfließendem Komposit abgedeckt. Es folgte eine Überprüfung der Okklusion. Zuletzt wurde an der Papille 12/11 zur Stabilisierung in koronaler Richtung eine doppelt gekreuzte vertikale Umschlingungsnaht gelegt (Abb. 6).

Im Anschluss erhielt der Patient neben In­struktionen über das postoperative Verhalten einen Kühlbeutel zur Schwellungsprophylaxe, Rezepte für ein Antibiotikum (Doxycyclin 100 mg, 200 mg am Unfalltag, 100 mg für die folgenden 7 Tage, Spirig Pharma), ein Analgetikum (Voltaren rapid Dragees 50 mg, bei Bedarf max. 1-1-1, ­Novartis Pharma) sowie ein Antiseptikum (Chlorhexamed forte alkoholfrei 0,2 Prozent, 1-0-1 für 1 Minute unverdünnt spülen, ­GlaxoSmithKline Consumer Healthcare). Außerdem wurde er gebeten, am Unfallort nach dem Kronenfragment des Zahns 11 sowie dem avulsierten Zahn 21 zu suchen und sie in eine ihm mitgegebene Zahnrettungsbox einzulegen.

Am Folgetag ging es dem Patienten den Umständen entsprechend gut. Er brachte das fehlende Kronenfragment 11 und den avulsierten Zahn 21 in der Zahnrettungsbox mit. Dabei zeigt sich, dass auch Zahn 21 eine Kronenfraktur aufwies (Abb. 7). Nach Reinigung des Zahnfragments 21 mit Kochsalzlösung erfolgten die Wiederbefestigung und eine extraorale Wurzelkanalbehandlung (Abb. 8). Das nekro­tische Desmodont und die Konkremente wurden mit einem Scaler entfernt6,10,11,13,14,17 (Abb. 9). Nach Lokalanästhesie folgten eine Spülung der Alveole Regio 21 mit steriler, isotoner Kochsalzlösung sowie die Schienung. Zuletzt wurde eine doppelt gekreuzte vertikale Umschlingungsnaht zur Stabilisierung der Papille 21/22 in koronaler Richtung angebracht (Abb. 10). Das Kronenfragment des Zahns 11 wurde bis zum Zeitpunkt der Wiederbefestigung in Wasser aufbewahrt.

Vier Tage nach dem Unfall war der Patient beschwerdefrei, und es zeigten sich reizlose Wundverhältnisse. Das Wundgebiet wurde mit einem Antiseptikum (Betadine, B. Braun Medical AG) desinfiziert. Danach folgten die maschinelle Aufbereitung der Wurzelkanäle 11 und 22 sowie das Einbringen einer medikamentösen Einlage (Odontopaste, Australian Dental Manufacturing)7.

Verlauf

Eine Woche nach dem Unfall wurden die Nähte entfernt und nach zwei Wochen die Zähne 11 und 22 wurzelkanalgefüllt. Einen Monat später konnte die TTS mit Hilfe der „Fluorescence-aided Identification Technique“ (FIT) entfernt und die Wiederbefestigung des Kronenfragments am Zahn 11 erfolgen (Abb. 11). Zahn 11 zeigte eine Beweglichkeit Grad 1, und Zahn 12 reagierte stark verzögert auf den CO2-Test. Auf den Einzelzahnröntgenbildern waren periradikuläre Aufhellungen an den Zähnen 12, 11 und 21 sichtbar, die vorerst als Anzeichen einer traumabedingten Knochenremodellierung interpretiert wurden (Abb. 12).

Drei Monate nach dem Unfall erfolgte eine klinische Verlaufskontrolle (Abb. 13). Die Zähne 12, 11, 21 und 22 zeigten eine physiologische Beweglichkeit, aber Zahn 12 reagierte nicht mehr auf den CO2-Test und war perkussionsempfindlich. Es wurde ein Einzelzahnröntgenbild angefertigt. Dabei war an Zahn 12 eine Progredienz der bekannten apikalen Aufhellung sichtbar (Abb. 14). Es folgte eine Wurzelkanalbehandlung5.

Sechs Monate nach dem Unfall zeigte sich am Zahn 21 distal des apikalen Wurzeldrittels eine unscharfe Begrenzung des Parodontalspalts, die auf mögliche Resorptionsprozesse hindeutete (Abb. 15 und 16). Klinisch gab es jedoch keine Hinweise für eine Ankylose (Klopfschall, Periotest).

Ein Jahr nach dem Unfall wurde festgestellt, dass sich zwischen den Zähnen 11 und 21 wahrscheinlich aufgrund der Knochenremodellierung eine Lücke gebildet hatte (Abb. 17 und 18). Neben der partiell unscharfen Begrenzung des Parodontalspalts am Zahn 21 war nun auch ein Areal am mittleren Wurzeldrittel mesial des Zahns 11 radiologisch sichtbar. Klinisch waren die Zähne 11 und 21 erwartungsgemäß ankylosiert und zeigten einen hellen Klopfschall.

Zwei Jahre nach dem Unfall konnten gingivale Rezessionen sowie weiter abfallende Periotestwerte an den Zähnen 11, 21 und 22 beobachtet werden (Abb. 19 und 20). Erstmals zeigte auch Zahn 22 einen hellen Klopfschall. Entsprechende Resorptionsprozesse waren anhand der Einzelzahnröntgenbilder erkennbar. Des Weiteren konnte eine geringe Progredienz der bereits bekannten Ersatzgewebsresorptionen an den Zähnen 11 und 21 beobachtet werden1,3,9.

Die nächste klinische und radiologische Verlaufskontrolle am Zahnunfallzentrum in Basel wird voraussichtlich in einem Jahr stattfinden.

Diskussion

Der Patient stellte sich unmittelbar nach dem Trauma am Zahnunfallzentrum vor. Da es sich um eine isolierte Krafteinwirkung der Tischkante auf den Oberkiefer handelte und keine Hinweise für eine Kieferfraktur vorlagen, wurde im Rahmen der Befundung auf die zusätzliche Anfertigung einer Panoramaschichtaufnahme verzichtet.

Die Therapie wurde im vorliegenden Fall durch den Zustand der dentoalveolären Einheit bestimmt. Hierbei lautete die Reihenfolge der Gewebsversorgung: Alveolarknochen, Gingiva, Parodont, End­odont.

Die Intrusion am Zahn 11 ging nicht nur mit einer großflächigen Quetschung des Parodonts, sondern auch mit einem zellulären Schaden am Apex einher. Deshalb folgte anstelle der direkten Reposition erst die Entfernung, danach die Zwischenlagerung im Medium der Zahnrettungsbox mit NoResorb im Sinne der ART. Der in NoResorb enthaltene Wirkstoff Dexamethason (Glucocorticoid) hat die Eigenschaft, die durch die verletzungsbedingte Entzündungsreaktion verursachte erhöhte Osteoklastenaktivität zu reduzieren16. Das Parodont erhält somit mehr Zeit für die Heilung. Des Weiteren ist in NoResorb Tetracyclin enthalten, das nicht nur bakteriostatisch und antiresorptiv wirkt, sondern bei avulsierten Zähnen mit offenem Foramen apicale auch die Wahrscheinlichkeit einer Pulparevaskularisation verdoppelt (30 versus 60 Prozent)18. Bei Intrusionen, Avulsionen und schweren lateralen Dislokationsverletzungen (> 2 mm) wie im vorliegenden Fall wird adjuvant eine systemische ­Tetracyclingabe empfohlen.

Wenn der Verdacht besteht, dass wie beim Zahn 11 nur wenige Zellen überlebt haben, kann Emdogain auf die Wurzeloberfläche appliziert werden. Die Evidenz ist diesbezüglich zwar gering, und die Studienresultate sind teils widersprüchlich, aber Emdogain kann im Idealfall die parodontale Heilung fördern beziehungsweise die Entstehung einer Ersatzgewebsresorption verzögern12.

Bei der Schienung reicht das Einbeziehen von jeweils einem gesunden Nachbarzahn auf beiden Seiten aus. Eine flexible Schienung reduziert die erhöhte Zahnbeweglichkeit auf eine physiologische und lässt Funktionsstimuli bei Mastikation zu, welche die desmodontale Heilung fördern2. Wenn für die Befestigung der Schiene ein dünnfließendes und fluoreszierendes Komposit verwendet wird, ermöglicht dies später eine rasche und schmelzschonende Entfernung mittels FIT8,15.

Fazit

Bei Dislokationsverletzungen haben vor allem die Primärversorgung und das Verhalten am Unfallort einen entscheidenden Einfluss auf die Prognose der betroffenen Zähne. Regelmäßige klinische und radiologische Kontrollen helfen dabei, Spätfolgen frühzeitig zu erkennen und adäquat zu therapieren.

Ein Beitrag von Dr. Fabio Saccardin, Dr. Thomas Connert und Prof. Dr. Andreas Filippi, alle Basel, Schweiz

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Quelle: Quintessenz Zahnmedizin 11/19 Chirurgie Zahnmedizin