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Das Vincent-Syndrom beschreibt eine seltene sensible Störung im Einzugsbereich des Nervus alveolaris inferior – hier als Folge einer apikalen Parodontitis

Blick auf den Isthmus an Zahn 35.

Als Folge einer Parodontitis apicalis kommt es in seltenen Fällen zu sensiblen Störungen im Einzugsbereich des Nervus alveolaris inferior. Die Autorin Dr. Florentine-Susanne Mortsch beschreibt in ihrem Fallbericht für die Endodontie 3/20 das Vincent-Syndrom, bei dem sich aufgrund einer apikalen Parodontitis der Zähne 34 und 35 eine Parästhesie und Hypästhesie im Versorgungsgebiet des linken Nervus mentalis entwickelten.

Fast jede zahnärztliche Maßnahme tangiert das endodontische System, und jährlich ca. zehn Millionen in Deutschland durchgeführte Wurzelkanalbehandlungen belegen den Stellenwert der Endodontie in der Zahnmedizin. Die Zeitschrift „Endodontie“ hält ihre Leser dazu „up to date“. Sie erscheint vier Mal im Jahr und bietet praxisrelevante Themen in Übersichtsartikeln, klinischen Fallschilderungen und wissenschaftlichen Studien. Auch neue Techniken und Materialien werden vorgestellt. Schwerpunkthefte zu praxisrelevanten Themen informieren detailliert über aktuelle Trends und ermöglichen eine umfassende Fortbildung. Die „Endodontie“ ist offizielle Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Endodontologie und zahnärztliche Traumatologie (DGET), des Verbandes Deutscher Zertifizierter Endodontologen (VDZE) und der Österreichischen Gesellschaft für Endodontie (ÖGE). Abonnenten erhalten kostenlosen Zugang zur Online-Version (rückwirkend ab 2003 im Archiv) und zur App-Version. Mehr Informationen zur Zeitschrift, zum Abonnement und kostenlosen Probeexemplaren im Quintessenz-Shop.

Einleitung

Als Vincent-Syndrom wird eine Sensibilitätsstörung im Innervationsgebiet des Nervus alveolaris inferior bezeichnet, die sich in einer Parästhesie, Hypästhesie oder Anästhesie der jeweiligen Unterlippenhälfte zeigen kann, ohne dass eine Stimulation des Nerven stattgefunden hat1–3. Die Symptomatik eines Vincent-Syndroms kann durch viele Faktoren ausgelöst werden. Hierzu gehören: Traumata, beispielsweise Kieferfrakturen, raumfordernde Prozesse wie langsam wachsende gut- und bösartige Tumoren oder Zysten, retinierte Zähne, lokale Infektionen wie zum Beispiel eine Osteomyelitis, periapikale oder periimplantäre Infektionen, iatrogene Verletzungen nach Extraktion oder Anästhesie, Wurzelkanalbehandlungen (Überfüllung und Wurzelspitzenresektion) oder kieferorthopädisch indizierte Operationen und präprothetische Chirurgie4. Auch einige systemische Ursachen können im orofazialen Bereich zu Parästhesien führen, zum Beispiel Multiple Sklerose, Sarkoidose, virale und bakterielle Infektionen, bösartige Erkrankungen mit Metastasen im Kiefer, Drogenkonsum und Infektionskrankheiten, aber auch Lymphome und Leukämie5–12. Bei 83 Prozent der Parästhesien im Gesicht ist deren Ätiologie bekannt. Nur 48 Prozent sind dentalen Ursprungs3.Der N. alveolaris inferior und N. mentalis sind die am meisten betroffenen Nerven3,13,14. In einer retrospektiven Studie zeigten Knowles et al. eine Inzidenzrate von 0,96 Prozent für das Auftreten von neurosensorischen Erkrankungen im Unterkiefer bei apikal entzündlichen Prozessen15. Es gibt nur eine geringe Anzahl von Fallberichten, die eine apikale Parodontitis als Trigger für die Missempfindungen im Innervationsbereich des N. alveolaris inferior und N. mentalis beschreiben1,11,13,14. Die vorliegende Kasuistik beschreibt eine Parästhesie im linken Unterkiefer entlang des Innervationsbereichs des N. mentalis, induziert durch eine periapikale Entzündung an den Zähnen 34 und 35.

Kasuistik

Die 58-jährige Patientin stellte sich mit einer Überweisung ihres Hauszahnarztes, bei dem sie am Tag zuvor gewesen war, in der Praxis vor. Die Patientin hatte sich zuvor auf einer dreiwöchigen Schiffsreise befunden. Während dieser Zeit habe sich zunächst ein Taubheitsgefühl an der linken Unterlippe und im Kinnbereich entwickelt. Dann hätten sich starke, pochende Schmerzen im Bereich der linken Prämolaren eingestellt und eine vestibuläre „Beule“ entwickelt. Die Patientin wurde beim Schiffszahnarzt vorstellig, der am Zahn 35 eine Trepanation und initiale Instrumentation durchführte. Die Beschwerden seien in abgeschwächter Form geblieben. Wieder zu Hause, stellte sie sich mit immer noch anhaltenden Beschwerden bei ihrem Hauszahnarzt vor. Dieser sah die Ursache am Zahn 34, trepanierte und instrumentierte diesen und versorgte ihn mit einer medikamentösen Einlage. Da sich jedoch auch nach mehrfachem Auswechseln des Medikaments keine Besserung einstellte, erfolgte die Überweisung mit der Bitte um Weiterbehandlung.

Klinischer Befund

Das Versorgungsgebiet des linken N. mentalis wies im Bereich der Lippe und des Kinns eine Anästhesie auf. Am Zahn 34 konnten Sulkussondierungstiefen zirkulär von 6 mm und am Zahn 35 zirkulär von 4 mm gemessen werden. Beide Zähne wiesen zirkuläre Blutungen und bukkale Rezessionen von 3 mm auf. Ebenso zeigten sich bukkale Rezessionen an den Zähnen 44 und 45. Erhöhte Lockerungsgrade lagen nicht vor. Der Perkussionstest in horizontaler und vertikaler Richtung war an beiden Zähnen positiv, an Zahn 34 aber stärker, alle anderen Zähne waren nicht perkussionsempfindlich. Auffälligkeiten im Bereich der Okklusion konnten nicht festgestellt werden. Im Vestibulum links zeigte sich eine Schwellung im Bereich beider Zähne, jedoch keine Fistel.

Röntgenologischer Befund

Abb. 1 Ausgangsröntgenaufnahme der Zähne 34 und 35.
Abb. 1 Ausgangsröntgenaufnahme der Zähne 34 und 35.
Auf dem Ausgangsröntgenbild sind sowohl an Zahn 34 als auch an Zahn 35 pulpakammernah gelegene Füllungen zu erkennen. Beide Zähne waren trepaniert. Da bei beiden Zähnen kein klarer Kanalverlauf zu erkennen war, wurde davon ausgegangen, dass es sich bei beiden Zähnen um Mehrkanalsysteme handelt. Ein generalisierter horizontaler Knochenabbau von ca. 3 mm war zu erkennen. Zwischen den Wurzelspitzen von Zahn 34 und 35 zeigte sich eine apikale Aufhellung (Abb. 1).

Diagnose

Aufgrund der engen Lagebeziehung des Foramen mentale zu den Wurzeln der Zähne 34 und 35 und der vorliegenden Parodontitis im Bereich der Wurzelspitzen der beiden Zähne konnte die Diagnose eines linksseitigen Vincent-Symptoms bei apikaler und lateraler Parodontitis gestellt werden16. Differenzialdiagnostisch könnte an eine laterale Zyste gedacht werden.

Therapieplan

Die Patientin wurde über das Vorgehen und die Risiken einer Wurzelkanalbehandlung und über die mögliche Alternativbehandlung – Extraktion der Zähne und spätere Implantation – aufgeklärt und entschied sich für die mikroskopgestützte Wurzelkanalbehandlung.

Therapie

Beide Zähne wurden in jeweils zwei Sitzungen behandelt. Der Zahn 34 wurde als erstes behandelt, da er eine etwas stärkere Perkussionsempfindlichkeit aufwies als der Zahn 35. Mit der Behandlung des Zahns 35 wurde acht Tage später begonnen. Der Behandlungsablauf an beiden Zähnen war gleich. Daher wird hier nur der Ablauf an Zahn 34 beschrieben.

Behandlung der Zähne 34 und 35

Nach dem Anlegen des Kofferdams wurde der provisorische Verschluss entfernt. Es zeigte sich an beiden Zähnen ein Isthmus, der auf einen weiteren Wurzelkanal hindeutete (Abb. 2 und 3). Es erfolgte die Präparation des Isthmus zwischen bukkalem und lingualem Kanalsystem (Endo ­Access Burs, ADS). Mit einer C-Feile der ISO-Größe 10 (VDW) wurde ­Patency hergestellt und durch die elektrometrische Längenbestimmung bestätigt (Dentaport ZX, Morita). Röntgenmessaufnahmen (Abb. 4 und 5) wurden zur Kontrolle angefertigt. Die maschinelle Präparation der Wurzelkanäle erfolgte mit Nickel-Titan-Instrumenten (BioRace, Shaper, FKG Dentaire) bis zur ISO-Größe 35/04. Nach jedem Feilenwechsel erfolgte eine ultraschallaktivierte (Eddy, VDW) Spülung mit NaOCl (3 Prozent) (Abb. 6 und 7). Den Abschluss der Behandlung bildeten eine medikamentöse Einlage mit Kalziumhydroxid und ein provisorischer Verschluss aus Cavit (3M) und Flowable Composit (Venus, Kulzer). Am Tag nach der ersten Behandlung des Zahns 34 meldete sich die Patientin telefonisch und berichtete, dass sie nun ein leichtes Kribbeln im Bereich der linken Lippe und des Kinns bemerke. Weitere 20 Tage später wurde die Wurzelfüllung am Zahn 34, eine weitere Woche später die an Zahn 35 durchgeführt. Unter Kofferdam wurde durch schallaktivierte Spülung mit EDTA (17 Prozent) und NaOCl (3 Prozent) die medikamentöse Einlage aus den Kanälen entfernt. Eine erneute elektrometrische Längenbestimmung bestätigte die Patency. Die lagegerechte Position der Guttapercha an Zahn 34 wurde durch eine Masterpointaufnahme kontrolliert. Die Wurzelkanäle wurden in warm-vertikaler Kompaktionstechnik nach Schilder gefüllt. Als Sealer wurde BC Totalfill (ADS) verwendet. Die Röntgenkontrollaufnahme (Abb. 8) zeigt fast homogene Füllungen der Wurzelkanalsysteme; im lingualen Kanal des Zahns 34 ist eine Blase zu erkennen und etwas Sealer ist über den Apex extrudiert. Der Zahn 35 ist homogen und bis apikal gefüllt. Die Kavitäten wurden adhäsiv verschlossen. Zum Zeitpunkt der Wurzelfüllung am Zahn 35 war die komplette Sensibilität im Bereich des Innervationsgebietes des N. mentalis links wieder vorhanden. Die unauffällige klinische und röntgenologische Nachkontrolle nach zehn Monaten zeigt einen deutlichen Heilungsverlauf der ehemaligen Aufhellung (Abb. 9). Die geplante prothetische Versorgung ist auf Wunsch der Patientin noch nicht erfolgt.

Epikrise

Auf den Röntgenaufnahmen ist zu erkennen, dass die apikale Läsion, wahrscheinlich ausgehend von Zahn 34, sehr nah am Foramen mentale17 liegt. Die Inzidenz eines Vincent-Symptoms an Prämolaren mit Parodontitis apicalis wird in der Literatur mit 0,96 Prozent angegeben15. Allein die korrekte Präparation und gründliche Desinfektion des gesamten Wurzelkanalsystems führte bereits nach dem ersten Tag zur Verbesserung der langwährenden Beschwerden. Eine komplette Beschwerdefreiheit wurde nach fünf Wochen1,15 erzielt. Um eine Überinstrumentierung zu vermeiden und so den N. mentalis nicht noch zusätzlich zu reizen, wurde die Länge des Wurzelkanals immer wieder durch eine elektrometrische Längenbestimmung kontrolliert. Mit der gewählten Obturationstechnik, der warm-vertikalen Kompaktion nach Schilder, sollte die Gefahr einer Überpressung von Guttapercha und Sealer verhindert oder reduziert werden18. Die nach drei und zehn Monaten angefertigten Röntgenkontrollaufnahmen zeigen einen deutlichen Rückgang des pathologischen apikalen Befundes. Vor allem am Zahn 35 ist auf dem Röntgenkontrollbild nach zehn Monaten ein durchgängiger Parodontalspalt zu erkennen. Nachdem die Patientin beschwerdefrei geworden ist, kann von einer vollständigen Heilung und positiven Prognose19 ausgegangen werden. In einem Jahr ist eine weitere Röntgenkontrollaufnahme geplant20.

Diskussion

Die Klassifikation von Seddon21 teilt Nervenverletzungen nach Schweregrad und Heilungspro­gnose in drei Kategorien ein.

  1. Neurapraxie als mildeste Form mit einer Weiterleitungsblockade aufgrund eines leichten Traumas und vorübergehender Beeinträchtigung der Myelinscheide ohne Verletzung des Axons. Meistens kommt es zu einer spontanen Rückbildung der Symptome innerhalb von Tagen oder Wochen. Sie ist die häufigste Form einer Nervenverletzung22 .
  2. Axonotmesis als schwerere Verletzung mit axonaler Kontinuitätsverletzung, aber mit Erhalt der Hüllstrukturen (endo- und epineurale Nervenscheiden). Die Heilung findet über die Waller-Degeneration statt. Ist die Waller-Degeneration erfolgreich, kann es nach Monaten zu einer Wiederherstellung der ursprünglichen Funktion kommen, ansonsten ist mit bleibenden Parästhesien zu rechnen.
  3. Neurotmesis als schwerste traumatische Verletzung eines peripheren Nervs mit Durchtrennung des Axons, der Myelinscheide und der bindegewebigen Begleitstrukturen. Die Folge ist eine Anästhesie im Versorgungsgebiet des Nervs. Je nach Grad der Schädigung ist eine Heilung dennoch möglich. Meistens besteht eine Indikation zur operativen Überbrückung des geschädigten Nervs.

Im Falle einer Neurapraxie oder Axonotmesis kann davon ausgegangen werden, dass es durch die ursächliche Reizentfernung – wie auch im hier dargestellten Fall – innerhalb kürzester Zeit zu einer vollständigen Regeneration kommen kann23. Die häufigste Ursache für Parästhesien im Versorgungsgebiet des N. alveolaris inferior und N. mentalis sind periapikale Entzündungen an den zweiten Unterkieferprämolaren und den distalen Wurzeln der zweiten Molaren15,24. Anders als in der Literatur beschrieben, liegt in diesem Fall das Foramen mentale eher im apikalen Bereich der Wurzel des Zahns 34, häufiger ist es in der Nähe des Apex des zweiten Unterkieferprämolaren lokalisiert17,25. Periapikale Entzündungen durch infizierte Wurzelkanäle können aufgrund eines entzündlichen Ödems zu einer Neurapraxie mit nachfolgender Parästhesie2 führen. Das Ödem übt lokal einen erhöhten Druck auf den Nerv aus, wodurch es zur Verletzung der nervalen Strukturen kommt. Endotoxine von gramnegativen Bakterien und deren Stoffwechselprodukte können ebenfalls neurotoxische Effekte bewirken3,13,14,26. Auch direkt in Nervenstrukturen einwandernde Bakterien können diese verletzen27. Infektionsbedingte Parästhesien lassen sich meistens durch eine Antibiotikatherapie, eine ortho- oder retrograde endodontische Behandlung oder eine Extraktion des Zahns erfolgreich therapieren12. In der hier vorgestellten Kasuistik hatte die Parästhesie im Bereich der linken Unterlippe und des Kinns ihren Ursprung in der periapikalen Entzündung zwischen den Wurzeln der Zähne 34 und 35. Nach gründlicher Reinigung und Desinfektion konnte innerhalb von fünf Wochen eine vollständige Remission der neurosensorischen Störungen erreicht werden.

Ein Beitrag von Dr. Florentine-Susanne Mortsch, Schongau

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Quelle: Endodontie 3/20 Endodontie Parodontologie