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Eine pragmatische Betrachtung der Verfahren, der Studienlage und der klinischen Entscheidungsfindung

Röntgenaufnahme der Zähne 33−38: Apikale Parodontitis an der mesialen Wurzel des Zahns 36. Wäre hier nicht eine vertikale Fraktur diagnostiziert worden, hätte man therapeutisch unter Umständen die mesiale Wurzel angehen können.

(c) Prof. Dr. Sebastian Bürklein

Die Wurzelspitzenresektion ist die letzte Möglichkeit, Zähne zu erhalten, wenn orthograde Therapien erfolglos geblieben sind. Die chirurgische Endodontie ist ein komplexes Verfahren, das eine sorgfältige Diagnose, Planung und Durchführung erfordert. Es ist unbestreitbar, dass die Mikrochirurgie im Hinblick auf den Gewebeerhalt und die Erfolgsquoten erhebliche Vorteile gegenüber herkömmlichen Techniken hat. Ungeachtet dessen bleibt die Frage der selektiven Wurzelspitzenresektion (nur die betroffene Wurzel wird chirurgisch behandelt) gegenüber der Resektion aller Wurzeln oft unbeantwortet. Die aktuelle Studienlage liefert keine Hinweise darauf, welche Strategie zu bevorzugen ist. Die Entscheidung für die chirurgische Endodontie und ein selektives oder generalisiertes Vorgehen ist und bleibt individuell und fallbezogen und unterliegt zahlreichen anatomischen sowie patienten-, anwender- und gerätebezogenen Faktoren. Prof. Sebastian Bürklein gibt in seinem Beitrag für die Endodontie 1/22 einen Überblick über Verfahren und Studienlage und Entscheidungshilfen für die tägliche endodontische Praxis.

Fast jede zahnärztliche Maßnahme tangiert das endodontische System, und jährlich ca. zehn Millionen in Deutschland durchgeführte Wurzelkanalbehandlungen belegen den Stellenwert der Endodontie in der Zahnmedizin. Die Zeitschrift „Endodontie“ hält ihre Leser dazu „up to date“. Sie erscheint vier Mal im Jahr und bietet praxisrelevante Themen in Übersichtsartikeln, klinischen Fallschilderungen und wissenschaftlichen Studien. Auch neue Techniken und Materialien werden vorgestellt. Schwerpunkthefte zu praxisrelevanten Themen informieren detailliert über aktuelle Trends und ermöglichen eine umfassende Fortbildung. Die „Endodontie“ ist offizielle Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Endodontologie und zahnärztliche Traumatologie (DGET), des Verbandes Deutscher Zertifizierter Endodontologen (VDZE) und der Österreichischen Gesellschaft für Endodontie (ÖGE). Abonnenten erhalten kostenlosen Zugang zur Online-Version (rückwirkend ab 2003 im Archiv) und zur App-Version. Mehr Informationen zur Zeitschrift, zum Abonnement und kostenlosen Probeexemplaren im Quintessenz-Shop.

Einleitung

Liegt an einem Zahn mit einer radiologisch nachweisbaren Wurzelkanalfüllung eine persistierende oder neu entstandene apikale Parodontitis vor, ist prinzipiell eine Therapie indiziert. Eine orthograde Revisionsbehandlung, eine Wurzelspitzenresektion (WSR) oder gegebenenfalls die Kombination aus beiden Therapiealternativen sind denkbar. Natürlich ist die erstgenannte Therapie in der Regel die erste Behandlungsoption für eine fehlgeschlagene Wurzelkanalbehandlung. Chirurgische Eingriffe werden meist nur in Betracht gezogen, wenn die Revision bei der Behandlung der apikalen Parodontitis nicht erfolgreich war1.

Wenn die Indikation zur apikalchirurgischen Behandlung gestellt worden ist, kann sich die Behandlungsplanung bei mehrwurzeligen Zähnen als schwierig erweisen. Welche Wurzel(n) soll(en) einer Wurzelspitzenresektion unterzogen werden? Nicht immer sind alle Wurzeln mit einer apikalen Parodontitis assoziiert. Weisen alle Wurzeln periapikale Läsionen auf, ist die logische Konsequenz, alle chirurgisch durch eine WSR zu therapieren. Sind einzelne Wurzeln betroffen, so kann zur Schonung von Gewebe und Patient der Eingriff unter Umständen auf diese beschränkt werden. Dazu ist eine gründliche Diagnostik obligat: Nur wenn mit Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass nur eine Wurzel für die Pathologie verantwortlich ist, kann die chirurgische Behandlung auf diese Wurzel beschränkt bleiben. Mehrere Röntgenaufnahmen aus unterschiedlichen Projektionen und besonders die digitale Volumentomografie (DVT) können die diagnostische Genauigkeit und Sicherheit deutlich erhöhen. Zahlreiche Studien haben insbesondere den Nutzen der DVT bei der Erkennung des Vorhandenseins, der Ausdehnung und der Lage der periapikalen Läsion sowie der benachbarten anatomischen Strukturen gezeigt2,3. Gerade vor chirurgischen Behand­lungen wird deshalb zur präoperativen Diagnostik die überlagerungsfreie DVT-Diagnostik emp­fohlen.

Dass die Komplexität chirurgischer Eingriffe mit der Lage der betroffenen Zähne variiert, ist nachvollziehbar. In der anterioren Region sind Zugang und Übersicht leichter zu garantieren als im posterioren Kieferbereich. Zusätzlich gilt es, wichtige anatomische Strukturen (Nervus alvolaris inferior, Foramen mentale, Canalis inzisivus, Sinus maxillaris, Arteria palatina) zu kennen, zu schützen und ihre Bedeutung für die Durchführung der Behandlung zu berücksichtigen.

Sinus maxillaris

Die Wurzeln der Prämolaren und Molaren ragen in einer Vielzahl der Fälle in den Sinus maxillaris hinein (erster Prämolar: 1,5 Prozent, zweiter Prämolar: 14,8 Prozent, erster Molar: 40,5 Prozent, zweiter Molar: 44,7 Prozent)4. Bestimmte anatomische Merkmale der Kieferhöhle, zum Beispiel das Vorhandensein knöcherner Septen (Underwood-Septen) und der antralen Alveo­lararterie, können das chirurgische Verfahren zusätzlich beeinflussen und erschweren. Vor diesem Hintergrund sollte jeder chirurgische Eingriff in der Region sorgfältig abgewogen werden (Abb. 1)5−7. Viele verschiedene Röntgen- und Kada­verstudien haben die Beziehung zwischen den Wurzelspitzen der Oberkieferseitenzähne, der periapikalen Läsion, sofern vorhanden, und dem Sinusboden gezeigt8,9. Da der Rand der Läsion und der Boden der Kieferhöhle auf zweidimensionalen Bildern nicht klar zu differenzieren sind, kommt wiederum der DVT-Bildgebung, die auch in der Hals,- Nasen- und Ohrenheilkunde für die Kieferhöhlendiagnostik eingesetzt wird, eine besondere Bedeutung für die präoperative Diagnose zu (Abb. 2).

Mund-Antrum-Verbindung (MAV)

Aufgrund der beschriebenen anatomischen Ge­gebenheiten kann es bei endodontischen Ein­griffen an Oberkieferprämolaren und -molaren zu einer unbeabsichtigten Mund-Antrum-Verbindung (MAV) kommen. MAVs können in verschiedenen Phasen des chirurgischen Eingriffs auftreten, zum Beispiel bei der Knochen- oder Läsionsentfernung oder bei der Resektion der Wurzelspitze, und eine akute oder chronische Kieferhöhlenentzündung verursachen, die in der Regel die Folge der Verlagerung von Bakterien aus dem infizierten periapikalen Gewebe, den resezierten Wurzelspitzen oder den Knochenspänen in die Kieferhöhle ist9,10.

Die Zusammensetzung des Biofilms in den infizierten Zahnabschnitten, die mit der Kieferhöhle kommunizieren, bestimmt den Schweregrad und die Ausbreitung der Kieferhöhleninfektion11. Allerdings gibt es sichere Erkenntnisse, dass die Kiefer­höhlenschleimhaut mitsamt den Zilien spätestens fünf Monate nach einer WSR regeneriert ist, sodass die Invasion der Kieferhöhle keine dauerhafte Veränderung der Kieferhöhlenmembran oder ihrer physiologischen Funktion zu verur­sachen scheint und die Sinusitis abklingt, sobald eine angemessene Belüftung wiederhergestellt ist12. Interessanterweise hat eine neuere Studie die Regenerationsfähigkeit des Sinus bestätigt. Die Perforation der Schneider‘schen Membran ohne Reparatur während des Sinuslifts im Rahmen einer Implantatinsertion hatte offenbar keinen signifikanten Einfluss auf das Ergebnis des Knochentransplantats sowie das Überleben des Implantats13.

Bei der WSR gilt es dennoch, eine Luxation der Wurzelspitze in den Sinus (Radix in antro) auf jeden Fall zu vermeiden, denn diese erfordert in der Regel weitergehende chirurgische Maßnahmen, wie eine endoskopische Entfernung über das Ostium naturale oder eine transantrale Fensterung der fazialen Kieferhöhlenwand. Erstere verlangt eine Überweisung zu HNO-Ärzten und letztere bei fehlender Expertise oder fehlender Ausrüstung die Weiterbehandlung durch MKG- oder Oralchi­rurgen. Das Equipment für die Fensterun­g der Kieferhöhle und die spätere Fixierung des Knochendeckels ist sicherlich nicht das Standardinstrumentarium einer allgemeinzahnärztlichen Praxis.

Nur wenige Studien haben sich mit Wurzelspitzenresektionen ausschließlich im Seitenzahnbereich befasst. Insgesamt liegen die Erfolgsquoten im Seitenzahnbereich – je nach Bewertungskriterien – zwischen 44 und 88 Prozent8,14−15. Dabei wurde jedoch nicht zwischen verschiedenen Operationstechniken und Zugängen unterschieden.

Grundsätzlich sind sowohl ein vestibulärer als auch ein oraler Zugang zu den Apizes der Ober­kiefer-Seitenzahnwurzeln denkbar, wobei der erstgenannte meist bevorzugt und bei der chirurgischen Therapie der bukkalen Wurzeln immer angewendet wird. Ohne enge Lagebeziehung oder direkten Kontakt zum Sinusboden muss „nur“ der die Wurzelspitzen umgebende Knochen intraoperativ entfernt werden, um die Resektion(en) der betroffenen Wurzel(n) (bukkal und/oder palatinal) durchzuführen. Ragen die Wurzelspitzen in den Sinus maxillaris hinein oder ragt ein Rezessus der Kieferhöhle zwischen die Wurzeln, so gibt es beim vestibulären Zugang zwei Möglichkeiten, die palatinal gelegenen Wurzeln zu erreichen (Abb. 3). Der klassische Ansatz ist der transantrale Ansatz (also durch die Kieferhöhle), bei dem die Sinusmembran absichtlich perforiert und die palatinale Wurzel zugänglich gemacht und reseziert wird16,17. Der transantrale Ansatz birgt das Risiko, dass Fremdkörper in die Kieferhöhle gelangen, was zu schweren Komplikationen in dieser führen kann. Bei einer anderen, eleganteren Technik wird die palatinale Wurzel nach der Elevation der Sinusmembran zugänglich gemacht, wobei die Sinusmembran intakt bleibt18,19. Dieser Ansatz kann als weniger traumatisch als der transantrale Ansatz angesehen werden und birgt ein geringeres Risiko für Sinus­komplikationen.

Ist nur die palatinale Wurzel betroffen, kann alternativ auch ein isolierter palatinaler Zugang erwo­gen werden (siehe Abb. 3)20. Allerdings sollten hier die Lagebeziehung zur Arteria palatina und die Anfertigung einer Wundschutzplatte in Betracht gezogen werden. Blutungen aus der Arteria palatina sind eine ernsthafte Komplikation und ohne Wundschutzplatte kann es durch die konkave Struktur des Palatum darum eher zu einem Hämatom mit Begleitkomplikationen (in­fiziertes Koagulum, Dehiszenz) kommen. Zusätzlich können die anatomischen Gegeben­heiten einen achsgerechten retrograden Zugang limitieren.

Unterkiefer

Im Unterkiefer stellen die nervalen Strukturen etwaige Risikofaktoren dar. Die enge anatomische Nähe der Wurzelspitzen zum Nervus alveolaris inferi­or und zum Foramen mentale ist dokumentiert21 und bedingt ein besonders umsichtiges Vorgehen, um mögliche temporäre oder dauerhafte Nervschäden zu vermeiden (Abb. 4). Das gilt natürlich für jegliche operativen Eingriffe, unab­hängig davon, wie invasiv sie ausfallen und ob sie selektiv oder nichtselektiv geplant sind.

Die anatomischen Gegebenheiten im Unterkiefer können die WSR also deutlich erschweren und risikobehafteter machen. Eine selektive WSR kann hilfreich sein, einen Teil dieser Probleme zu umgehen und den Abstand zu wichtigen anatomischen Strukturen zu vergrößern. Die knöcherne Struktur des Unterkiefers zeichnet sich durch eine dicke Kortikalis aus. Diverse Studien zeigen eine Zunahme der Dicke der Kortikalis im posterioren Bereich, sodass die Erreichbarkeit der Wurzeln der Unterkiefermolaren (erster und zweiter Molar), die eine orovestibuläre Breite von bis zu 5,6 mm aufweisen können, erschwert wird22. Des Wei­teren kann die Distanz von der Oberfläche der knöchernen Zugangskavität bis zur Wurzel und der lingualen Begrenzung auf angestrebter Re­­sektions­höhe bei den zweiten Molaren deutlich mehr als einen Zentimeter betragen23. Ohne entsprechende Vergrößerungshilfen, das geeignete Licht und mikrochirurgische Instrumente ist die Kontrolle über eine zielgerichtete Resektion mit achsgerechter retrograder Präparation der Wurzelkanäle und der dazu­gehörigen Isthmen kaum möglich. Die Prä­valenz isthmaler Strukturen in den mesialen Wurzeln der Unterkiefermolaren, die es immer zu adressieren gilt (Abb. 5), wird mit Werten von mehr als 60 Prozent beschrieben und liegt in den zweiten Molaren noch höher als in den ersten Molaren24. Die Morphologie der distalen Wurzeln ist vielfach ebenfalls irregulär und nicht ganz einfach zu adressieren. Es gibt eine hohe Prävalenz (bis zu 20 Prozent) c-förmiger Kanalkonfigurationen25. Falls eine Resektion an einer nicht mit einer Läsion assoziierten Wurzel erfolgt, können potenziell infizierte Bereiche sogar freigelegt werden, die dann mit dem periradikulären Gewebe des Neo­apex kommunizieren können. Das kann die Prognose eines Zahns demzufolge auch verschlechtern, anstatt sie zu verbessern und in einem unnötigen und iatrogen induzierten Misserfolg resultieren.

Bei bereits durch einen andauernden Entzündungsprozess fenestrierter vestibulärer Kortikalis ist die Wurzel über eine Vergrößerung des Knochen­fensters in der Regel leicht zu erreichen. Das trifft bei fehlender Fenestrierung nicht zu. Beim herkömmlichen Vorgehen werden der die Wurzel bedeckende Knochen sukzessive abge­tragen sowie die zu resezierende(n) Wurzel(n) dargestellt und anschließend therapiert. Mit zunehmender Größe des Knochenfensters nimmt die Übersicht, ebenso jedoch auch die potenzielle Gewebeschädigung zu.

Durch ein selektives Verfahren kann also aktiv eine Schonung der Gewebe erzielt werden (Abb. 6). Ungeachtet dessen darf ein selektives Vorgehen oder eine angestrebte Substanz­scho­nung keinesfalls zu einer Beeinträchtigung der Qualität der Resektion, der retrograden Präpa­ration und anschließenden retrograden Wurzel­kanalfüllung führen.

Eine zusätzliche Schwierigkeit kann auch die Lage des Foramen mentale direkt unterhalb der mesialen Wurzel des ersten Molaren sein26. Falls nur die distale Wurzel betroffen sein sollte, ließe sich bei Verzicht auf die Resektion beider Wurzeln ein entsprechender Abstand zum Nerv leichter einhalten. Verletzungen des Nervus alveolaris inferior und des Nervus mentalis sind keine seltenen Komplikationen bei endodontisch-chirurgischen Eingriffen, gerade wenn zweite Unterkiefer­molaren und Unterkieferprämolaren therapiert werden27,28, aber auch bei der Therapie anderer Unterkieferzähne kommen sie vor29.

Pragmatische Überlegungen zur Therapie

Die orthograde Therapie ist der retrograden The­ra­pie (immer) vorzuziehen, jedoch gelten ein intrakanalärer, extraradikulärer Biofilm, echte Zysten und iatrogene prozedurale Fehler als Hauptgründe für die Persistenz oder das Neu­auftreten apikaler Parodontitiden und erfordern unter Umständen eine WSR30−32.

Wenn eine chirurgische Therapie erforderlich ist, sollte der Eingriff minimalinvasiv erfolgen. Das betrifft sowohl die Operationsweise/-technik als auch die Wahl der zu resezierenden Wurzel(n). Grundsätzlich müssen alle betroffenen Wurzeln therapiert werden und es gilt: je kleiner der Eingriff, desto geringer das Trauma für die beteiligten Gewebe und desto schneller die Regeneration. Hierbei ist allerdings zu bedenken, dass eine fehlende Übersicht aufgrund eines zu klein gewählten Zugangs ebenfalls Probleme hervorrufen und die Qualität der Therapie beeinträchtigen kann. Der Zugang ist so klein wie möglich und so groß wie nötig zu wählen, um eine erfolgreiche The­rapie gewährleisten zu können.

Dies unterliegt bekanntlich einem gewissen Er­mes­­sensspielraum und ist von vielen Faktoren ab­hä­n­gig, unter anderem von den anatomischen Gegebenheiten des Patienten, der Erfahrung und dem Können des Operateurs sowie der technischen Ausstat­tung.

Welche Wurzel ist betroffen und weist sie apikale Parodontitis auf? Wie gut ist die Qualität der Wurzelkanalfüllung? Das sollte im Vorfeld eruiert werden. Bei unklaren Befunden ist definitiv eine erweiterte Diagnostik (DVT) obligat. Es kann sich unter Umständen herauskristallisieren, dass mehrere Varianten möglich sind:

  • ein rein orthograder Eingriff an allen Wurzeln,
  • an einer oder mehreren Wurzeln eine orthograde Behandlung und an der/den anderen eine WSR,
  • eine WSR an allen Wurzeln.

Selbstverständlich sind bei der Therapieentscheidung die Wurzelanatomie und -morphologie ebenso zu berücksichtigen wie die Anatomie der benachbarten Strukturen. Während zum Beispiel fusionierte Wurzeln sowie taurodonte oder pyramidale Zähne ein selektives Vorgehen nicht zulassen (Abb. 7), sprechen andere Befunde, zum Beispiel Wurzel/n und Zähne mit Wurzelstiften ohne pathologische periapikale Befunde oder eine große Divergenz der Wurzeln, eher dafür (Abb. 8).

Bereits vorresezierte Zähne sollten ebenfalls hinsichtlich aller Therapieoptionen überprüft werden. Es gibt die Option der Nachresektion und die der orthograden Revision. Dabei sind die Qualität der WSR (Bevel, falls vorhanden retrograde Wurzelkanalfüllung) und die der orthograden Wurzelkanalfüllung zu bewerten.

Eine Nachresektion kann im Einzelfall Sinn machen, zum Beispiel wenn zu erkennen ist, dass die bereits erfolgte Therapie unzureichend war, etwa bei Vorliegen von Wurzelkanälen, die nicht entsprechend retrograd präpariert und gefüllt sind. Sie kann sich auch als nicht sinnvoll erweisen, wenn ein Zahn als austherapiert angesehen wird (siehe Abb. 2).

Meist sind es die mesialen Wurzeln der Molaren (Oberkiefer und Unterkiefer), deren Kanalgeometrie nicht adäquat adressiert worden ist und in denen weitreichende Areale des Wurzelkanalsystems nicht ausreichend chemomechanisch gereinigt und obturiert worden sind (Abb. 9)24,25. Es kommt eher selten vor, dass die palatinale und/oder die distobukkale Wurzel an Oberkiefermolaren eine apikale Parodontitis aufweisen und sofort eine Wurzelspitzenresektion geplant wird. Eine orthograde Revision kann bei diesen vermeintlich einfachen Wurzeln in der Regel mühelos, schnell und mit hoher Sicherheit durchgeführt werden, sodass der chirurgische Eingriff meist unterbleiben kann.

Sowohl in den Oberkiefer- als auch Unter­kiefermolaren sind die Wurzelkanalkrümmungen in den mesialen Wurzeln deutlich stärker ausgeprägt als in den anderen Wurzeln (sowohl in mesiodistaler als auch orovestibulärer Richtung), wobei die herkömmliche Bildgebung mit einer Einzelzahnaufnahme dies meist nicht wiedergibt. Folglich sind dies im Molarenbereich die am häufigsten betroffenen Wurzeln, die chirurgisch angegangen werden (Abb. 9). Wenn die Indikation letztlich gegeben ist, muss der Operateur sich seiner Fähigkeiten („Skills“) bewusst sein und sich überlegen, ob das geeignete Equipment dazu vorhanden ist.

Nur mit geeigneter Ausstattung (mikrochirurgisches Vorgehen) ist ein selektives Vorgehen überhaupt verlässlich durchführbar und eine retro­grade achsgerechte Präparation mit geeig­neten (Ultra)Schall-Ansätzen kann zielgerichtet erfolgen, was mit signifikant besseren Erfolgsraten im Vergleich zu traditionellen Techniken assoziiert ist33,34. Es bedeutet jedoch nicht automatisch eine Kontraindikation für ein selektives Vorgehen, wenn nur traditionelles Equipment vorhanden ist.

Eine sorgfältige Risiko-Nutzen-Abwägung auch im Hinblick auf einen Misserfolg sollte stets er­folgen. Dabei geht es nicht nur um die Therapie an sich, sondern auch um weitergehende Über­legungen bei ausbleibendem Erfolg und einer gegeben­enfalls notwendigen Extraktion des betroffenen Zahns (Abb. 10). Falls durch den Eingriff ein mögliches Implantatbett/-lager so stark kompromittiert würde, dass eine Implantation nicht oder nur noch mit massiven Augmentationsmaßnahmen stattfinden kann, so sollten Vorgehen und Umsetzung genau überdacht werden. Im Einzel­fall kann es dann sinnvoller sein, den Zahn mitsamt entzündlichem Reiz zu entfernen und mit oder ohne Socket Preservation oder Ridge Preservation nach angemessener Heilungszeit eine Implantation anzustreben.

Allerdings können sich getroffene Therapieentscheidungen auch im Laufe einer bereits begonnenen Therapie ändern, denn per se hat jeder chirurgische Eingriff einen explorativen Charakter. Intraoperativ können zuvor nicht sichtbare und daher nicht diagnostizierbare Befunde, zum Beispiel Risse/Frakturen nach Anfärben mit Methylenblau, zu einer Änderung der Therapie führen und unter Umständen die Extraktion des betroffenen Zahns bedingen, wenn eine Zahnerhaltung nicht mehr möglich ist. Bei mehrwurzeligen Zähnen spricht dies wiederum eher für ein selektives Vorgehen, da so im Einzelfall auch die Amputation einer Wurzel als Option denkbar ist, ohne dass die anderen Wurzeln − und damit das Kronen-Wurzel- Verhältnis − kompromittiert werden.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass zur Entschei­dung pro und kontra selektive WSR zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinerlei hilfreiche klinische Studien, sondern bestenfalls episodische Falldarstellungen vorliegen. Anstelle sich auf kli­nische Evidenz stützen zu können, muss eine individuelle fallbezogene Entscheidung getroffen werden, bei der, wie aufgezeigt, eine Reihe wichtiger Faktoren zu berücksichtigen ist.

Ein Beitrag von Prof. Dr. Sebastian Bürklein, Münster

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Quelle: Quintessenz Endodontie 01/2022 Endodontie