„Bio“ und Zahnmedizin: Wie passen diese Begrifflichkeiten zusammen? Bioaktive Restaurationsmaterialien sind definitionsgemäß Materialien, die einen biologischen Effekt besitzen oder selbst biologisch aktiv sind. Darunter fallen zum Beispiel die Fähigkeiten, Fluoridionen abzugeben oder die Bildung von Hydroxylapatit zu induzieren. Die Autorinnen PD Dr. Anne-Katrin Lührs und Dr. Peggy Herrmann ordnen in ihrem Beitrag für die Quintessenz Zahnmedizin 7/20 die aktuell vorhandenen, als bioaktiv beworbenen Materialien für den Einsatz in der restaurativen Zahnheilkunde ein.
Das in seiner Form „älteste“ bioaktive Füllungsmaterial ist sicherlich der „klassische“ Glasionomerzement, der auch in veränderter Form als kunststoffmodifizierter Glasionomerzement bioaktive Wirkung besitzt. Weitere interessante Entwicklungen befassen sich mit bioaktiven Gläsern als Additiva für Adhäsivsysteme und Komposite. Durch diese Modifikation sind die Materialien in der Lage, Remineralisationsprozesse zu induzieren oder pH-Wert-Änderungen hervorzurufen. Trotz vorliegender positiver In-vitro-Daten ist bis dato noch kein bioaktives Komposit auf dem Markt, welches einer Definition der Bioaktivität vollständig gerecht wird.
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„Bio“ ist „in aller Munde“! In zunehmendem Maße findet sich diese Begrifflichkeit auch in den Anwendungsbeschreibungen und Broschüren für Dentalmaterialien. Die dadurch hervorgerufenen Assoziationen sind durchaus positiv. Für den Anwender stellt sich jedoch die Frage: Was verbirgt sich hinter dem Zusatz „bioaktiv“? Und welche Bedeutung hat dieser Begriff in Bezug auf Restaurationsmaterialien?
Was versteht man unter Bioaktivität?
In der originären Bedeutung werden solche Materialien als bioaktiv bezeichnet, die in Wechselwirkung mit Geweben oder Zellen treten und so zum Beispiel die Bildung von Hydroxylapatit bewirken56. Im weitesten Sinne greift auch eine Definition aus dem Jahre 1971, welche sich auf synthetische Knochenersatzmaterialien bezieht, diese Aspekte mit auf. Sie besagt, dass solche Biomaterialien durch „Biomineralisation“ einen Verbund mit ihrer Umgebung eingehen18. Somit werden Materialien als bioaktiv bezeichnet, die einerseits einen biologischen Effekt besitzen oder selbst biologisch aktiv sind, andererseits einen Verbund zwischen dem Material und dem umgebenden Gewebe erzeugen. Schon in diesen ersten Sätzen zeigt sich die Komplexität der genauen Definition: Sind die Begrifflichkeiten „Bioaktivität“ und „Biomineralisation“ identisch oder müssen sie voneinander abgegrenzt werden? Betrachtet man den Effekt der Bioaktivität im dentalen Kontext, so sind bioaktive Dentalmaterialien in der Lage, die Bildung von Hydroxylapatit zu induzieren55,60. Durch aus den Materialien freigesetzte Ionen kann wiederum Biomineralisation oder eine Interaktion mit dem Hydroxylapatit des Dentins stattfinden13,67. Somit fällt im weitesten Sinne auch die chemische Interaktion von modernen Adhäsivsystemen mit dem Hydroxylapatit des Dentins und die Abgabe von Fluoridionen aus Restaurationsmaterialien unter das Schlagwort „bioaktiv“27. Der Begriff der Bioaktivität ist, je nach Materialklasse, eng mit dem Begriff der Biomineralisation verknüpft. Bioaktive Materialien sind also keine inerten Werkstoffe, die allein dem Ersatz verloren gegangener Zahnhartsubstanz dienen, sondern sie besitzen therapeutische Eigenschaften72, das heißt, sie sind in der Lage, auf zellulärer Ebene in Wechselwirkung zu treten47.
Ein bioaktives Restaurationsmaterial besitzt demnach mindestens eine der folgenden Eigenschaften16:
- Remineralisierung durch Abgabe von Fluoriden und/oder anderen Mineralien,
- Formation von Hydroxylapatit oder apatitähnlichen Strukturen an der Grenzschicht zwischen Material und Gewebe,
- Förderung von Regenerationsprozessen.
Pfefferkorn et al.47 fassen die Definition der Bioaktivität noch etwas weiter und ordnen bioaktiven Materialien weitere Eigenschaften zu:
- Die Materialien besitzen Bestandteile, die sich auflösen und dadurch antimikrobielle Wirkung entfalten können.
- Sie verfügen über eine Oberfläche, welche die Anhaftung von Zellen fördert.
In diesem Kontext werden bioaktive Materialien in vielfältiger Weise eingesetzt: als definitives Restaurationsmaterial, zur Überkappung nach Pulpaeröffnung, zur Behandlung von Dentinhypersensibilitäten, als Leitstruktur bei knöchernen Regenerationsprozessen und zur Förderung von Remineralisationsprozessen der Zahnhartsubstanz16,55,56,60.
Tabelle 1 fasst die Eigenschaften bioaktiver Materialien und den Bezug zu relevanten Materialklassen zusammen, welche dann im Folgenden detailliert beschrieben werden.
Bioaktivität wird bei Restaurationsmaterialien durch bestimmte Füllerzusätze erreicht, die als „bioaktive Gläser“ bezeichnet werden55. Das erste Glas dieser Art war das von Hench entwickelte Material Bioglass 45S5, welches seit dem Jahr 1985 im klinischen Einsatz ist19,20. Die besondere Eigenschaft dieses Glases ist die Präzipitation von Hydroxylapatit in wässrigen Lösungen und die daraus resultierende Fähigkeit, einen Verbund zu Hart- und Weichgeweben aufzubauen, ohne dass es zu Abstoßungsreaktionen kommt55,60. Betrachtet man bioaktive Gläser insgesamt, so bezeichnet der Terminus Bioglass nur die originäre Komposition des 45S529, es sind aber weitere Modifikationen bioaktiver Gläser verfügbar. Bioaktive Gläser enthalten verschiedene Oxide der Elemente Calcium, Natrium, Phosphor und Silizium in unterschiedlichen Gewichtsverhältnissen66. Sie sind in vitro in der Lage, Dentinoberflächen unter Bildung einer Calciumphosphatschicht zu mineralisieren13. Abbildung 1 zeigt eine Übersicht der restaurativen Füllungsmaterialien, die nachfolgend näher beschrieben werden.
Bioaktive Materialien in der Übersicht
Restaurative Zemente
„Klassische“ Glasionomerzemente
Glasionomerzemente (korrekterweise „Glaspoly-akenoatzemente“) sind Materialien, die seit Jahrzehnten klinisch eingesetzt werden. Ihr vielfältiger Anwendungsbereich reicht vom Einsatz als Restaurationsmaterialien vornehmlich im Gebiss der ersten, aber auch der zweiten Dentition, als Liner und Unterfüllungsmaterial, als Fissurenversiegler bis hin zum Befestigungszement für beispielsweise kieferorthopädische Ringe und definitiven Zahnersatz54. Neben ihrer Biokompatibilität wird auch die Bioaktivität dieser Materialien in den Fokus gestellt22. Glasionomerzemente binden durch eine Säure-Base-Reaktion ab, wobei Polyalkensäuren mit basischen Gläsern reagieren22. Bei den basischen Gläsern handelt es sich um Calcium- oder Strontium-Alumino-fluorsilikatgläser3. Im Rahmen der Abbindereaktion werden die Säuren durch die basischen Gläser neutralisiert.
Was macht Glasionomerzemente aber bioaktiv? Bei der Abbindereaktion werden in Anwesenheit von Wasser Fluoridionen freigesetzt, wobei sich die quantitative Menge an freigesetzten Fluoridionen jedoch materialabhängig unterscheiden kann10. Der Freisetzungsmechanismus von Fluoridionen läuft scheinbar in zwei Stufen ab: Die erste schnell einsetzende Phase vollzieht sich an der Materialoberfläche und ist nach relativ kurzer Zeit beendet. Daran schließt sich eine zweite, langsamere Freisetzung an. Diese findet durch Diffusionsvorgänge im Füllungskörper statt, ihr wird die eigentliche klinische Relevanz zugeordnet10,63. Originär steuert der Fluoridanteil der Glasionomerzemente die Verarbeitungszeit, indem durch eine Komplexbildung mit Metallen (Calcium, Aluminium) eine vorzeitige Aushärtung verhindert wird22. Die Menge an freigesetztem Fluorid ist materialabhängig6. In vitro erfolgt in den ersten 24 bis 48 Stunden eine deutlich höhere Freisetzung als in der Periode danach6,63. Je nach untersuchtem Material wird diese Menge mit 5 bis 155 ppm beziffert63. Diese initial hohe Abgabemenge wird durch die Reaktion der Polyalkensäure mit den Glasfüllern erklärt63. Über die Zeit flacht die kumulative Fluoridabgabe ab und sinkt in einem Zeitraum von bis zu 3 Jahren auf ein konstantes Niveau1,10. Erosive Angriffe, die zu einem pH-Wert-Abfall führen, verstärken die Abgabe von Fluoriden in Abhängigkeit vom pH-Wert6. Dieser „Puffereffekt“ könnte eine protektive Wirkung im Rahmen der Kariesprogression hervorrufen6. Die Abgabe von Fluoridionen führt in vitro in Biofilmen aus Streptococcus mutans zu einer Abnahme der Säureproduktion und zu einer Reduktion der Bildung wasserunlöslicher, extrazellulärer Polysaccharide (EPS). Diese tragen im Biofilm zum einen zur Adhäsion der Bakterien auf der Zahnoberfläche bei, zum anderen bilden sie eine schützende Matrix für die Bakterien innerhalb des Biofilms7,32. Ein weiterer positiver Effekt von Glasionomerzementen zeigt sich bei der Remineralisation artifizieller kariöser Läsionen in vitro. Allerdings kann in diesen Läsionen keine Zunahme der Härte festgestellt werden, da in und um Kollagenfasern keine Apatitpräzipitation festgestellt wurde53. Neben diesen positiven Eigenschaften ist anzumerken, dass Glasionomerzemente im kaulasttragenden Seitenzahnbereich der zweiten Dentition aufgrund ihrer vergleichsweise schlechteren mechanischen Eigenschaften deutlich höhere Verlustraten als beispielsweise Komposite aufweisen (7,1 Prozent vs. 2,2 Prozent)35. Hauptgründe für das Versagen sind Frakturen und Verluste der Retention sowie der approximalen anatomischen Form14,35. Darüber hinaus war trotz der in vitro festgestellten Fluoridabgabe auch Sekundärkaries ein Versagensgrund35. Die nachfolgende Abbildung 2 zeigt eine Klasse-II-Restauration aus Glasionomerzement an einem Unterkiefermolaren.
Kunststoffmodifizierte Glasionomerzemente
Kunststoffmodifizierte Glasionomerzemente wurden mit der Zielsetzung entwickelt, die mechanischen Eigenschaften klassischer Glasionomerzemente zu verbessern63. Durch Zugabe von polymerisierbaren Metacrylaten (zum Beispiel HEMA, GDMA) und Initiatorsystemen härten sie nicht nur über eine Säure-Base-Reaktion aus, sondern auch durch lichtinduzierte Polymerisation22,54,63. Wie „klassische“ Glasionomerzemente geben auch kunststoffmodifizierte Glasionomerzemente Fluoride ab54, wobei die Abgabe in den ersten 24 Stunden am höchsten ist. In vitro zeigte sich, dass eine Fluoridfreisetzung sowohl bei Wasserlagerung der Proben als auch in künstlichem Speichel über einen Zeitraum von bis zu 2,7 Jahren nachgewiesen werden kann64.
Modifikation von Glasionomerzementen und kunststoffmodifizierten Glasionomerzementen mit bioaktiven Füllkörpern
Es existieren Bestrebungen, Glasionomerzemente durch den Zusatz von bioaktiven Gläsern noch weiter zu modifizieren. Diese Gläser bewirken bei Glasionomerzementen in vitro materialabhängig die Ausbildung einer oberflächlichen Apatitschicht, gehen aber einher mit einer Abnahme der Druckfestigkeit9. Auch bei Zugabe bioaktiver Füllkörper zu kunststoffmodifizierten Glasionomerzementen zeigt sich eine Veränderung der mechanischen Eigenschaften: Ein Zusatz von bis zu 10 Prozent führt zur Verbesserung der Biegefestigkeit, bei höheren Konzentrationen verschlechtern sich diese Eigenschaften wieder, allerdings steigt gleichzeitig der positive Einfluss auf das Zellwachstum untersuchter Zellkulturen59.
Der Zusatz bioaktiver Füllkörper zu kunststoffmodifizierten Glasionomerzementen beeinflusst nicht nur die Materialeigenschaften des Zements, sondern auch die Härte von demineralisiertem Dentin. In vitro konnte eine Zunahme der Biegefestigkeit entsprechender Probekörper festgestellt werden30. Für diese Art der Modifikation von Glasionomerzementen existieren nur wenige In-vivo-Daten. In einer an Beagle-Hunden durchgeführten In-vivo-Untersuchung konnte nachgewiesen werden, dass sich auf der Oberfläche von kunststoffmodifizierten Glasionomerzementen, die mit bioaktiven Gläsern versetzt wurden, nach sechs Wochen Calciumphosphatschichten bilden70.
Glascarbomerzemente
Der Glascarbomerzement ist als Sonderform der klassischen Glasionomerzemente anzusehen. Dieser Zement findet seinen Indikationsbereich als Restaurationsmaterial und Fissurenversiegler. Durch den Zusatz von Nanokristallen aus Calciumfluorapatit soll die Bildung von Fluorapatit initiiert werden, da diese Strukturen als „Remineralisationskeime“ dienen sollen. Tatsächlich bestehen die dem Material zusätzlich zugesetzten Füllköper jedoch aus Hydroxylapatit71. Weiterhin enthält das Material zusätzlich Gläser, die einer Oberflächenbehandlung mit Säure wie zum Beispiel Salzsäure unterzogen wurden, um Calcium aus den oberflächlichen Schichten zu entfernen und die Reaktivität herabzusetzen17. Bezüglich der Fluoridabgabe verhalten sich Glascarbomerzemente ähnlich wie klassische Glasionomerzemente17. Glascarbomerzemente sind auch in der Lage, Fluorid aufzunehmen. Im Gegensatz zu Glasionomerzementen wird dieses aber nicht wieder abgegeben, da die Fluoride irreversibel in das Material inkorporiert werden, vermutlich durch eine Reaktion mit dem enthaltenen Hydroxylapatit17. Klinische Daten zu diesem Material liegen bisher nur vereinzelt vor: Nach drei Jahren Beobachtungszeit und Einsatz im Rahmen der ART („Atraumatic restorative treatment“)- Technik konnten signifikant höhere Verlustraten eines Glascarbomerzements gegenüber einem Glasionomerzement und einem Kompomer festgestellt werden40. Auch bei Verwendung als Fissurenversiegler zeigten sich nach vier Jahren klinischer Liegedauer reduzierte Retentionsraten73. Insgesamt scheinen Glascarbomerzemente im Vergleich zu kunststoffmodifizierten Glasionomerzementen weniger biegefest zu sein37.
Bioaktive Adhäsivsysteme
In Bezug auf Adhäsivsysteme existieren Ansätze, bioaktive Systeme zu entwickeln. Durch den Zusatz von bioaktiven Gläsern soll ein Remineralisierungseffekt demineralisierter Bereiche innerhalb der adhäsiven Verbundzone erreicht werden52. In vitro zeigte sich nach Applikation von mit Bioglass 45S5 modifizierten Adhäsivsystemen auf demineralisiertes Dentin eine Apatitneubildung sowie eine Erhöhung des Elastizitätsmoduls und der Härte52. Auch durch Zusatz von β-TCP (β-Tricalciumphosphat) allein und in Kombination mit weiteren Additionen (Zinkoxid und Polyacrylsäure) konnten ähnliche Effekte erzielt werden51. Eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung konnte nachweisen, dass ein Adhäsivsystem, welches Fluorid-Bioglass in einem Verhältnis von 59 Gewichtsprozent enthält, Remineralisationsvorgänge induzieren kann, allerdings nur in tiefen artifiziellen kariösen Läsionen53.
Bioaktive Komposite
Die Idealvorstellung eines langlebigen Restaurationsmaterials wäre sicherlich, remineralisierend auf die umgebende Zahnhartsubstanz einzuwirken und einer bakteriellen Invasion in entstehende Randspalten auf mikroskopischer Ebene entgegenzuwirken. Erste Versuche, Komposite mit bioaktiven Gläsern zu versetzen und somit eine Bioaktivität der Materialien zu erreichen, wurden im Jahr 2013 unternommen. Bei dem experimentellen Material wurden zu 15 Prozent der Füller durch bioaktive Gläser ersetzt31. Bioaktivität bedeutet aber keinesfalls, dass Komposite durch den Zusatz von bioaktiven Füllkörpern automatisch auch „biokompatibler“ werden, was von Salehi et al.50 nachgewiesen wurde. Komposite mit und ohne bioaktive Füllkörper zeigten in vitro keine Unterschiede in Bezug auf die gemessene Zytotoxizität50. Neben mechanischen Eigenschaften stellt sich auch die Frage, wie der Zusatz bioaktiver Füllkörper den Dentinverbund beeinflusst. Hier konnte nachgewiesen werden, dass ein Füllkörperzusatz (Bioglass 45S5) von bis zu 5 Gewichtsprozent den Verbund im Vergleich zu einem Kontrollmaterial ohne bioaktive Füllkörper nicht beeinflusst. Bei steigendem Gehalt an bioaktiven Füllkörpern kommt es jedoch zur Abnahme der Verbundfestigkeit45. Weiterhin beeinflusst der Gehalt an bioaktiven Füllkörpern auch die Polymerisationskinetik und den Vernetzungsgrad der Kompositmatrix. Dabei wurde gezeigt, dass bioaktive Füllkörper mit einem Anteil von bis zu 40 Gewichtsprozent die Polymerisation negativ beeinflussen, was wiederum die mechanischen Eigenschaften sowie die Biokompatibilität des Materials beeinflussen kann46.
Darüber hinaus besteht auch eine Abhängigkeit von den verwendeten Matrixmonomeren: Bis-EMA-basierte Materialien zeigten einen deutlich negativen Einfluss des Anteils bioaktiver Füllkörper auf den Vernetzungsgrad (ab 10 Gewichtsprozent) während für UDMA-basierte Materialien deutlich bessere Ergebnisse erzielt wurden43. Es stellt sich daher die Frage, wie groß der Zusatz an bioaktiven Füllkörpern sein muss, um eine biologische Wirkung zu entfalten. Wurde einem Komposit ein bioaktiver Füllkörper (BAG65S) im Verhältnis von 15 Gewichtsprozent zugesetzt, so war das Material in der Lage, die Mikrohärte von demineralisiertem Dentin zu steigern26. An der Oberfläche der betreffenden Dentinproben waren Phosphatgruppen nachweisbar, was als Hinweis auf Remineralisationsvorgänge zu werten ist26.
Mit dem Zusatz an bioaktiven Füllkörpern verändert sich nicht nur die oben erwähnte Polymerisationskinetik, sondern auch die mechanischen Eigenschaften des bioaktiven Komposits: Bei einem Zusatz von 10 Gewichtsprozent an bioaktivem Glas war die Biegefestigkeit nach Alterung mit einem konventionellen Komposit vergleichbar, bei einer Steigerung auf 20 Gewichtsprozent jedoch signifikant erniedrigt44. Eine andere Untersuchung wies nach, dass gegenüber einem Kontrollmaterial kein Unterschied in Bezug auf Biegefestigkeit, Bruchzähigkeit und dem Auftreten von Ermüdungsrissen besteht, wenn 15 Prozent der vorhandenen Füllkörper durch bioaktive Gläser ersetzt werden31. Eine Möglichkeit, die Inkorporation der bioaktiven Füllkörper in die Matrix und damit die mechanischen Eigenschaften der Materialien zu verbessern, sind Silanisierungsvorgänge41. Problematisch ist dabei jedoch, dass diese Vorgänge die bioaktiven Eigenschaften der Füllkörper herabsetzen könnten41. Eine weitere Möglichkeit, die mechanischen und chemischen Eigenschaften zu beeinflussen, scheint die Größe der Füllkörper beziehungsweise die Kombination verschiedener Füllkörpergrößen zu sein39. Nanometergroße bioaktive Füllkörper und Kombinationen aus bioaktiven Nano- und Mikrofüllern sind besser in der Lage, eine Anhebung des pH-Werts zu bewirken und führen zur Bildung einer gleichmäßigen Schicht aus Hydroxylapatit39. Der Vernetzungsgrad war durch diesen Zusatz an bioaktiven Gläsern zunächst herabgesetzt, zeigte aber nach 28 Tagen keinen Unterschied mehr zum Kontrollmaterial39. Formulierungen bioaktiver Komposite sind bis dato vielversprechende Materialien im Hinblick auf Remineralisationsvorgänge, welche in vitro nachgewiesen werden konnten. Jedoch sind sie fragil in ihrer Zusammensetzung, welche die mechanischen und chemischen Eigenschaften massiv beeinflusst.
Bis dato sind zwei kompositbasierte Materialien auf dem dentalen Markt erhältlich, die laut Hersteller bioaktiv sind: Cention N (Ivoclar Vivadent) und Activa BioActive Restorative (Pulpdent/American Dental Systems).
Cention N enthält neben Barium-Aluminium-Glas, Calcium-Barium-Aluminium-Fluorsilikatglas, Ytterbiumtrifluorid und Präpolymerisaten ein Fluorsilikatglas, welches für die bioaktive Wirkung des Materials verantwortlich sein soll58. Vom Hersteller wird diese Kompositsubklasse aufgrund ihrer alkalischen Füllkörper, welche Säuren neutralisieren sollen, als „Alkasit“ bezeichnet58. Über die in Activa enthaltenen Füller gibt es nur wenig valide Informationen, sie werden vom Hersteller lediglich als bioaktiv bezeichnet25. Activa wird vom Hersteller als „das erste bioaktive Versorgungsmaterial, das die Vorteile von Kompositmaterialien, Glasionomeren und RMGI ohne ihre Nachteile kombiniert“ vermarktet und ist für alle Restaurationsklassen mit Ausnahme der Klasse-IV-Restauration freigegeben. Cention N kann für Restaurationen der Klasse I, II und V in bleibenden Zähnen und für Restaurationen der ersten Dentition eingesetzt werden25.
Eine kürzlich veröffentlichte Studie zum Vergleich der Bioaktivität der beiden oben genannten Materialien hat gezeigt, dass bei Activa keine Apatitformation auf der Oberfläche stattgefunden hat. Im Gegensatz dazu zeigte sich auf der Oberfläche von Cention N bei pH-Wert 7 die Ausbildung von einer apatitähnlichen Schicht57. In derselben Studie wurde auch die Fluoridfreisetzung beider Materialien untersucht. Es konnte nachgewiesen werden, dass beide Restaurationsmaterialien Fluoride freisetzen, jedoch in geringerem Ausmaß als dieses für Glasionomerzemente der Fall ist57. Cention N besitzt, genau wie ein klassischer Glasionomerzement, im sauren pH-Bereich von 4 eine höhere Fluoridabgabe als im neutralen Bereich. Die Fluoridabgabe war höher, wenn es selbsthärtend verarbeitet und nicht zusätzlich lichtpolymerisiert wurde15.
Ähnliche Ergebnisse zeigte auch eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung42: Die Fluoridabgabe von Cention N war mit der Fluoridabgabe eines lichthärtenden Glasionomerzements vergleichbar, allerdings besaß das Alkasit eine höhere Biegefestigkeit. Bezüglich der mechanischen Eigenschaften von Cention N scheint es zwischen Auto- und Lichtpolymerisation keinen Unterschied zu geben23. Die Biegefestigkeit des Materials war nach drei Monaten Lagerung sowohl in einem neutralen als auch in einem sauren Medium mit einem lichthärtenden Glasionomer vergleichbar23.
Beide Materialien waren ähnlich abrasionsstabil, ihre Werte waren aber signifikant geringer als die Werte eines klassischen Glasionomerzements49. Bezüglich des Verbunds zu Dentin erreichte Cention N gegenüber einem lichthärtenden Glasionomerzement signifikant höhere Werte sowohl in standardisierten Klasse-I-Kavitäten als auch auf planen Dentinflächen69. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass Cention N nicht selbstadhäsiv, sondern in Kombination mit einem Universaladhäsiv eingesetzt wurde. Bis dato existiert eine In-vivo-Studie, die beide Materialien nach Füllung von Klasse-I-Kavitäten in Bezug auf postoperative Überempfindlichkeit direkt vergleicht21. Nach 24 Stunden, 7 Tagen und 1 Monat klinischer Verweildauer zeigte sich eine höhere postoperative Überempfindlichkeit für Cention N im Vergleich zu Activa. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die postoperative Überempfindlichkeit für Cention N signifikant im Untersuchungszeitraum gesunken ist21. Kritisch ist sicherlich die kurze Nachbeobachtungszeit dieser klinischen Untersuchung von nur 1 Monat zu werten.
Eine weitere Untersuchung befasste sich mit der Versorgung von nicht kariösen Klasse-V-Restaurationen mit Cention N. In dieser Studie, die insgesamt 24 Patienten einschloss, bestand nach sechs Monaten klinischer Verweildauer zwischen Cention N und einem Komposit hinsichtlich der Kriterien „Frakturen“ und „Randschluss“ kein Unterschied11. Lediglich die Oberflächentextur von Cention N zeigte höhere Rauigkeiten. Da es sich um nicht retentive Kavitäten handelte, wurde das Alkasit in Kombination mit einem Etch-and-Rinse-Adhäsivsystem angewendet. In der „Scientific documentation“ zum Material Cention N sind 2 weitere Studien sowie eine Tabelle geplanter Forschungsvorhaben aufgeführt58. Von diesen Studien, von denen eine sogar auf einen Beobachtungszeitraum von drei Jahren ausgelegt war, sind jedoch bis dato keine Ergebnisse in der Literaturdatenbank Pubmed gelistet (Abruf: 18.Mai 2020).
Betrachtet man die Gebrauchsinformation des Materials Cention N25, so fällt auf, dass keine wirkliche „Selbstadhäsion“ des Materials existiert, das heißt, bei einer Anwendung ohne ein Adhäsivsystem ist die Präparation von Unterschnitten sowie das Entfernen von nicht dentinunterstütztem Schmelz erforderlich. Nur bei zusätzlicher Applikation eines Adhäsivsystems kann eine Präparation, die den heute gültigen Prinzipien der Minimalinvasivität gerecht wird, durchgeführt werden.
Im Falle des Materials Activa wird von Seiten des Herstellers in der auf der Homepage verfügbaren Produktinformation mit einer chemischen Bindung des Materials an die Zahnhartsubstanz geworben. Jedoch findet sich in der Gebrauchsinformation des Produktes der Hinweis auf die notwendige Verwendung eines Haftvermittlers48. Primär war das Material ohne die Anwendung eines Haftvermittlers konzipiert. In-vitro-Daten haben jedoch gezeigt, dass ohne Verwendung eines Adhäsivsystems kein Verbund zum Dentin aufgebaut werden kann2. Diese Ergebnisse zeigten sich auch nach Alterung sowohl für flache Dentinflächen als auch für Klasse-I-Kavitäten68. Wurde das Material mit einem Adhäsivsystem kombiniert, so waren die Verbundwerte vergleichbar mit einem konventionellen Komposit plus Adhäsivsystem2. Eine klinische Studie zeigte beim Vergleich von Activa mit einem Nanohybrid-Komposit nach 12 Monaten keine Unterschiede zwischen den Materialien5. In einer weiteren klinischen Untersuchung wurden jedoch nach demselben Beobachtungszeitraum in Klasse-I- und -II-Kavitäten hohen Verlustraten (24,1 Prozent) für das oben genannte Füllungsmaterial festgestellt, sodass die Studie nicht weiter fortgeführt wurde. Die Hauptgründe für das Versagen waren Füllungsverlust, postoperative Überempfindlichkeiten und Sekundärkaries61. Van Meerbeek et al. stellten daher in ihrem wegweisenden Übersichtsartikel „From Buonocore‘s pioneering acid-etch technique to self-adhering restoratives. A status perspective of rapidly advancing dental adhesive technology” die Bioaktivität des Materials infrage, da durch die Anwendung eines konventionellen Adhäsivsystems kein direkter Kontakt zum Dentin mehr besteht62.
Fallbericht
Nachfolgend ist die Restauration des Zahns 37 mit einem bioaktiven Komposit (Activa BioActive-Restorative, Pulpdent/American Dental Systems) dargestellt (Abb. 3 bis 14).
Die 41-jährige Patientin stellte sich im Mai 2020 nach abgeschlossener kieferorthopädischer Behandlung mit einer Fraktur der mesialen Randleiste sowie einer Infraktion der noch in situ befindlichen Restauration vor (Abb. 5). Die Ursache für diesen Befund wie auch für die Fraktur der distalen Randleiste 36 war Bruxismus. Im Rahmen der dargestellten Therapie soll der Zahn 37 zunächst mit einem Langzeitprovisorium versorgt werden, zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt die Teilüberkronung des Zahnes 37.
Nach Entfernung der vorhandenen frakturierten Restauration wurde zum Schutz der Pulpa der tiefste, suffiziente Anteil der Füllung belassen (Abb. 6). Ebenso wurde ein zwischen dem mesiolingualen und distolingualen Höcker befindlicher Kompositanteil aus Gründen der Höckerstabilisierung nicht entfernt. Nach Anlegen von Kofferdam und einer modifizierten Teilmatrize (Hawe Tofflemire 1001C, Kerr Dental; die Modifikation der konturierten Matrize erfolgte durch Beschneiden) mit Separationsring (Palodent V3, Dentsply Sirona) wurde ein Mehrschritt-Adhäsivsystem im Etch-and-Rinse-Modus aufgetragen (Syntac, Ivoclar Vivadent, Abb. 7 bis 9). Die Applikation des bioaktiven Komposits erfolgte in mehreren Schichten, um das Material kontrolliert zu platzieren. Die Spitze des Applikationstips befand sich dabei immer im Material, um Blasenbildung zu vermeiden (Abb. 10). Jede Schicht wurde separat lichtpolymerisiert (Abb. 11). Nach Überschussentfernung (Abb. 12) wurde die Okklusion adjustiert und die Oberfläche mit Kompositpolierern geglättet (Art2 Vor- und Hochglanzpolierer, Gebr. Brasseler). Auffallend ist die trotz Politur matte Oberfläche sowie eine Demarkationslinie, die trotz Applikation eines Adhäsivsystems und vorherigem Anrauhen der Oberfläche zwischen dem vorhandenen suffizienten Kompositanteil und dem neu aufgetragenen Material sichtbar ist (Abb. 13).
Insgesamt ist eine anatomische Gestaltung der Kaufläche aufgrund der niedrigen Viskosität des Materials durch Schichttechnik nicht möglich, hier kann nur durch subtraktives Herangehen (Einschleifen) ein kauflächenähnliches Ergebnis erzielt werden. Dieses birgt jedoch die Gefahr unnötigen Substanzverlustes besonders im Randbereich der Restauration. Abbildung 14 zeigt die Restauration bei der ersten Kontrolle nach sieben Tagen.
Antimikrobielle Zusätze
Da Sekundärkaries ein möglicher Grund für das Versagen von Restaurationen ist65, gehen Bestrebungen in die Richtung, Komposite und Adäsivsysteme mit antimikrobiellen Substanzen zu versetzen. In der Ätiologie der Sekundärkaries spielen vor allem die bakterielle Adhäsion und deren Wachstum auf Kompositoberflächen und anderen Restaurationsmaterialien eine entscheidende Rolle34,38. Unterschiedliche Materialien wie quartäre Ammoniumverbindungen, Silber und Zinkoxid können Dentalmaterialien antibakterielle Aktivität zuführen34. Quartäre Ammoniumverbindungen („Quaternary ammonium compounds“ [QAC]) sind kationische Tenside und Antimikrobiotika mit einem breiten Spektrum28,36. Ein Nachteil von antibakteriell freisetzenden Agenzien wie Chlorhexidin sowie Silber- und Zinkpartikeln in Nano- oder Mikrogröße ist die fehlende chemische Verbindung zur Polymermatrix und die daraus resultierende unkontrollierte, schnelle Freisetzung mit anderen eluierbaren Substanzen, was zu Gesundheitsrisiken führen kann und die Biokompatibilität dieser Materialien reduziert12,34. Quartäre Ammoniummethacrylate (QAM) besitzen ein positiv geladenes quartäres Amin N+, welches mit der negativ geladenen Bakterienwand interagieren und zur Membrandisruption und zum cytoplasmatischen Leakage führen kann4,72. Polymere mit quartären Ammoniumgruppen sind die wohl am intensivsten untersuchten polymeren Biozide34,36.
Ein Repräsentant der QAC ist das antimikrobielle Monomer 12-Methacryloyloxydodecylpyridinbromid (MDPB), welches kopolymerisiert und kovalent immobilisiert in die Kunststoffmatrix eingebunden werden kann und so eine Langzeit-Kontakthemmung oraler Bakterien bewirken kann24,72. MDPB wurde klinisch bereits dem Primer des selbstätzenden Adhäsivsystems Clearfil SE Protect (Kuraray Noritake) zugesetzt. Während zahlreiche In-vitro-Studien einen bakteriellen Effekt von MDPB bestätigen, konnte die klinische Vermeidung von Sekundärkaries durch Clearfill SE Protect bisher noch nicht bewiesen werden62.
Kombination antimikrobieller Zusätze und bioaktiver Füllkörper
Ein weiterer neuartiger Ansatz zielt darauf ab, Adhäsivsysteme durch eine Kombination antimikrobieller Zusätze und Zugabe bioaktiver Gläser zu modifizieren. Dimethylaminohexaethylmethacrylat (DMAHDM) ist ein antibakterielles Monomer und scheint in Kombination mit Nanopartikeln aus amorphem Calciumphosphat (NACP) den pH-Wert von Biofilmen in vitro zu erhöhen33. Weiterhin scheint der Haftverbund zum Dentin durch die Modifikation des Adhäsivsystems langzeitstabiler zu sein als ohne Modifikation33. Ähnliche Effekte wurden auch für die Kombination von Dimethylaminododecylmethacrylat (DMADDM) und NACP in vitro nachgewiesen8. Der Zusatz der NACP führt weiterhin zur Freisetzung von Calcium- und Phosphationen8,33. Bei den untersuchten Adhäsivsystemen handelt es sich jedoch nicht um bereits kommerziell erhältliche Produkte, sondern um „Prototypen“ für In-vitro-Untersuchungen.
Schlussfolgerung
Es existieren weitreichende wissenschaftliche In-vitro-Daten für die Fluoridfreigabe und das Remineralisierungspotenzial von Restaurationsmaterialien auf Glasionomerzementbasis. Bezüglich ihrer Langzeitstabilität im kaulasttragenden Seitenzahnbereich sind die Verlustraten jedoch höher als für klassische Komposite. Forschungsansätze wie der Zusatz bioaktiver Gläser und antimikrobieller Substanzen zu Kompositen und Adhäsivsystemen erscheinen vielversprechend, müssen jedoch durch In-vitro- und In-vivo-Daten belegt werden. Besonders der Einfluss klassischer Adhäsivsysteme bei der Verwendung in Kombination mit primär bioaktiven Restaurationsmaterialien sollte vom Anwender kritisch hinterfragt werden. Bioaktive Materialien, die eine hohe mechanische Stabilität aufweisen und durch direkten Kontakt mit der Zahnhartsubstanz gleichzeitig eine wirkliche Bioaktivität besitzen und so zum Beispiel die Bildung von Sekundärkaries verhindern können, wären die Idealvorstellung des „perfekten“ Restaurationsmaterials. Bis dato ist aber keines der verfügbaren „bioaktiven Materialien“ in der Lage, dieses Anforderungsprofil vollständig zu erfüllen.
Ein Beitrag von PD Dr. Anne-Katrin Lührs und Dr. Peggy Herrmann, beide Hannover
Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de