0,00 €
Zum Warenkorb
  • KVM Verlag
Filter
6641 Aufrufe

Teil 1: Anatomie

Die Kieferhöhle stellt eine wesentliche anatomische und funktionelle Komponente des Gesichts­schädels dar. Sie ist paarig angelegt und bildet aufgrund ihres Volumens (15 bis 20 mm³ je Kieferhöhle) den größten Teil des Nasennebenhöhlensystems. Da jedes digitale Volumentomogramm des Oberkiefers zumindest partiell die Kieferhöhle abbildet, ist ein fundamentales Verständnis des Aufbaus und der Abläufe innerhalb der Kieferhöhle maßgeblich für die diagnostische Analyse und das therapeutische Herangehen. PD Dr. Dirk Schulze beschreibt im ersten Teil seines zweiteiligen Beitrags für die Quintessenz Zahnmedizin sowohl die anatomischen Grundlagen und pathologischen Veränderungen als auch die physiologischen und pathophysiologischen Vorgänge der Kieferhöhlen.

Die „Quintessenz Zahnmedizin“, Monatszeitschrift für die gesamte Zahnmedizin, ist der älteste Titel des Quintessenz-Verlags, sie wurde 2019 wie der Verlag selbst 70 Jahre alt. Die Zeitschrift erscheint mit zwölf Ausgaben jährlich. Drei Ausgaben davon sind aktuelle Schwerpunktausgaben, die zusätzlich einen Online-Wissenstest bieten mit der Möglichkeit, Fortbildungspunkte zu erwerben. Abonnenten erhalten uneingeschränkten Zugang für die Online-Version der Zeitschrift und Zugang zur App-Version. Mehr Infos, Abo-Möglichkeit sowie ein kostenloses Probeheft bekommen Sie im Quintessenz-Shop.

Aufbau der Kieferhöhle

Die Kieferhöhle besitzt eine tetraedische Form, wobei die Spitzen in Richtung Alveolarfortsatz (kaudal), Jochbein (lateral), Ductus nasolacrimalis (anterior) und Processus pterygopalatinus (posterior) zeigen (Abb. 1a und b). Die vordere Wand wird von Kanälen eines neurovaskulären Bündels durchzogen (Nervus und Arteria alveolaris superior anterior); außerdem findet sich kranial in der vorderen Wand das Foramen infraorbitale (Abb. 1b). Das Dach der Kieferhöhle entspricht dem Orbitaboden, durch den der Canalis infraorbitalis verläuft (Abb. 1b). Es stellt sich in einer sagittalen Ansicht leicht s-förmig gebogen dar. Die hintere Wand der Kieferhöhle verläuft zwischen Jochbein, Orbitaboden und Alveolarfortsatz des Oberkiefers, weshalb sie auch häufig Crista zygomaticoalveolaris genannt wird. In der hinteren Wand verlaufen wiederum Äste eines neurovaskulären Bündels (Abb. 1c), wobei insbesondere die Äste der Arteria alveolaris superior posterior von klinischer Bedeutung sind. Die mediale Wand der Kieferhöhle grenzt diese zur Nasenhaupthöhle sowie zum unteren und mittleren Nasengang ab. Am kranialen Ende der medialen Wand (Processus uncinatus) befindet sich die Öffnung der Kieferhöhle (Ostium) in das Infundibulum ethmoidale. Der Boden der Kieferhöhle wird in der Regel durch den Recessus alveolaris im Processus alveolaris des Oberkieferknochens sowie teilweise auch durch dessen Processus palatinalis gebildet. In einer sagittalen Ansicht reicht der Boden der Kieferhöhle gewöhnlich vom ersten Prämolaren bis zum dritten Molaren. Der tiefste Punkt der Kieferhöhle findet sich dabei häufig in Höhe des ersten Molaren.

Embryonale Entwicklung und Wachstum der Kieferhöhle

Eine erste kleine Kieferhöhlenkavität kann beim Menschen in der 11. Schwangerschaftswoche beobachtet werden. Mit Ausnahme der medialen Wand setzt die Wandverknöcherung bis zur 21. Woche ein. Die Ossifikation der medialen Kieferhöhlenwand beginnt erst ab der 37. Woche. Zum Zeitpunkt der Geburt wird die Größe der Kieferhöhle wie folgt beschrieben: Tiefe (anterior-posterior) bis maximal 7 mm, Höhe bis maximal 4 mm und Breite bis maximal 2,7 mm. Trotz eines beschleunigten Wachstums zwischen dem 1. und 8. Lebensjahr liegt der Kieferhöhlenboden im 9. Lebensjahr in Höhe des Nasenbodens. Die erste Dentition hat keinen wesentlichen Einfluss auf die Größe der Kieferhöhle, denn diese erreicht erst mit dem Durchbruch der dritten Molaren im Alter von 18 bis 21 Jahren ihre endgültige Ausdehnung von (im Mittel) 28 mm Tiefe, 25 mm Höhe und 19 mm Breite5.

Funktion der Kieferhöhle

Die Kieferhöhle ist mit einem mehrreihigen Zylinderepithel mit Kinozilien (sogenanntes respiratorisches Epithel) ausgekleidet. Die Dichte der Kinozilien nimmt in Richtung des Ostiums zu, wobei die Schlag­frequenz zwischen 10 und 20 Hz liegt. Neben den für die Reinigung der Kieferhöhle relevanten Kinozilien sind auch die Becherzellen funktionell von Bedeutung.

Die Pneumatisation des Oberkieferknochens führt zu einer gewissen Gewichtsreduktion (ca. 50 g) und damit zu einer statischen Entlastung des Gesichtsschädels. Gleichzeitig sind die Nasenhaupthöhle und die Nasennebenhöhlen in ihrer Gesamtheit als Resonanzraum prägend für die Laut- und Stimmbildung. Eine weitere sehr wichtige Funktion der Nasennebenhöhlen besteht in der Erwärmung, Anfeuchtung und Reinigung der Atemluft. Beim Inspirationsvorgang gelangt Luft durch die Nasenlöcher in die Nasengänge und wird von der Nasenmuscheln verwirbelt, um beispielsweise auch in die Kieferhöhle eintreten zu können. Die in der Nasenhaupthöhle und den Nasennebenhöhlen „präparierte“ Atemluft wird anschließend durch den Inspirationssog über das Bronchialsystem in die Lungen zum Gas­austausch geleitet. Im Fall einer Verlegung der Nasennebenhöhlen, z. B. im Rahmen einer Sinusitis, oder bei Mundatmung gelangt trockene, kalte Luft in das Bronchialsystem, was zu einer erheblichen Reizung der Schleimhäute führt – jeder Leser wird diesen Effekt sicher kennen.

Staubpartikel und überflüssiges Sekret werden durch die genetisch determinierte Schlagrichtung der Kinozilien zum Ostium transportiert. Da sich das Ostium bei Erwachsenen relativ weit kranial und in der Nähe des Orbitabodens befindet, hat die reibungslose Funktion dieses „mukoziliaren Fahrstuhls“ eine grundlegende Bedeutung für die Drainage der Kieferhöhle5. Die Lage des Ostiums ist im Übrigen entwicklungsgeschichtlich gesehen eine direkt Folge des aufrechten Gangs, denn im Vergleich zu Vierbeinern wird der Gesichtsschädel nach anterior und kaudal rotiert.

Abb. 1d DVT – koronale Ansicht. Darstellung des ostiomeatalen Komplexes rechts. Beachte das Ostium der Kieferhöhle (*), das Infundibulum ethmoidale (†), den Processus uncinatus (#) und den Hiatus semilunaris ($).
Abb. 1d DVT – koronale Ansicht. Darstellung des ostiomeatalen Komplexes rechts. Beachte das Ostium der Kieferhöhle (*), das Infundibulum ethmoidale (†), den Processus uncinatus (#) und den Hiatus semilunaris ($).
Das Ostium geht initial in das häufig zwischen Bulla ethmoidalis (lateral und kranial) und Processus uncinatus (medial und kaudal) gelegene Infundibulum ethmoidale und dieses anschließend in den bogenförmigen Hiatus semilunaris über. Letzterer öffnet die mediale Kieferhöhlenwand dann zum mittleren Nasengang (Abb. 1d). Der Bereich, der mit dem Ostium der Kieferhöhle beginnt und bis hin zum mittleren Nasengang sowie zu den kaudalen Anteilen des vorderen Ethmoidalzellsystems reicht, wird auch funktionell unter dem Begriff ostiomeataler Komplex als Einheit betrachtet. Dabei ist die Darstellung des ostiomeatalen Komplexes insbesondere bei der Ursachenforschung im Fall einer Sinusitis maxillaris von Bedeutung, denn ca. 90 % aller Sinusitiden sind rhinogenen oder sinogenen Ursprungs. In den Nasennebenhöhlen werden täglich zwischen 200 und 300 ml Sekret gebildet und an die Atemluft abgegeben. Bei einer Blockade der Drainagewege tritt deshalb eine sofortige Sekretretention ein.

In der jüngeren Vergangenheit haben sich die Anzeichen dafür gemehrt, dass das Kieferhöhlensekret auch eine wesentliche Barriere des Immunsystems darstellt und dass die Kieferhöhlenschleimhaut darüber hinaus in der Lage ist, Stickstoffmonoxid (NO) zu produzieren6. NO wirkt bakterizid, viruzid sowie fungizid und führt bei nasaler Respiration zu einer verbesserten Sauerstoffaufnahme in den arteriellen Gefäßen.

Anatomische Varianten der Kieferhöhle

Hyperplasie, Hypoplasie und Aplasie

Das Ausmaß der Pneumatisation beider Kieferhöhlen weist nur in seltenen Fällen eine Asymmetrie auf, wohingegen sich öfter seitengleiche Veränderungen finden. Dabei ist eine hyperplastische Kieferhöhle am häufigsten anzutreffen. Diese erstreckt sich dann im Alveolarfortsatz deutlich weiter nach anterior und mesial, so dass auch die Wurzeln der Eckzähne in enger topographischer Beziehung zur Kieferhöhle beziehungsweise zum Recessus alveolaris stehen können (Abb. 2a). Seltener anzutreffen ist ein echter Recessus palatinus, der sich vom eigentlichen Kieferhöhlenlumen nach medial bis unter den Nasenboden erstreckt (Abb. 2b). Unabhängig von der Pneumatisation findet übrigens keine direkte Exposition der Wurzeln statt, da diese grundsätzlich von einer Lamelle kompakten Knochens (Lamina dura) umgeben sind.

Eine hypoplastische Kieferhöhle ist häufiger mit entzündlichen Veränderungen assoziiert2 (Abb. 3a und b). Echte Hypoplasien treten im Vergleich zu postoperativen Veränderungen des Kieferhöhlen­lumens mit einer Prävalenz von maximal 3 Prozent auf. Eine echte Aplasie der Kieferhöhle und damit auch ein völliges Fehlen des Processus uncinatus kann wohl als Rarität bezeichnet werden.

Von der Hyperplasie ist im Übrigen eine sekundäre Ausdehnung der Kieferhöhle nach Extraktion des ersten und/oder zweiten Molaren abzugrenzen. Hierbei führt der Zahnverlust zu einer Atrophie des Alveolarfortsatzes und damit zu einer geringeren mechanischen Belastbarkeit des Knochens, was möglicherweise eine Ausdehnung des Recessus ­alveolaris in die nun unbezahnten Bereiche fördert. Neueren Untersuchungen zufolge wirkt sich diese Ausdehnung jedoch nicht auf das Gesamtvolumen der Kieferhöhle aus8.

Akzessorisches Ostium

Als akzessorisches Ostium wird eine zusätzliche Öffnung in der medialen Wand der Kieferhöhle bezeichnet. Diese Wanddehiszenzen treten in Höhe des Übergangs zwischen dem Processus uncinatus und dem Ansatz der Concha nasalis inferior auf, da sich dort oft nur eine mukoperiostale Barriere befindet, die auch als Fontanelle oder Fontanellenregion bezeichnet wird9 (Abb. 4a und b). Ein akzessorisches Ostium soll bei Patienten mit chronischer Sinusitis sehr viel häufiger als bei gesunden Patienten zu beobachten sein (Prävalenz 30 versus 10 Prozent).

Septen

Mit einer Prävalenz von ca. 25 Prozent finden sich Kieferhöhlensepten vornehmlich im Recessus alveolaris, wobei sie am öftesten im mittleren Drittel gemäß der Einteilung von Underwood (zwischen dem ersten und dem zweiten Molaren) anzutreffen sind (Abb. 5a und b). Sie treten deutlich häufiger bei zahnlosen Patienten auf, was die These stützt, dass Septen hauptsächlich sekundär als ossäre Abstützungsreaktion nach Zahnverlust ausgeprägt werden. Die mittlere Höhe eines Septums liegt zwischen 15 (anterior) und 10 mm (posterior)7.

Haller-Zellen

Sofern sich Siebbeinzellen bis in die Nähe des Ostiums und vor allem in Höhe des Orbitabodens ausbreiten, werden sie infraorbitale Siebbeinzellen oder nach dem Erstbeschreiber Albrecht von Haller (1743) einfach Haller-Zellen genannt3,4. Die Prävalenzangaben in der Literatur reichen von 5 bis 60 Prozent, was mit Sicherheit auf die eher vage Definition dieser zusätzlich pneumatisierten Zelle/n zurückzuführen ist. Haller-Zellen können den Drainageweg der Kieferhöhle erheblich beeinflussen (Abb. 6), selbst Ort einer okkulten Infektion sein und ein erhebliches Hindernis bei einer Endoskopie der Kieferhöhle darstellen.

Concha bullosa, Septumdeviation und Septumsporn

Diese Veränderungen der regulären Anatomie der Nasengänge beziehungsweise der Nasenhaupthöhle hängen häufig zusammen oder treten gemeinsam auf. Mit dem Terminus Concha bullosa wird eine Pneumatisation der Concha nasalis media bezeichnet. Die Prävalenz dieser Veränderung beträgt ca. 50 Prozent1, wobei das Ausmaß der Pneumatisation sehr unterschiedlich ausfallen kann (Abb. 7). Gelegentlich ist die Concha bullosa mit einer Septumdeviation vergesellschaftet, die aber natürlich auch isoliert auftreten kann. Septumdeviationen lassen sich in mehr als der Hälfte aller Patientenfälle beobachten. Sie können unter anderem auch durch Wachstumsstörungen verursacht werden, wie dies beispielsweise bei Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten vorkommt. Sehr oft wird die Septumdeviation von einer zentral am Septum befindlichen und horizontal ausgerichteten knöchernen Figur, dem sogenannten Septumsporn begleitet (Abb. 8). Klinisch relevant werden Septumdeviationen dann, wenn ihr Auftreten konsekutiv zu einer funktionellen Verengung des Kieferhöhlenostiums führt (Fortsetzung folgt).

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Ein Beitrag von PD Dr. Dirk Schulze, Freiburg

Digitale Zahnmedizin