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Interdisziplinäre Therapie bringt gute Ergebnisse für die Patieten – ein Fallbericht von Dr. Valentina Hraský

Miniimplantate dienen der skelettalen Verankerung.

Aus Sorge vor weiterem Attachmentverlust im parodontal vorgeschädigten Gebiss wird eine kombinierte parodontal-kieferorthopädische Behandlung häufig von vielen Zahnärzten nicht als Therapieoption in Erwägung gezogen. Dabei kann eine interdisziplinäre Behandlung für die Patienten zu einem funktionell und ästhetisch ansprechenden Therapieergebnis führen und zudem die Hygienefähigkeit erleichtern. Dieser Fallbericht aus der Quintessenz Zahnmedizin 9/20 schildert den kombinierten Behandlungsverlauf bei einem 59-jährigen Patienten mit einer schweren chronischen Parodontitis (Stadium IV, Grad C) und damit einhergehender pathologischer Zahnwanderung.

Die „Quintessenz Zahnmedizin“, Monatszeitschrift für die gesamte Zahnmedizin, ist der älteste Titel des Quintessenz-Verlags, sie wurde 2019 wie der Verlag selbst 70 Jahre alt. Die Zeitschrift erscheint mit zwölf Ausgaben jährlich. Drei Ausgaben davon sind aktuelle Schwerpunktausgaben, die zusätzlich einen Online-Wissenstest bieten mit der Möglichkeit, Fortbildungspunkte zu erwerben. Abonnenten erhalten uneingeschränkten Zugang für die Online-Version der Zeitschrift und Zugang zur App-Version. Mehr Infos, Abo-Möglichkeit sowie ein kostenloses Probeheft bekommen Sie im Quintessenz-Shop.

Einleitung

Die Daten der Fünften Deutschen Mundgesundheitsstudie zeigen, dass aktuell jeder zweite Erwachsene an einer Parodontitis erkrankt ist (jüngere Erwachsene 35 bis 44 Jahre: 51,6 Prozent; jüngere Senioren 65 bis 74 Jahre: 64,6 Prozent)9. Vor dem Hintergrund dieser Zahlen ist bei der kieferorthopädischen Behandlung von Erwachsenen davon auszugehen, dass ca. 50 Prozent der Patienten parodontal kompromittiert sind. Besonders bei schweren Parodontitiden können gerade im Oberkieferfrontzahnbereich durch Lippen-, Wangen- und Zungendruck pathologische Zahnbewegungen entstehen3. Häufiges Resultat sind massive funktionelle und ästhetische Probleme wie Proklination mit gestörtem Lippenschluss sowie Lückenbildung und Zahnwanderung, die die betroffenen Patienten dann zur Vorstellung beim Kieferorthopäden bewegen.

Für eine langfristig erfolgreiche orthodontische Therapie ist an dieser Stelle eine sorgfältige Patientenselektion essenziell, um einen rasch progredienten Gewebeabbau durch forcierte Krafteinwirkung zu vermeiden. Studien zeigen, dass es bei Patienten mit einem reduzierten, aber gesunden Parodontium während und nach der kieferorthopädischen Behandlung zu keinem erhöhten Attachmentverlust kommt1,2. Voraussetzung dafür ist, dass im Vorfeld eine systematische antiinfektiöse Therapie stattfindet. Um von stabilen parodontalen Verhältnissen zu Beginn der Kieferorthopädie ausgehen zu können, werden aktive Zahnbewegungen frühestens zwei bis sechs Monate nach Abschluss der Parodontitistherapie empfohlen17. In diesem Zeitraum kann eine Heilung der parodontalen Gewebe erwartet und die Com­pliance der Patienten eingeschätzt werden6.

Eine kiefer­orthopädische Behandlung kann dann dazu beitragen, das Therapieergebnis weiter zu beein­flussen: Zahnfehlstellungen können beseitigt und okklusale Fehlbelastungen („Jiggling“) therapiert werden. An Lücken angrenzende und verlagerte Zähne können vor geplanter prothetischer Versorgung aufgerichtet werden. In Kombination mit GTR („Guided tissue regeneration“)-Techniken wird zudem ein zusätzlicher Attachmentgewinn diskutiert16.

Für einen erfolgreichen Therapieabschluss spielt die enge Zusammenarbeit zwischen Zahnarzt und Kieferorthopäden eine wichtige Rolle, denn auch während der orthodontischen Behandlung ist eine regelmäßige, engmaschige unterstützende Parodon­titistherapie (UPT) alle zwei bis drei Monate notwendig8. Der im Folgenden vorgestellte Fall zeigt, dass mit einer interdisziplinären Therapie und exzellenter Compliance parodontal stabile und ästhetisch sowie funktionell gute Ergebnisse für den Patienten erzielt werden können.

Fallbericht

Hauptanliegen des Patienten bei der Erstvorstellung im November 2016 in der Poliklinik für Kieferorthopädie der Universitätsmedizin Göttingen war die Frage nach einem möglichen Zahnerhalt der Oberkieferfrontzähne. Die erste klinische Untersuchung und Anfertigung eines Zahnfilmstatus zeigte einen ausgeprägten tiefen Biss (Overbite: 10 Millimeter) mit traumatischem Einbiss der Unterkieferfront in die pala­tinale Gaumenschleimhaut sowie eine massive parodontale Behandlungsbedürftigkeit des Patienten. Nach ausführlicher Aufklärung über eine mögliche kieferorthopädische Behandlung bei parodontal stabi­len Verhältnissen wurde der Patient zunächst in die Poliklinik für Präventive Zahnmedizin, Parodontologie und Kariologie zur weiteren Behandlung überwiesen.

Anamnese

Der 59-jährige Patient war Nichtraucher und normalgewichtig. In der allgemeinen Anamnese gab er eine akut depressive Phase mit medikamentöser Begleittherapie (Amineurin, Citalopram) an. Im Rahmen der speziellen zahnmedizinischen Anamnese beschrieb der Patient ein seit mehreren Wochen persistierendes leichtes Druckgefühl an Zahn 21 mit subjektiv verstärkter Protrusion. Eine subgingivale Instrumentierung hatte einmalig ohne weitere UPT im Jahr 2015 stattgefunden.

Ausgangsbefunde

Bei der Erstvorstellung imponierte die Auffächerung der Oberkieferfrontzähne und der durch die pro­trudierte und elongierte Oberkieferfront hervorge­rufene inkomplette Lippenschluss (Abb. 1). Die Verzahnung im Seitenzahnbereich entsprach einer Angle-Klasse II/1. Der intraoral konservierend weitgehend suffizient versorgte Patient (erneuerungs­bedürftige Füllung 16 und kariöse Läsion 26) zeigte im parodontalen Anfangsbefund einen massiven Attachmentverlust mit Sondierungstiefen (ST) bis 14 Millimeter sowie Pusaustritt und Fistelbildung im Oberkieferfrontzahnbereich (Abb. 2). Die bestehende massive Entzündung spiegelten auch die Werte des „Bleeding on probing“ (BOP: 70 Prozent) und des „Periodontal inflamed surface area score“ (PISA-Score12: 2.809 mm2) wider. Sowohl in der Panoramaschichtaufnahme (Abb. 3) als auch im Zahnfilmstatus war ein generalisierter marginaler Knochenverlust > 33 % mit vertikalen Defek­ten vor allem im Bereich der Zähne 21/22 zu verzeichnen. Zahn 21 zeigte zudem eine periradi­kuläre Aufhellung, die mit der klinisch negativen Sensibilitätsprüfung des Zahnes korrelierte. Alle anderen Zähne reagierten auf den Sensibilitätstest mit Kältespray eindeutig positiv.

Diagnose und Prognose

Nach der neuen parodontalen Klassifikation13 wurde ei­ne generalisierte Parodontitis Stadium IV, Grad C dia­gnostiziert. Dabei waren die Prognosen der Zähne 16, 18 und 22 als fraglich, die des Zahns 21 durchaus auch als nicht mehr therapierbar einzu­stufen10.

Therapie

Nach kurzer systemischer Phase mit Abklärung relevanter Allgemeinerkrankungen wie Diabetes mellitus und ausführlicher Aufklärung des Patienten über die möglichen Zusammenhänge von psychosozialem Stress und Zahngesundheit wurde die antiinfektiöse Therapie begonnen. Parallel zur ausführlichen Mundhygieneinstruktion wurde die endodontische Therapie des nekrotischen Zahns 21 und die Füllungstherapie der Zähne 16 und 26 durchgeführt (Abb. 4). Bei einem Approximalraum-Plaque-Index-Wert (API) von 38 Prozent und einem Sulkus-Blutungs-Index-Wert (SBI) von 44 Prozent erfolgte dann Anfang 2017 die subgingi­vale Instrumentierung sowohl maschinell (SlimLine, Fa. Hager & Werken, Duisburg) als auch manuell mit Gracey-Küretten. Aufgrund der massiven Entzündung mit persistierender Suppuration auch nach intensiver Vorbehandlung wurden adjunktiv 500 mg Amoxicillin und 400 mg Metronidazol (dreimal täglich, siebenTage) rezeptiert.

Drei Monate später wurde eine deutliche Verbesserung aller Parameter festgestellt (BOP: 14 Prozent; PISA: 334 mm2, API: 33 Prozent; Abb. 5). Sechs Monate nach initialer Parodontitistherapie konnte mit der aktiven kieferorthopädischen Behandlung begonnen werden. Aufgrund der deutlichen Reduktion der ST auf max. fünf Millimeter an den Zähnen 21/ 22 und der geplanten Intrusion wurde zunächst auf ein chirurgisches Verfahren zur gesteuerten Geweberegeneration verzichtet.

Hauptziel der kieferorthopädischen Therapie war es, die ausgeprägte Extrusion des Oberkieferfrontzahnsegments zu korrigieren und den tiefen Biss zu beheben. Zur Umsetzung der dazu geplanten Intrusion und Retraktion wurden zunächst Brackets von 13 bis 23 gesetzt und distal der Eckzähne im apikalen Drittel zwei Minischrauben zur skelettalen Verankerung inseriert (Abb. 6). Gummiketten oder Drahtligaturen dienten der permanenten Verankerung der kieferorthopädischen Apparatur an den Minischrauben. Durch dieses Design konnten auf extendierte Bracketapparaturen verzichtet und extrusive Nebenkräfte vermieden werden. Nach Intrusion und Retraktion der Oberkieferfrontzähne wurde auch im Unterkiefer eine segmentierte Apparatur unter Wahrung einer guten Hygienefähigkeit eingegliedert.

Zur weiteren Stabilisierung der parodontalen Verhältnisse waren regelmäßige Polituren der Zähne bei den kieferorthopädischen Kontrollen im Abstand von drei bis vier Wochen obligat. Parallel dazu erfolgte in regelmäßigen Abständen eine UPT in der Poliklinik für Präventive Zahnmedizin, Parodontologie und Kario­logie. Im Rahmen dieser Behandlung wurden neben der üblichen Mundhygienekontrolle und In­struktion auch BOP und PISA-Score kontinuierlich erhoben. Insgesamt zeigten sich über den gesamten Therapieverlauf hinweg stabile Verhältnisse.

Nach 24 Monaten aktiver kieferorthopädischer Therapie wurden die Brackets entfernt und zeitgleich im Ober- und Unterkiefer festsitzende Retainer von Eckzahn auf Eckzahn beziehungsweise Prämolaren geklebt. Der Abschluss­befund (Abb. 7) zeigt eine ausreichende Bisshebung mit Beseitigung des traumatischen Einbisses. Die zugrundeliegende Angle-Klasse II/1 wurde nicht verändert (Abb. 8). Trotzdem konnte das Therapieziel einer funktionellen Rehabilitation erreicht werden. Die parodontalen Verhältnisse waren zum Abschluss der orthodontischen Therapie stabil (Abb. 9). Mesial und distal des Zahnes 21 schien es hingegen zu einer Regeneration der parodontalen Strukturen gekommen zu sein. Es zeigte sich im Röntgenbefund allerdings eine nun als zu lang imponierende Wurzelkanalfüllung des Zahnes 21, die möglicherweise auf eine nichtprogrediente Wurzelresorption zurückzuführen ist (Abb. 10).

Klinisch war der Patient zum Ende der kieferorthopädischen Behandlungsphase beschwerdefrei und mit dem Therapieergebnis sehr zufrieden, sodass ein weiteres UPT-Intervall von vier bis fünf Monaten vereinbart wurde.

Diskussion

Im Rahmen einer schweren Parodontitis werden pathologische Zahnbewegungen im Frontzahnbereich mit einer Prävalenz von ca. 30 bis 55 Prozent beschrieben11,18. In einer Umfrage7 zeigten 68 Prozent der befragten Parodontitispatienten Interesse an einer orthodontischen Therapie. Obwohl der vorliegende Fallbericht die Möglichkeiten einer kombinierten Therapie zeigt, bedarf es weiterer randomisierter kontrollierter Studien, um die positiven Effekte auch wissenschaftlich fundiert belegen zu können. Aus diesem Grund ist es ganz besonders wichtig, Patienten ausführlich über die Möglichkeiten, Grenzen und potenziellen Probleme einer kombinierten Behandlung aufzu­klären. Nur bei parodontaler Stabilität, exzellenter Mundhygiene und gesicherter UPT sollte mit einer Therapie begonnen werden15.

Aufgrund der massiven Entzündung und offensichtlich schnellen Progression der Parodontitis wurde im hier beschriebenen Fall das „Scaling and root planing“ mit adjunktiver Antibiotika­gabe durchgeführt. Trotz des vertikalen Knochen­abbaus wurde zunächst auf ein weiteres korrektiv regeneratives Verfahren an Zahn 21 verzichtet, um durch die geplante Intrusionsbewegung die Defektmorphologie eventuell noch zu verbessern. Grundsätzlich werden regenerative Techniken meistens vor (zehn Tage bis vier Monate)6 der kieferorthopädischen Phase durchgeführt, sind aber defektabhängig auch während oder nach der Behandlung möglich5,14.

Obwohl in der aktiven orthodontischen Therapiephase eine UPT von zwei bis drei Monaten empfohlen wird8, konnte aus beruflichen Gründen im hier beschriebenen Fall ein nur halbjährliches Intervall langfristig etabliert werden. Eine frühzeitige Aufklärung auch über den zeitlichen Umfang zu Beginn der kombinierten Behandlung ist daher wichtig.

Das Therapieergebnis zeigt, dass trotz ausgeprägten Attachmentverlustes eine umfassende und ästhetische Rehabilitation möglich ist. Es wird aber auch deutlich, dass eine Behandlung gerade im parodontal kompromittierten Gebiss unerwünschte Nebeneffekte mit sich bringen kann. Wurzelresorptionen wie im vorliegenden Fall werden im Rahmen einer kieferorthopädischen Behandlung bei sowohl Jugendlichen als auch Erwachsenen beschrieben, sind aber vor allem bei zu großer Kraft und sehr schneller Zahnbewegung bei Parodontitispatienten aufgrund des Knochenverlustes und des damit veränderten Widerstandszentrums ausgeprägter4. Um am Ende der Therapie langfristig Stabilität zu erreichen, ist neben der UPT auch die Retention des Behand­lungs­ergeb­nisses wichtig. Wie hier dargestellt, sollten zu einer permanenten Retention primär fest eingegliederte und gut pflegbare Retainer inseriert werden.

Fazit

Der Fallbericht zeigt, dass eine parodontal-kiefer­orthopädisch kombinierte Therapie bei stabilen Parodontitispatienten möglich ist. Gerade bei Patienten mit ausgeprägter Extrusion der Frontzähne und funktionellen Defiziten im Oberkieferfrontzahnbereich sollte diese Behandlungsoption häufiger in Betracht gezogen werden. Grundvoraussetzung ist eine interdisziplinäre Kommunikation vor, während und nach der aktiven Kieferorthopädie.

Ein Beitrag von Dr. Valentina Hraský und Prof. Dr. Philipp Meyer-Marcotty, beide Göttingen

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Quelle: Quintessenz Zahnmedizin 9/20 Parodontologie Kieferorthopädie Interdisziplinär