0,00 €
Zum Warenkorb
  • KVM Verlag
Filter
4157 Views

Grundsätzlich ist jede Intervention, die ein zusätzliches Risiko für den bleibenden Zahnkeim bedeutet, sorgfältig zu überprüfen

Zahn 61 steht im Kreuzbiss. Da er kein Okklusionshindernis darstellt, kann er belassen werden.

Zahnunfälle im Milchgebiss treten häufiger auf als im bleibenden Gebiss. Aufgrund des im Vergleich zur Zahnhartsubstanz noch weichen Knochens treten im Milchgebiss Dislokationsverletzungen deutlich häufiger auf als Frakturen der Zahnhartsubstanzen9. Auch Frakturen des Knochens sind selten. Die häufigste Verletzung der Milchfrontzähne ist die In­trusion, gefolgt von der palatinalen Dislokation. Prof. Andreas Filippi und Judith Erb beschreiben in ihrem Beitrag für die Quintessenz Zahnmedizin 1/21 das praktische Vorgehen bis hin zu oralchirurgischen Aspekten bei Dislokationen im Milchgebiss.
Nach unfallbedingter Intrusion ist eine chirurgische Intervention am Unfalltag in der Regel nicht erforderlich: Eine Reeruption kann abgewartet, muss aber kontrolliert werden3. Schäden am bleibenden Zahnkeim sind nach Milchzahnintrusion häufig und entstehen direkt beim Unfall. Bei palatinaler Dislokation bewegt sich die Wurzelspitze gegenläufig zur Zahnkrone und entfernt sich so vom bleibenden Zahnkeim. Daher werden Folgeschäden an bleibenden Zähnen vergleichsweise selten beobachtet.

Die „Quintessenz Zahnmedizin“, Monatszeitschrift für die gesamte Zahnmedizin, ist der älteste Titel des Quintessenz-Verlags, sie wurde 2019 wie der Verlag selbst 70 Jahre alt. Die Zeitschrift erscheint mit zwölf Ausgaben jährlich. Drei Ausgaben davon sind aktuelle Schwerpunktausgaben, die zusätzlich einen Online-Wissenstest bieten mit der Möglichkeit, Fortbildungspunkte zu erwerben. Abonnenten erhalten uneingeschränkten Zugang für die Online-Version der Zeitschrift und Zugang zur App-Version. Mehr Infos, Abo-Möglichkeit sowie ein kostenloses Probeheft bekommen Sie im Quintessenz-Shop.

Vorgehen nach palatinaler Dislokation

Wie bei jedem anderen Zahnunfall auch muss zunächst am Unfalltag ein Schädelhirntrauma ausgeschlossen werden. Der kurze, aber aussagekräftige Traumachart des Zahnunfallzentrums in Basel hilft bei der Dokumentation (Abb. 1, zum Download unter www.andreas-filippi.ch). Die intraorale Untersuchung in dieser Altersgruppe ist nicht immer ganz einfach, trotzdem kann der anteriore Bereich im Oberkiefer meist gut untersucht werden. Klinisch imponiert eine nach palatinal dislozierte Krone, der Zahn kann gleichzeitig etwas extrudiert sein und es bestehen sulkuläre Blutungen10 (Abb. 2a und b). Zusätzliche Weichgewebeverletzungen sind möglich. Eine radiologische Diagnostik am Unfalltag zur Abklärung einer möglichen Wurzelfraktur mit Dislokation des koronalen Fragmentes ist nicht erforderlich, da es die Therapie zunächst nicht beeinflusst. Wird trotzdem eine Röntgenaufnahme am Unfalltag favorisiert – zum Beispiel um eine Wurzelfraktur mit palatinaler Dislokation des koronalen Fragmentes auszuschließen – sind wie bei allen Milchzahnunfällen Aufbissaufnahmen Zahnfilmen vorzuziehen.

Neben der Inspektion möglicher Weichgewebeverletzungen sollte am Unfalltag die Beweglichkeit des palatinal dislozierten Zahnes überprüft werden. Bei erheblicher Lockerung und somit bei Gefahr eines Spontanverlustes sollten die betroffenen Zähne sofort entfernt werden1 (Abb. 3). Aufgrund der bereits erfolgten parodontalen Desintegration ist eine Lokalanästhesie in der Regel nicht sinnvoll oder erforderlich. Besteht aufgrund der Beweglichkeit keine Gefahr eines Spontanverlustes, muss am Unfalltag überprüft werden, ob eine Okklusion im Seitenzahngebiet möglich ist oder ob der Zahn ein Okklusionshindernis darstellt11. In den meisten Fällen besteht entweder ein anterior offener Biss oder der palatinal dislozierte Zahn steht bei Okklusion im Kreuzbiss (Abb. 4). In diesen Fällen kann der dislozierte Zahn so belassen werden: Er wird rasch und problemlos parodontal einheilen. Eine Reposition am Unfalltag ist grundsätzlich zu unterlassen, da zum einen die nach bukkal dislozierte Wurzelspitze nicht das Zahnsäckchen des palatinal liegenden, bleibenden Zahnkeimes tangiert und ein organisiertes Blutkoagulum eine vollständige Reposition ohnehin erschwert7, zum anderen weil es durch eine Reposition zu erheblichen Missbildungen am bleibenden Zahnkeim kommen kann. Wie bei allen Milchzahndislokationen entstehen diese Missbildungen bleibender Zähne im Bereich der Mineralisationsfront und sind daher abhängig vom Alter des Patienten beziehungsweise dem korrespondierenden Fortschritt der Zahnmineralisation. Ein Schienen der betroffenen Zähne ist nicht erforderlich und auch nicht sinnvoll.

Grundsätzlich gilt bei der Diskussion über therapeutische Interventionen nach Milchzahntrauma: Jede Intervention, die ein zusätzliches Risiko für den bleibenden Zahnkeim bedeutet, welches über das eigentliche Zahntrauma hinausgeht, ist zu unterlassen. Die Eltern sollten über die Gründe für das Belassen des Zahnes in der Dislokationsposition informiert werden. Wie bei jedem anderen Zahntrauma auch sollten Instruktionen zu Mundhygiene und Ernährung gegeben werden. Weiche klebrige Nahrung ist wie nach allen Zahnverletzungen zu vermeiden. Der Schnuller kann problemlos weiterverwendet werden. Vom Zahnunfallzentrum in Basel gibt es ein entsprechendes Informationsblatt für Betroffene und Eltern, abrufbar unter www.andreas-filippi.ch.

Recall nach palatinaler Dislokation

Die nächsten Kontrolltermine richten sich nach der individuellen Situation. Verläuft die Heilung objektiv und subjektiv unauffällig, ist eine Kontrolle nach einer Woche ausreichend. Die in Dislokationsposition stehenden, betroffenen Zähne sind dann klinisch wieder fest und die dentogingivale Verletzung vollständig verheilt (Abb. 5). Auf Nachfrage antworten fast alle Eltern, dass die Kinder wieder normal essen und nach kurzer Zeit wieder im Frontzahnbereich abbeißen können. Einzelne Kinder schonen ihre Frontzähne noch einige Wochen und beißen lieber im Seitenzahnbereich ab. Nicht unbedingt am Unfalltag, aber spätestens im Recall sollte den Angehörigen kommuniziert werden, dass die optische Veränderung der „Fehlstellung“ nur die Erwachsenen stört und nie die Kinder5. Damit können Diskussionen über mögliche kieferorthopädische Therapien oder Rekonstruktionen rasch beendet werden. Die Eltern sollten auch darüber informiert werden, dass die Pulpa des Zahns in den meisten Fällen nach palatinaler Dislokation nicht überlebt hat und dass Grauverfärbungen des betroffenen Zahnes möglich sind1 (Abb. 6a und b), die alleine keine zahnmedizinische Intervention benötigen4. Auch hier sollte informiert werden, dass eine solche Verfärbung nur die Eltern stört und nicht die Kinder. Sollten jedoch Infektionszeichen wie Fistel oder Schwellung auf Höhe des Apex auftreten, ist in der Regel eine Intervention erforderlich, außer der Zahnwechsel steht kurz bevor. Tritt eine solche Infektion auf, muss die Entfernung des Zahns oder seltener eine endodontische Intervention diskutiert werden. Die Eltern sollten in diese klinischen Kontrollen möglicher Infektionszeichen beim tägli­chen Zähneputzen einbezogen und entsprechend instruiert werden. Bei unauffälligem Heilungsverlauf verdoppeln sich wie immer in der Traumatologie der Zähne die Kontrollzeiträume. Die nächsten Kontrollen finden etwa nach 14 Tagen, 4 und 8 Wochen sowie nach 3 Mo­naten statt, anschließend im Rahmen der Karieskontrolle.

Schlussfolgerung

Die palatinale Dislokation im Milchgebiss ist nach der Intrusion die häufigste Dislokationsverletzung. Eine chirurgische Intervention oder Reposition ist am Unfalltag meist nicht erforderlich. Regelmäßige klinische Kontrollen sollen helfen, mögliche Pulpanekrose-assoziierte Komplikationen zeitnah zu erkennen und zu behandeln.

Ein Beitrag von Prof. Dr. Andreas Filippi und Judith Erb, Basel

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Reference: Zahnmedizin