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Ein Fallbericht über zwölf Jahre

Abb. 5 Auf dem Sofortimplantat befestigter PEEK-Pfosten als Träger des Sofortprovisoriums

Einzelzähne, die in der ästhetischen Zone verloren gehen, stellen Behandler und Patient immer wieder vor die Herausforderung, wie mit möglichst minimalinvasivem therapeutischem Aufwand ein aus funktioneller und ästhetischer Sicht maximal zufriedenstellendes implantologisches Ergebnis erzielt werden kann. Die vorliegende Falldokumentation von PD Dr. Dietmar Weng für die Implantologie 1/2022  beschreibt einen solchen Patientenfall über 12 Jahre und veranschaulicht, wie wissenschaftliche Erkenntnisse zur Alveolenheilung und zu Implantat-Abutment-Verbindungen genutzt wurden, um stabile periimplantäre Hart- und Weichgewebeverhältnisse zu schaffen.

In keiner anderen Disziplin der Zahnmedizin schreitet die Entwicklung so schnell voran wie in der Implantologie. Ziel der Zeitschrift ist es, dem Fortbildungsangebot im Bereich der Implantologie durch die Veröffentlichung praxisbezogener und wissenschaftlich untermauerter Beiträge neue und interessante Impulse zu geben und die Zusammenarbeit von Klinikern, Praktikern und Zahntechnikern zu fördern. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenlosen Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.

Einleitung

Der funktionelle Erfolg eines Implantats stellt eine Grundvoraussetzung in der dentalen Implantologie dar1. Dazu zählen insbesondere Kau- und Sprechfunktion sowie eine patientenadäquate Hygienefunktion. Im ästhetisch-kritischen Bereich kann darüber hinaus das ästhetische Gesamtbild eine weitere wesentliche Rolle für die Zufriedenheit des Patienten und das Behandlungsergebnis spielen2. Neben der zahntechnischen Ausführung sind langfristig stabile Hart- und Weichgewebe relevante Faktoren bei der Beurteilung des ästhetischen Erfolgs. Zum Wohl des Patienten müssen bei jedweder Therapie Aufwand, Risiko und Nutzen gemeinsam mit dem Patienten gegeneinander abgewogen werden – mit dem Ziel, durch einen geringstmöglichen Aufwand einen maximalen Nutzen bei gleichzeitig geringstmöglichem Risiko zu erzielen. Welchen Einfluss der Zeitpunkt der Implantatbelastung hierbei ausübt, ist wissenschaftlich noch unklar3.

Die vorliegende Fallpräsentation dokumentiert Planung, Durchführung und Langzeitbeobachtung eines Oberkieferfrontzahnimplantats, welches sofortimplantiert und durch eine Sofortversorgung sofortbelastet worden ist, über einen Zeitraum von knapp 12 Jahren.

Falldarstellung

Eine 68-jährige Patientin mit unauffälliger Allgemeinanamnese (Nichtraucherin, leichte Hypertonie mit prophylaktischer Gabe von Acetylsalicylsäure und niedrigdosiertem Candesartan) stellte sich im September 2009 mit einer gelockerten Stiftkrone 12 aus Vollkeramik vor4 (Abb. 1). Nach Abnahme der Krone (Abb. 2) und endodontischer Abwägung und Abklärung prognoserelevanter Faktoren (kurze Wurzel, Revision der zu kurzen Wurzelfüllung erforderlich, ungünstiger Fassreifeneffekt bei gleichzeitig subgingival endenden Frakturlinien, notwendige Kronenverlängerung) wurde gemeinsam mit der Patientin entschieden, dass eine Implantatversorgung die Therapie der Wahl sein soll, zumal beide Nachbarzähne mit suffizienten und ästhetisch ansprechenden Vollkeramikkronen alio loco versorgt worden waren. Zur Abklärung des notwendigen Gesamtaufwandes aus funktioneller und ästhetischer Sicht wurde mit der Patientin über unterschiedliche Möglichkeiten der provisorischen Versorgung sowie deren Vor- und Nachteile gesprochen (festsitzendes versus herausnehmbares Provisorium). Die Wahl fiel auf ein festsitzendes Provisorium. Angesichts der bestehenden Vollkeramikkronen an den Nachbarzähnen und des damit verbundenen Mehraufwandes bei der Befestigung eines Pontics oder einer Adhäsivbrücke wurde beschlossen, das geplante Sofortimplantat mit einem in statischer und dynamischer Okklusion nicht belasteten Sofortprovisorium zu versorgen. Über die damit verbundenen Risiken während der Einheilung wurde die Patientin aufgeklärt.

Bei der Sofortimplantation im Februar 2010 wurde bei entzündungsfreier Gingiva über die noch vorhandene und auf die Wurzel aufgesteckte Vollkeramikkrone eine Minitray-Silikon-Abformung genommen. Nach Infiltrationsanästhesie bukkal und palatinal wurde die verbliebene Wurzel 12 atraumatisch extrahiert, ohne mit den Extraktionsinstrumenten Druck auf die labialen Hart- und Weichgewebe auszuüben5 (Abb. 3). Die Inspektion der Alveole nach schonender Extraktion ergab keine Fenestrations- oder Dehiszenzdefekte. Sie war vollkommen intakt und wurde damit als zur Sofortimplantation geeignet eingestuft6. Nach Aufbereitung des Implantatbohrstollens entlang der palatinalen Alveolenwand wurde ein Titan-Schraubenimplantat (3,5 x 14 mm) mit selbsthemmender konischer Innenverbindung (Ankylos, Dentsply Sirona, Bensheim) 1 mm apikal der vestibulären Knochenlamelle in die Alveole mit einem Eindrehmoment  > 30 Ncm inseriert. In orovestibulärer Richtung wurde das Implantat etwas weiter nach oral inseriert, damit der durch die Extraktion entstehende vertikale Abbau der vestibulären Knochenlamelle (Bündelknocheneffekt)7 durch Augmentation des Spaltraums kompensiert werden konnte8,9 (Abb. 4). Zur Spaltraumaugmentation wurde ein xenogenes Knochenersatzmaterial verwendet (Bio-Oss Spongiosa, Geistlich, Baden-Baden). Nach Beendigung des „chirurgischen Teils der Implantatoperation“ wurde nun im „prothetischen Teil der Implantatoperation“ ein beschleifbarer Kunststoffpfosten aus Polyetheretherketon (PEEK) mit passendem Emergenzprofil ausgewählt und, wo nötig, individualisiert (Abb. 5). Mithilfe der vor Extraktion angefertigten Silikon-Abformung konnte chairside ein Sofortprovisorium erstellt und mit provisorischem Zement auf dem PEEK-Pfosten befestigt werden (Abb. 6). Schließlich wurden alle statischen und dynamischen Okklusionskontakte auf der provisorischen Implantatkrone entfernt. Zusätzlich wurde die Patientin angeleitet, Belastungen jeglicher Art auf der provisorischen Implantatkrone zu vermeiden. Das postoperative Orthopantomogramm10 zeigte ein tief inseriertes, achsengerechtes Implantat ohne Zementüberschüsse (Abb. 7) auf der mesialen oder distalen Seite. Als postoperative Medikation wurden Clindamycin, Ibuprofen und Chlorhexidindigluconat verschrieben. Wundkontrollen erfolgten nach einer und drei Wochen sowie nach zwei Monaten und zeigten keine Besonderheiten.

Fünf Monate nach der Sofortimplantation (Abb. 8) wurde ein digitaler Zahnfilm erstellt (Abb. 9), ­welcher eine regelrechte radiologische Einheilung aufwies. Nach Abnahme der provisorischen Krone und des PEEK-Pfostens erfolgte nach extraoraler Emergenzprofilduplizierung mithilfe eines individualisierten Übertragungspfostens eine druckneutrale Abformung (Abb. 10). Anschließend wurden die provisorischen Komponenten wieder eingesetzt und im zahntechnischen Labor wurde ein vorgefertigter, definitiver Pfosten aus Zirkonoxid so beschliffen und individualisiert, dass der Pfosten drucklos dem Weichgewebetrichter anlag und die Zementiergrenze 1 mm submukosal zu liegen kam. Schließlich wurde eine vollverblendete Vollkeramikkrone auf einem Aluminiumoxid-Gerüst gefertigt (Zahntechnikermeister Hans Schneider und Zahntechnikerin Dr. Christine Drechsler, Dentallabor Schneider, Augsburg). Nach erfolgter Einprobe wurde im Juli 2010 der Pfosten aus Zirkonoxid mithilfe eines Einbringschlüssels mit 15 Ncm im Implantat befestigt (Abb. 11) und die Vollkeramikkrone mit Glas­ionomerzement definitiv zementiert (Abb. 12 und 13). Eine druckbedingte temporäre Anämie blieb aufgrund der druckneu­tralen Abformung aus. Nach Okklusionseinstellung wurde abschließend zur Kontrolle etwaiger approximaler Zementüberschüsse und zur Dokumentation des Knochenniveaus bei Einsetzen der definitiven Versorgung ein digitaler Zahnfilm angefertigt (Abb. 14).

Im Anschluss an die Schlusseingliederung im Juli 2010 wurde die Patientin in einen patienten- und risikospezifischen Recall aufgenommen, mit regelmäßigen Kontrollen und professionellen Zahnreinigungen alle sechs Monate. In unregelmäßigen Abständen wurden zur Kontrolle des periimplantären Knochenniveaus digitale Röntgenzahnfilme angefertigt. Nach vier, sieben und elf Jahren (Abb. 15 bis 17) zeigten sich stabile periimplantäre Knochenverhältnisse. Auch der klinische Zustand der periimplantären Weichgewebe war nach knapp zwölf Jahren nahezu unverändert (Abb. 18 und 19).

Diskussion 

Wann und wie ein Implantat belastet wird, hängt von vielen Faktoren ab, wobei der gewählte Einheilmodus, die Primärstabilität und die gewünschte provisorische Versorgung die bekanntesten Faktoren sind11. Aus weichgewebetechnischer Sicht bietet eine Sofortimplantation mit emergenzprofiltreuer Sofortversorgung den Vorteil, dass sich das periimplantäre Weichgewebe zu keinem Zeitpunkt an ein verändertes Durchtrittsprofil gewöhnen muss. Während bei geschlossener Einheilung eine Anpassung des periimplantären Weichgewebes an ein neues Durchtrittsprofil und – bei Verwendung runder Gingivaformer – eventuell sogar eine weitere Ausformung über ein Zweitprovisorium oder über die definitive Versorgung erfolgen müssen, wird dem Weichgewebe bei einer Sofortversorgung suggeriert, der „Zahndurchtritt“ sei unverändert12. Unzweifelhaft ist dies ein starkes Argument für eine Sofortversorgung/-belastung. Dass im vorliegenden Fall statische und dynamische Okklusion eliminiert worden waren, bedeutet jedoch lediglich, dass bei Okklusionsbewegungen ohne Speise keine Belastung zustande gekommen wäre. Jegliche Art beabsichtigt oder unbeabsichtigt gekauter Nahrung zwischen den Zahnreihen hätte zwangsläufig zu einer vollen Belastung des Implantats geführt. Daher ist auf ausreichende Primärstabilität zu achten13. Wie hoch diese genau zu sein hat, vor allem bezogen auf ein – wie in diesem Fall – schräg axial belastetes Sofortimplantat in der Oberkieferfront, ist ungeklärt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der einsetzende Remodelling-Prozess stets mit einem Nachlassen der gemessenen Primärstabilität einhergeht, sodass eine potenzielle Stabilitätslücke vor Ausbildung der Sekundärstabilität nie ausgeschlossen werden kann14. Insofern ist diesbezüglich eine genaue Instruktion des Patienten wichtig, vor allem mit dem Wissen, dass bei nachlassendem Schmerzempfinden die Erinnerung an eine Schonung des Operationssitus nachlassen kann. Patienten- und knochenspezifische Faktoren mögen dabei genauso eine Rolle spielen wie die Makrostruktur des Implantatkörpers. Der momentan beobachtbare Trend zu „aggressiveren“ Gewinden versucht wahrscheinlich diesem Umstand Rechnung zu tragen15. In dieser Falldarstellung kam kein „aggressives“ Gewinde zum Einsatz, sondern ein eher passives Gewinde, das bei hartem Knochen sogar eines Gewindevorschnitts bedarf.

Der vorliegende Fall weist über fast zwölf Jahre stabile Weichgewebe auf, obwohl weder während der Implantation noch während oder nach der Freilegung weichgewebige Zusatzeingriffe zur Gewebeverdickung wie Bindegewebetransplantate oder Rolllappen vorgenommen worden sind. Solche Maßnahmen werden in der ästhetischen Zone oft propagiert, um mittelfristig einer Rezession oder einem Durchschimmern von Implantat oder Abutment vorzubeugen16. Zwei Faktoren könnten im vorliegenden Fall dafür gesorgt haben, dass es trotz nicht stattgehabter artifizieller Weichgewebeverdickung nicht zu einem weichgewebigen Defizit kam: die Kompensation des Bündelknocheneffekts und eine tief subkrestale Implantatpositionierung.

Das Wissen um den Bündelknocheneffekt nach Extraktion7, die damit verbundene Oralpositionierung von Implantaten in Alveolen der ästhetischen Zone17 und die nachfolgende Spaltauffüllung bei Sofortimplantation8,9 haben es Behandlern in den vergangenen Jahren leichter gemacht, den vestibulären Knochen und damit die Stütze der periimplantären Mukosa im sichtbaren Bereich stabil zu halten. Alternative Vorgehen zur Vermeidung des Bündelknocheneffekts im Rahmen der PET („Partial extraction therapy“), wie etwa die Socket-Shield-Technik, erscheinen wesentlich techniksensitiver im Vergleich zur kompletten Entfernung des Zahnes18,19 und engen das Indikationsspektrum ein, weil das verbleibende Wurzelfragment keine patholo­gischen Veränderungen aufweisen darf.

Implantate subkrestal zu inserieren (im vorliegenden Fall 1 mm apikal der vestibulären Knochenlamelle und damit ca. 3 mm subkrestal der approximalen Lamellen) erfordert dichte Implantat-Abutment-Verbindungen, da es ansonsten zu ungewünschten mikrospaltassoziierten Knochenverlusten kommen kann. Die daraus resultierenden schüsselförmigen Defekte von bis zu 1,5 mm können im vestibulären Bereich implantatsystembedingte Rezessionen verursachen20,21. Dies bedeutet, dass das ursprüngliche Ansinnen, ein Durchschimmern von Titankomponenten durch tiefere Implantatinsertion zu verhindern, sich doppelt negativ auswirken kann, wenn durch mikrospaltbedingten Knochenabbau das Durchschimmern noch verschlimmert wird und gar weichgewebige Rezessionen resultieren. So gesehen erleichtern es dichtere Implantat-Abutment-Verbindungen im Umkehrschluss in zweierlei Hinsicht, die Ästhetik vestibulärer Weichgewebe um Implantate zu verbessern: Die subkrestale Implantatinsertion kaschiert ein unerwünschtes Durchschimmern von Implantat- oder Abutmentmaterialien und fördert bei mikrobewegungsarmen und bakteriendichten Verbindungen zeitgleich den Knochenneuanbau auf der Implantatschulter und am Mikrospalt und damit eine langfristige Weichgewebeunterstützung.

Eine adäquate Mundhygiene und ein risiko­adaptierter Recall sind weitere wesentliche Faktoren für die Langzeitstabilität periimplantärer Hart- und Weichgewebe22. Beides war im vorliegenden Fall gegeben. Die Patientin war in den vergangenen zwölf Jahren zweimal jährlich zur Kontrolle und professionellen Zahnreinigung vorstellig. Unter Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Alveolenheilung (Bündelknocheneffekt) und zur Implantat-Abutment-Verbindung wurde mit minimalem chirurgischem Aufwand trotz des Risikos eines sofortbelasteten Einzelsofortimplantats in der ästhetischen Zone ein für die Patientin funktionell und ästhetisch maximal zufriedenstellendes Ergebnis erzielt.

Ein Beitrag von PD Dr. Dietmar Weng, Kiel

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Reference: Implantologie