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Mögliche Ursache für Eruptionsstörungen bleibender Zähne – Zusammenarbeit von Chirurg und Kieferorthopäde wichtig

Das komplexe Odontom gehört nach der WHO-Klassifikation von 2017 den odontogenen und maxillofazialen Knochentumoren an. Odontogene Tumoren treten selten auf und werden meist im Zusammenhang mit einer Eruptionsstörung diagnostiziert. Das Fallbeispiel zeigt das erfolgreiche Therapieergebnis einer gelungenen interdisziplinären Zusammenarbeit von Oralchirurgie und Kieferorthopädie.

Die „Quintessenz Zahnmedizin“, Monatszeitschrift für die gesamte Zahnmedizin, ist der älteste Titel des Quintessenz-Verlags, sie wurde 2019 wie der Verlag selbst 70 Jahre alt. Die Zeitschrift erscheint mit zwölf Ausgaben jährlich. Drei Ausgaben davon sind aktuelle Schwerpunktausgaben, die zusätzlich einen Online-Wissenstest bieten mit der Möglichkeit, Fortbildungspunkte zu erwerben. Abonnenten erhalten uneingeschränkten Zugang für die Online-Version der Zeitschrift und Zugang zur App-Version. Mehr Infos, Abo-Möglichkeit sowie ein kostenloses Probeheft bekommen Sie im Quintessenz-Shop.

Wissensstand zu Odontomen

Von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden Odontome in der Rubrik der benignen Tumoren aufgelistet4. Mit einem Anteil von ca. 22 % zählen sie zu den häufigsten odontogenen Tumoren2,3,24,25. Diese gutartigen Anomalien werden meistens als radiologischer Zufallsbefund diagnostiziert, was überwiegend bei Patienten bis zu 20 Jahren vorkommt, bei denen der Retention von Zähnen der ersten und zweiten Dentition radiologisch nachgegangen wird6,11,14,25. Im klinischen Bild imponieren Knochenauftreibungen, Zahnfehlstellungen und die bereits erwähnte Retention von Zähnen. Der ausbleibende Durchbruch eines Zahnes, welcher somit nicht zeitgerecht erfolgt, wird vornehmlich durch eine nicht achsengerechte Durchbruchsrichtung der Zahnanlage oder einen Platzmangel verursacht. Im vorliegenden Fall verhinderte ein Odontom den Durchbruch des Zahnes 37.

Odontome sind überwiegend aus dentalen Ge­we­beformationen von Dentin, Schmelz, Zement sowie Pulpa aufgebaut5 und werden histologisch in zwei Typen unterteilt: zusammengesetzte bzw. Verbund­odontome (WHO-Tumorhistologieschlüssel ICD-O 9281/0) und komplexe Odontome (WHO-Tumorhistologieschlüssel ICD-O 9282/0). Verbund­odontome sind meist im Frontzahnbereich des Oberkiefers lokalisiert. Sie kommen etwa doppelt so häufig wie komplexe Odontome vor und bestehen aus zahlreichen zahnähnlichen Rudimenten25. Der Unterkiefermolarenbereich bildet die Prädilektionsstelle der Odontome vom komplexen Typ7,18,22,25. Sie haben keinen klaren Aufbau und bestehen aus einem polymorphen Gemisch von dentalen Hart- und Weichgeweben.

Die Ätiologie ist nicht eindeutig geklärt, doch gibt es Indizien dafür, dass Traumata während der ersten Dentition, Infektionen und die genetische Prädis­position eine Rolle spielen2,13,20. Tomizawa et al.22 kamen nach Auswertung zahlreicher Studien zu dem Ergebnis, dass keine geschlechtsabhängige Prädisposition besteht15. Die vollständige chirurgische Enukleation mit einer anschließenden histopathologischen Untersuchung ist die Therapie der Wahl2,11,14,24.

 

Fallbericht

Ausgangssituation: Radiologischer und klinischer Befund

Da bei einer Patientin im Alter von 13 Jahren der zweite Molar im linken Unterkiefer nicht durchgebrochen war, entschied ihr Hauszahnarzt, zur radiologischen Diagnostik eine Panoramaschichtaufnahme anzufertigen. In dieser Aufnahme wurde eine Raumforderung als scharf begrenzte Opazität mit einem transluzenten Randwall in Regio 37/38 festgestellt (Abb. 1). Es handelte sich um einen symptomlosen, schmerzfreien Zustand. Diese Veränderung schien ursächlich für die ausbleibende Dentition des Zahnes 37 zu sein.

Die Patientin wurde mit der Bitte um „Abklärung der Struktur um den retinierten Zahn 37“ an die Frankfurter Poliklinik für Zahnärztliche Chirurgie und Implantologie überwiesen. Das Mädchen wies einen altersentsprechenden, unauffälligen Allgemein- und Ernährungszustand auf. Im Molarenbereich des linksseitigen Unterkiefers bestand eine leichte, nicht druckdolente Schwellung. Das Vestibulum war nicht verstrichen. Bei der Palpation gab die Patientin keine Schmerzen an.

Für die weitere Therapieplanung erfolgte eine dreidimensionale Röntgendiagnostik in Form einer digitalen Volumentomographie (KaVo 3D eXam, Fa. KaVo Dental, Biberach), um die genaue Ausdehnung und die Beteiligung umliegender Strukturen zuverlässig bewerten zu können. Es imponierte eine mesiodistal ca. 3 cm, krestal-basal ca. 2 cm und orovestibulär ca. 1 cm große runde, scharf abgegrenzte Opazität. Röntgenologisch zeigte sich innerhalb des umschriebenen Bereichs eine inhomogene, ungleichmäßige wolkige Verschattung.

Die Neoplasie war von einem ca. 0,5 mm starken zirkulären strahlendurchlässigen Saum umgeben. Hierbei handelte es sich um die bindegewebige Kapsel, die zu der Krone des ektopen verlagerten Zahnes Kontakt hatte. Die Kontinuität des Unterkieferrandes war in Regio 37 nicht unterbrochen. Die zahndichte Opazität in der Region des anterioren Kieferwinkels ragte mit ihrem koronalen Anteil in die anfangs beschriebene polymorphe, rundliche Struktur. Das Foramen apicale war größer als 1,3 mm, was ein Anzeichen für ein noch nicht abgeschlossenes Wurzelwachstum ist. Der Canalis mandibularis verlief in oraler Position auf Höhe der Schmelz-Zement-Grenze des ektopen Zahnes Regio 37 (Abb. 2 und 3).

Behandlung

Die Behandlungsplanung wurde im Vorfeld mit der Frankfurter Poliklinik für Kieferorthopädie abgestimmt. Nach Aufklärung der Patientin und ihrer Eltern erfolgte der Eingriff auf deren ausdrücklichen Wunsch unter Intubationsnarkose. In Intubationsanästhesie und Lokalanästhesie (UDS 1:200.000, Fa. Sanofi-Aventis Deutschland, Frankfurt/M.) wurde die Schnittführung entlang dem aufsteigenden Unterkieferast unter Knochenkontakt auf der Linea obliqua mandibulae (Abb. 4) und marginal an den Zähnen 35 und 36 durchgeführt. Nach Bildung eines Mukoperiostlappens und Darstellung des Knochens (Abb. 5) erfolgte die Abtragung des dünnen, leicht aufgewölbten Knochendachs mit einer Kugelfräse. Für die histopathologische Untersuchung wurde das ganze polymorphe Tumorgewebe gewonnen (Abb. 6 und 7). Da der Verlauf des Canalis mandibulae vor dem Eingriff ermittelt worden war, konnte das Risiko einer iatrogenen Schädigung minimiert werden.

Intra operationem wurden mittels Schmelz-Ätz-Technik (Ortho Solo Universal Bond, Fa. Ormco Corporation, Glendora, USA) und mit einem lichthärtenden Bandkleber (Transbond 3M Unitek, Fa. 3M Deutschland, Neuss) zwei kieferorthopädische Brackets mit einer Zugkette im okklusalen Kronenbereich des verlagerten Zahns befestigt (Abb. 8). Der anatomische Äquator des impaktierten Zahns wurde mit rotierenden Kugelfräsen unter permanenter Kühlung vollständig vom umliegenden Knochen befreit, damit eine forcierte Extrusion nicht behindert wird.

Wichtig war es, die entstandene knöcherne Läsion als Leitpfad für den zu mobilisierenden Zahn durch einen Obturator offen zu halten. Hierzu erfolgte noch intra operationem eine Defektabformung (Abb. 9). Für die provisorische Versorgung bis zur Eingliederung des Obturators wurde die Kavität mit einem mit Furacin-Sol 0,2 % (Fa. Riemser Pharma, Greifswald – Insel Riems) beschickten Gazestreifen austamponiert (Abb. 10). Eine post operationem angefertigte halbseitige Panoramaschichtaufnahme diente zur Darstellung der aktuellen Situation (Abb. 11). Die Patientin und ihre Eltern erhielten Hinweise bezüglich des postoperativen Verhaltens und der Mundhygiene. Zusätzlich zum Zähneputzen kam zunächst eine 0,1%ige Chlorhexidindigluconatlösung zur Anwendung.

Bei der Nahtentfernung sieben Tage post operationem wurde der im zahntechnischen Labor angefertigte Obturator eingesetzt (Abb. 12) und die Patientin über dessen Gebrauch instruiert. Die kieferorthopädische Kette wurde mit Gummielastics (Powerfäden) an der Teilbogen-Bracketapparatur angebunden und aktiviert. Bei der kieferorthopädischen Apparatur erfolgten in regelmäßigen Abständen Kontrollen und eine Aktivierung auf Zug (Abb. 13). Die Ausdehnung des Obturators erfuhr während der Behandlung mehrmals eine Reduktion, um den Weg für die krestale Bewegung des Zahnes zu ermöglichen. Analog zur Zahnbewegung wurde auch die Kettenlänge reduziert.

Etwa zwölf Monate post operationem konnte auf den Obturator verzichtet werden (Abb. 13). Wird kein Obturator eingesetzt, ist das Risiko einer erneuten Impaktierung hoch. Mehrere Freilegungen wären notwendig. Nach erfolgreicher Einordnung des Zahnes in die neutrale Okklusionsposition wurde der Zustand über einen lingual fixierten Retainer von Zahn 37 bis Zahn 47 gesichert. Das Behandlungs­ergebnis war sowohl funktionell als auch ästhetisch ein Erfolg (Abb. 14 und 15).
 

Histologischer Befund und Diagnose

Die histopathologische Begutachtung durch das Labor OptiPath dokumentierte Reste von Schmelz und dysplastischem Dentin ohne erkennbare Ordnung, so dass abschließend ein komplexes Odontom als Durchbruchshindernis des Zahnes diagnostiziert werden konnte (Abb. 16). Im Gegensatz zum Verbundodontom  besteht das komplexe Odontom aus unregelmäßigen und desorganisierten, aber regelhaft ausdifferenzierten Zahnbestandteilen wie Dentin, Schmelz, Zement und Gewebe der Zahnpulpa, welche von einer Kapsel aus unreifem Bindegewebe mit Strängen oder Inseln aus ameloblastischem Epithel umgeben sind.

Diskussion

Odontome werden von der WHO aufgrund der gebildeten Matrix als odontogene epitheliale Tumoren mit odontogenem Ektomesenchym mit oder ohne Hartsubstanzbildung10 typisiert. Sie können für Erup­tionsstörungen der Milchzähne und der Dentes permanentes ursächlich sein. Katz14 untersuchte 396 Fälle von unterschiedlichen Odontomen in allen Altersgruppen und kam zu dem Ergebnis, dass 41 Prozent dieser Anomalien in unmittelbarem Zusammenhang mit Eruptionsstörungen standen. In der Literatur werden Odontome mit einem Durchmesser von wenigen Millimetern bis hin zu mehreren Zentimetern beschrieben2,21,23,24. Häufig handelt es sich bei der Dia­gnose eines solchen Geschwulstes um einen rönt­genologischen Zufallsbefund2,8. Odontome werden radiologisch anhand des Kalzifizierungsgrades in mehrere Stadien eingeteilt6,9,11,25. Eine vorherrschende kalzifizierte Struktur mit rudimentären Zahn­elementen ließ sich erst bei Heranwachsenden im Alter von mehr als 6 Jahren feststellen3. Komplexe und zusammengesetzte Odontome werden überwiegend in den ersten beiden Lebensdekaden diagnostiziert. Eine Geschlechtsspezifität ist nicht beschrieben13,19.

Differenzialdiagnostisch sollten insbesondere beim komplexen Odontom die kalzifizierende Zyste, ein Osteom und ein Zementom in Erwägung gezogen werden. Auch das ameloblastische Odontom könnte in Betracht kommen2,8. Es enthält neben dem klassischen Aufbau eines Odontoms epitheliale Stränge wie das ameloblastische Fibrom und lässt sich nur histologisch nachweisen1. Eine histopathologische Untersuchung der entnommenen Gewebeproben ist obligat.

Die Therapie für alle Odontome besteht in der chirurgischen Enukleation. Es ist Konsens, retinierte Milchzähne zu entfernen, wohingegen permanente Zähne nach Möglichkeit erhalten werden sollten. Im Anschluss an die Freilegung impaktierter Zähne lässt sich häufig eine spontane Eruption beobachten13,17. Wie auch das hier präsentierte Fallbeispiel zeigt, ist die kieferorthopädische Mobilisation und Einordnung eine prognostisch sichere Therapieoption. Ein passender Obturator stellt eine nicht invasive Lösung dar und erspart dem Patienten Nachopera­tionen. Vereinzelt werden auftretende Odontomrezidive beschrieben12. Ihnen liegt meist eine unvollständige Exkochleation des Tumorgewebes zugrunde. Odontome früher Entwicklungsstadien weisen nicht kalzifizierte Anteile auf, bei welchen das Risiko einer Persistenz besteht. Solche Gewebereste können für Rezidive verantwortlich sein2,16,23. Im beschriebenen Fall konnte auch 3 Jahre post operationem kein Anhaltspunkt für eine Rezidivierung beobachtet werden (Abb. 17 und 18).

 

Fazit

Der vorliegende Fall zeigt exemplarisch, wie eine erfolgreiche interdisziplinäre Zusammenarbeit von Oralchirurgie und Kieferorthopädie bei verlagerten Zähnen aussehen kann. Bei Eruptionsstörungen bleibender Zähne als Folge eines Odontoms stellt nach chirurgischer Entfernung die kieferorthopädische Einordnung des Zahnes eine adäquate und prognostisch sichere Therapieoption dar21.

Danksagung

Die Autoren bedanken sich für die Mitbetreuung der vorgestellten Patientin bei Dr. Desi Stanchev (KFO).

Ein Beitrag von Dr. Puria Parvini, Frankfurt, Prof. Dr. Frank Schwarz, Frankfurt, Prof. Dr. Robert Sader, Frankfurt, Dr. Oksana Petruchin, Frankfurt, Dr. Alexander Uhse, Frankfurt, Daniel Simon, Bad Homburg, Dr. Manuel Niederhagen, Frankfurt, und Dr. Karina Obreja, Frankfurt

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Quelle: Quintessenz Zahnmedizin 2/19 Interdisziplinär Kieferorthopädie Chirurgie