Ziel: Die traditionelle Scharnierachsentheorie zur Beschreibung der Kiefergelenkbiomechanik wird zunehmend durch die Theorie der ICR (instantaneous centers of rotation; deutsch: Momentandrehpunkte) ersetzt. Die Bestimmung der ICR basiert dabei bisher meist auf theoretischen Berechnungen oder dreidimensionalen Approximationen durch Finite-Elemente-Modelle.
Material und Methoden: Durch die Anwendung der neuartigen Echtzeit-MRT-Technik können die physiologischen Kiefergelenkbewegungen mit 15 Bildern pro Sekunde visualisiert werden. In der vorliegenden Studie wurde dieses Verfahren genutzt, um die Kiefergelenkbiomechanik funktionsgesunder Probanden im Hinblick auf die horizontalen Kondylenbahnneigungswinkel (HCI) sowie ICR-Pfade zu untersuchen. Zum statistischen Vergleich der ICR-Pfade der Kieferöffnung und des Kieferschlusses wurde der Wilcoxon-Rangsummentest verwendet.
Ergebnisse: Der durchschnittliche HCI betrug 34,8° (±11,3°) und die mittlere Rotationsbandbreite der Mandibula lag bei 26,6° (±7,2°). Die ICR-Koordinaten während des Öffnens und Schließens des Unterkiefers unterschieden sich innerhalb der Bewegung von 10° bis 30° signifikant (10° bis 20°, x: p = 0,02; y: p < 0,01; 20° bis 30°, x: p < 0,001; y: p = 0,01). Die Mandibula-Rotation von 0° bis 10° sowie Rotationen größer 30° zeigten hingegen keine signifikanten Unterschiede in der x- und y-Translation. Okklusionsnahe Kieferbewegungen unterschieden sich lediglich bei der y-Translation (p < 0,01).
Schlussfolgerungen: Das Echtzeit-MRT-Verfahren erlaubt die direkte Darstellung der relevanten anatomischen Gelenkstrukturen während der physiologischen, habituellen Kieferbewegung. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bestätigen die Theorie der ICR. Die statistische Analyse der vorliegenden Studie zeigt, dass Kieferöffnung und Kieferschluss verschiedene ICR-Pfade aufweisen, was durch unterschiedliche Muskelaktivierungen erklärt werden könnte. Während der maximalen Mundöffnung (MMO) und in Okklusionsnähe (ON) unterschieden sich die ICR-Pfade nicht signifikant, was auf die begrenzte Dehnbarkeit von Gewebefasern (MMO), beziehungsweise auf die Führung der Okklusalflächen (ON) zurückzuführen sein könnte. (Originalartikel publiziert im Int J Comput Dent 2020;23:
235–244).
Schlagwörter: Kiefergelenk, Unterkieferbewegungen, Biomechanik, Echtzeit-MRT, Momentandrehpunkte, ICR