Polytraumata – viele schwere Verletzungen – treten vor allem nach Unfällen im Straßenverkehr, aber auch beim Sport, in der Freizeit sowie bei Bränden auf. Jeder vierte Patient hat massive Verletzungen im Gesichtsbereich. Die Deutsche Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie e.V. (DGMKG) betont deshalb in der neuen S3-Leitlinie „Intensivmedizin nach Polytrauma“, dass bei solchen Verletzungen unbedingt Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen einbezogen werden müssen – und zwar bereits zu Beginn der Primärversorgung.
Die DGMKG war als eine von 25 Fachgesellschaften an der Konzeption der neuen Leitlinie unter der Führung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) beteiligt. Bis zur Herausgabe der Leitlinie gab es keine adäquate Handlungsempfehlung für die Behandlung von Schwerstverletzten nach Unfällen.
Verletzungen an mehreren Körperregionen oder Organsystemen
„Wir sprechen von einem Polytrauma, wenn ein Patient gleichzeitig Verletzungen an mehreren Körperregionen oder Organsystemen hat, wobei mindestens eine der Verletzungen oder eine Kombination aus zwei Verletzungen lebensbedrohlich ist“, erklärt PD Dr. Dr. Rüdiger Zimmerer, DGMKG-Experte und Leitender Oberarzt und Stellvertretender Klinikdirektor der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie am Universitätsklinikum Tübingen. Es gibt unterschiedliche Polytraumata, wobei im MKG-chirurgischen Bereich vor allem Frakturen (Brüche) der Gesichtsschädelknochen vorliegen. Hierzu zählen Frakturen des Mittelgesichts mit Brüchen im Bereich der Jochbeine, Augenhöhlen, Nase und der Stirn, sowie Frakturen des Unterkiefers und der Kiefergelenke. Häufig liegen zusätzlich schwere Verletzungen der Gesichtsweichteile oder der Zähne vor.
Unfall- und Neurochirurgen an Leitlinie beteiligt
„Die neue S3-Leitlinie gibt Empfehlungen zur intensivmedizinischen Behandlung von Polytrauma-Patienten nach der Akutversorgung – hier bestand dringend Handlungsbedarf“, so Zimmerer, der für die DGMKG an der Entwicklung der Leitlinie beteiligt war. „Die Leitlinie definiert die einzelnen Handlungsschritte für die behandelnden Ärzte. Eine solche Handlungsempfehlung gab es zuvor noch nicht. Neben MKG-Chirurgen waren beispielsweise Unfall- und Neurochirurgen an der Entwicklung der Leitlinie beteiligt.“ Nach initialer Stabilisierung und Notfallversorgung des Patienten im Schockraum oder der Notaufnahme werden die Patienten häufig auf die Intensivstationen verlegt. Von dort aus wird dann die Behandlung der verschiedenen Teildisziplinen koordiniert. Die Leitlinie setzt genau hier an, indem sie empfiehlt, wann welche Teildisziplinen zum Einsatz kommen. Spezialisten klären dann, wann und wie die unterschiedlichen Verletzungen behandelt werden sollen.
Kliniken mit MKG-Fachabteilungen gefragt
„Wie unser Alltag an den Unikliniken zeigt, müssen Schwerstverletzte mit Gesichtsverletzungen unbedingt in speziell ausgerichteten Kliniken mit MKG-Fachabteilungen behandelt werden“, betont Zimmerer die Sicht der DGMKG. Ansonsten könnten beispielsweise Gesichtsschädelfrakturen und Zahnverletzungen im ersten Behandlungsschritt übersehen oder nicht adäquat versorgt werden; eine verzögerte Behandlung kann dann aufwendiger sein als die Primärversorgung oder im schlimmsten Fall ein schlechteres Ergebnis bedeuten. „Wir erleben solche Situationen beispielsweise dann, wenn polytraumatisierte Patienten nicht von Beginn an durch eine Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen initial untersucht und dann im Verlauf betreut werden können“, so der DGMKG-Experte. Die neue Leitlinie betont, wie wichtig die Koordination der einzelnen Fachdisziplinen ist und gibt erstmals auch Empfehlungen für den optimalen Operationszeitpunkt der einzelnen chirurgischen Fächer. Für die Zukunft seien allerdings noch mehr Studien und valide Daten dazu wünschenswert, die Informationen zum idealen Operationszeitpunkt von Frakturen nach Polytraumata geben können.