Die Zunahme von Fettsucht bei Kindern übertrifft alle früheren Annahmen und ist zu einer dramatischen Bedrohung ihrer Gesundheit geworden. Übergewicht und Adipositas haben epidemische Ausmaße angenommen und müssen von Gesellschaft und Politik konsequenter als bisher bekämpft werden, fordert die Stiftung Kindergesundheit in einer aktuellen Stellungnahme.
„Die Häufigkeit von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen hat in den vergangenen 40 Jahren um mehr als das Achtfache zugenommen! Das hat enorme Konsequenzen für die Gesundheit der betroffenen Kinder“, berichtet Prof. Berthold Koletzko, Stoffwechselexperte der Universitätskinderklinik München und Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit. Die bestürzende Zahl stammt aus einer kürzlich publizierten Analyse von 416 Studien mit mehr als 160 Millionen Kindern und Jugendlichen aus 200 Ländern. Danach hat der Anteil der fettsüchtigen Mädchen von 0,7 Prozent im Jahr 1975 auf 5,6 Prozent im Jahr 2016 und bei Jungen von 0,9 Prozent auf 7,8 Prozent zugenommen.
Nach den für Deutschland repräsentativen Daten der großen bundesweiten Erhebung KiGGS sind hierzulande 15 Prozent der 3- bis 17-jährigen Kindern übergewichtig und 6,3 Prozent adipös, also regelrecht fettsüchtig. Übergewicht und Fettsucht im Kindesalter haben jedoch erhebliche Folgen für die Gesundheit bis in das Erwachsenenalter und sind mit einer deutlich verkürzten Lebenserwartung verbunden, stellt die Stiftung Kindergesundheit fest.
Gefährlicher als Krebs
„Übergewicht ist mehr als Babyspeck, Posaunenengel leben gefährlich“, sagt Koletzko. Die Liste möglicher gesundheitlicher Folgen von Übergewicht und Adipositas ist lang. Sie reicht von Diabetes, Bluthochdruck, Herzinfarkt und Schlaganfall über Leberzirrhose, Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems und bestimmte Krebsarten bis zu psychischen Belastungen, einer beeinträchtigten Leistungsfähigkeit und Depressivität.
Nach aktuellen Studien erhöht sich bei fettsüchtigen Jugendlichen im Vergleich zu Gleichaltrigen mit Normalgewicht im Laufe der nächsten vierzig Jahre ihres Lebens das Risiko für den Tod um das 4,9-fache und für den Tod durch alle Herz-Kreislauf-Ursachen um das 3,5-fache. Im Vergleich zu normalgewichtigen Kindern haben übergewichtige Jugendliche außerdem ein 1,4-fach und Adipöse ein 2,5-fach erhöhtes Risiko für psychische Auffälligkeiten. Übergewicht bei jungen Erwachsenen verkürzt ihr Leben um 2,5 Jahre, bei einer Adipositas leichten Grades um knapp sechs Jahre, bei schwerer Fettsucht sechs bis acht Jahre. Koletzko: „Das bedeutet, dass eine schwer ausgeprägte Adipositas das Leben stärker verkürzt als manche bösartige Erkrankung“.
Risikofaktor zuckerhaltige Getränke
„Das verwächst sich“, hoffen manche Eltern von dicken Kindern. Eine trügerische Hoffnung, so Koletzko: „Leidet ein Kind oder ein Jugendlicher unter Adipositas, wird sich sein Gewicht später in aller Regel nicht wieder normalisieren. Ein dickes Kind wird nicht schlank“.
Die Ursachen für die Fettsucht-Epidemie sind vielfältig, so die Stiftung Kindergesundheit. Eine verführerische Werbung, leicht zugängliche Lebensmittel und süße Getränke, die massive Nutzung von Bildschirmmedien, Smartphones und Handys und der damit verbundene Mangel an Bewegung begünstigen die Entstehung von Übergewicht und Adipositas.
Es zeigt sich immer deutlicher, dass zuckerhaltige Getränke ein eigenständiger Risikofaktor für eine übermäßige Gewichtszunahme sind, konstatiert die Stiftung Kindergesundheit. Sie empfiehlt: Kinder sollten schon von klein auf an das Wasser trinken gewöhnt werden. Zuckerhaltige Getränke, zum Beispiel Limonade, Cola-Getränke, gesüßte Tees oder Eistees, Fruchtsäfte, Fruchtnektare oder Fruchtsaftschorlen sollten die Ausnahme bleiben und nicht die Regel.
In Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche jeden Alters sollten keine zuckerhaltigen Getränke angeboten werden. Gleichzeitig sollten Kinder, Eltern und Betreuende Kenntnisse und praktische Kompetenz zu Getränken, Ernährung und Gesundheit erhalten.
Wasserspender helfen beim Abnehmen
„Dass dies tatsächlich gelingen kann, zeigt beispielsweise das von der Stiftung Kindergesundheit entwickelte Kindergartenprogramm TigerKids mit seinen einfachen und praktischen Elementen“, unterstreicht Professor Berthold Koletzko. Bei diesem Projekt wird in der Kita eine Trinkstation eingerichtet, an der Wasser und zuckerfreie Tees angeboten werden. Zudem bereiten die Kinder sich selbst Obstteller mit klein geschnittenem Gemüse und Obststückchen zu. Der Erfolg zeigt sich schon nach kurzer Zeit: Für die Vorschulkinder wird es zur Gewohnheit, selbstverständlich und regelmäßig Wasser zu trinken und Gemüse und Obst zu essen. Die Gewöhnung der Kinder an das gesundheitsförderliche Verhalten führt dann auch zu Hause zu einem häufigeren Verzehr von Gemüse, Obst und Wasser und einem Rückgang des Konsums gezuckerter Getränke.
Ein weiteres Beispiel lieferte die in Nordrhein-Westfalen durchgeführte TrinkFit-Studie: Grundschulkinder erhielten eigene Trinkflaschen und konnten sich an einem Wasserspender jederzeit mit gesprudeltem oder stillem Trinkwasser versorgen. Allein die Aufstellung von Wasserspendern führte zum Trinken von mehr Wasser und weniger zuckerhaltigen Getränken und schon nach einem Schuljahr zu einer um 31 Prozent geringeren Häufigkeit von Übergewicht als in den Kontrollschulen.
Werbung für Chips und Snacks macht dick
Die an Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel im Fernsehen und durch die sozialen Medien beeinflusst nachweislich die Bevorzugung, den Kauf und Verzehr von unausgewogenen und dickmachenden Produkten, wie Cola, Chips und süßen Snacks. Die Zusage einiger großer Unternehmen, die an Kinder unter zwölf Jahren gerichtete Werbung freiwillig zu begrenzen, erwies sich als Augenwischerei.
„Eine Studie in den USA zeigte, dass die von Unternehmen ausgelobte freiwillige Selbstbeschränkung der Werbung an Kinder nicht effektiv war“, betont Koletzko. „Die Vorschulkinder sind deshalb weiterhin täglich der Werbung für ungesunde Lebensmittel in Kinderprogrammen ausgesetzt“.
Die bisherigen Versuche zur besseren Aufklärung über gesundes Essen und Trinken erwiesen sich auch hierzulande als weitgehend vergebens. Die Ernährungswirtschaft wehrt gesetzliche Regulierungen durch ihre Lobbyarbeit erfolgreich ab. Entgegen einer Forderung der Weltgesundheitsorganisation schreibt der Gesetzgeber in Deutschland weder die Bewertung der Nährstoffe noch eine einheitliche Kennzeichnung der Lebensmittelqualität durch einfache Symbole vor. Die Selbstverpflichtungen der Hersteller funktionieren nicht oder entpuppen sich sogar als Mogelpackung. Es wird höchste Zeit für strengere gesetzliche Regelungen, für eine klare und verständliche Kennzeichnung von Lebensmitteln und für ihre wirksame amtliche Überwachung, betont die Stiftung Kindergesundheit mit Nachdruck.
Strengere Regeln dringend erforderlich
Auch die sinnvollsten Einzelmaßnahmen reichen nicht aus, um die unheilvolle Entwicklung aufzuhalten, unterstreicht die Stiftung Kindergesundheit. Wissenschaft, Gesellschaft und Politik müssen zusammenarbeiten, um die dickmachende Lebenswelt der Kinder zu verändern. Die wichtigsten Schritte dazu sind:
- Konsequente Förderung des Stillens
- Begrenzung des hohen Zuckerkonsums durch Aufklärung und gesetzgeberische Maßnahmen
- Förderung des Wasserkonsums durch Besteuerung stark gezuckerter Getränke
- Einschränkung der an Kinder gerichteten Werbung in Massenmedien und in den sozialen Medien des Internets
- Eine einfache und allgemeinverständliche Kennzeichnung von Lebensmitteln, damit der Verbraucher die besseren Produkte schnell erkennen kann (in Schweden oder Frankreich bereits mit Erfolg eingeführt).
„Wichtig sind auch regelmäßige Bewegungsaktivitäten in Kitas, Schulen und in der Freizeit“, unterstreicht Koletzko. „Kinder und Jugendliche sollten sich mindestens 90 Minuten am Tag bewegen. Die Eltern sollten außerdem die Nutzung audiovisueller Medien ihrer Kinder auf höchstens zwei Stunden am Tag begrenzen“.
Die Bekämpfung der Fettsuchtepidemie ist auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten dringend notwendig, betont die Stiftung Kindergesundheit. Die künftig entstehenden zusätzlichen Kosten bei deutschen Kindern mit Übergewicht und Fettsucht belaufen sich auf 4.209 Euro bei Männern und 2.445 Euro bei Frauen. Daraus resultieren für diese heutige Gruppe von Betroffenen zusätzliche Lebenszeitkosten von 145 Milliarden Euro.