„Der Corona-Käpt’n geht von Bord.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Prof. Roland Frankenberger nach zwei gehaltvollen und abwechslungsreichen Kongresstagen als DGZMK-Präsident und übergab den Staffelstab an seinen Nachfolger Prof. Dr. Dr. Jörg Wiltfang. Zwischen der Begrüßung am Freitagmittag zum Wissenschaftlichen Kongress des Deutschen Zahnärztetags und der letzten Session am Samstagnachmittag lagen Vorträge zu ganz unterschiedlichen Fragestellungen, die alle eine Gemeinsamkeit hatten: Sie sollten den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Themen und Trends auch jenseits des zahnmedizinischen Mainstreams vorstellen, einordnen, Denkanstöße geben – dem Kongressmotto: „Kritisch hinterfragt: Biologie – Ethik – Sport“ folgend.
Mehr als 800 Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten sich für die beiden Kongresstage des Online-Kongresses registriert. Das von Frankenberger als Wissenschaftlichem Leiter des Kongresses verantwortete und mit dem Kongresskomitee von DGZMK, Landeszahnärztekammer Hessen, Bundeszahnärztekammer und Quintessenz-Verlag gestaltete Programm hatte es in sich. Ergänzt wurde es von praxisnahen Beiträgen der Premium Partner des Deutschen Zahnärztetags, die Themen wie die Verträglichkeit von Gewebeersatzmaterialien, Wirtschaftlichkeitsprüfungen, digitale Anwendungen zum Nutzen der Patienten, die Vorbereitung der Praxisabgabe oder nachhaltige Hygiene diskutierten.
Zahnmedizin-Kodex angekündigt
BZÄK-Präsident Prof. Christoph Benz ermutigte die Zahnärztinnen und Zahnärzte in seiner Begrüßung, die Krise als Chance zu begreifen. Er machte zudem klar, dass die neue PAR-Strecke auch von den Vorgaben des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes nicht aufgehalten werden wird, da sie eminent wichtig für die Patienten sei. Er danke DGZMK-Präsident Frankenberger für seine wegweisende Arbeit und die neue Perspektive der Zahnmedizin als „eine Zahnmedizin“. Frankenberger kündigte an, dass die DGZMK einen Zahnmedizin-Kodex verabschiedet habe, der in Kürze auf der Homepage der DGZMK veröffentlicht werde und künftig allen Studienabsolventinnen und -absolventen überreicht werden soll.
Der hessische Kammerpräsident Dr. Michael Frank hatte dann die Freude, mit Prof. Dr. Alena Buyx, Medizinethikerin und Vorsitzende des Ethikrats, eine hochkarätige Rednerin für die Keynote des Kongresses vorstellen zu dürfen. Buyx lenkte in ihrem lebendigen Vortrag „Ethik, Digitalisierung, Datenschutz“ den Blick auf die verfehlte Digitalisierungspolitik in Deutschland, die immer wieder nicht zuletzt an überbordenden Datenschutzvorgaben und unklaren, zersplitterten Zuständigkeiten scheitere. Das Beispiel ePA mache das mehr als deutlich. Und nach dem Digitalisierungssprung durch die Pandemie drohe jetzt ein Zurück in alte Zustände, ein „De-learning“. Ob digitalisierte Verwaltung, Schulen, Gesundheitswesen –„wir sind extrem schlecht“, konstatierte sie. Und dies sei auch aus ethischer Sicht bedenklich.
Datenschutz ist nicht Zweck, sondern Mittel zum Zweck
Es gebe ein grundsätzliches Missverständnis in Sachen Datenschutz in Deutschland, erklärte sie. „Wir brauchen den Datenschutz nicht um der Daten willen. Geschützt werden müssen die Menschen“, und „Datenschutz ist kein Zweck, sondern ein Mittel zum Zweck“. Die einseitige Fixierung auf einen übersteigerten Datenschutz blende aus, was die Medizinethiker zum Sammeln und Nutzen von Gesundheitsdaten diskutiert und vorgelegt haben, so Buyx. Das, was jetzt in Deutschland geschehe, sei unter den zu beachtenden sieben ethischen Orientierungsmaßstäben zu kurz gegriffen. Überbetont würden die individuellen Aspekte wie Freiheit und Selbstbestimmung, Privatheit und Intimität. Ausgeblendet würden aber die gesellschaftlichen Aspekte wie Schadensvermeidung und Wohltätigkeit, Gerechtigkeit, Solidarität und Verantwortung.
Die Menschen seien zu einem sehr hohen Prozentsatz bereit, ihre anonymisierten Gesundheitsdaten der unabhängigen Forschung zur Verfügung zu stellen, wenn damit Verbesserungen für die Behandlung von Krankheiten etc. möglich würden. Der aktuelle Umgang mit Gesundheitsdaten aber verhindere dies, zum Schaden der Allgemeinheit. „Wir wissen nicht, wie sich die Erkrankungsspektren verändern oder was sich an Krankheitsbildern neu entwickelt, weil uns die Daten dazu fehlen“, verdeutlichte sie. Es sei aus ethischer Sicht dringend geboten, eine sichere und verantwortungsvolle Nutzung auch von Gesundheitsdaten zu ermöglichen, so ihr Statement. Auch wenn dies in einer Welt von „Multiakteursverantwortung“ und „Verantwortungsdiffusion“ schwierig sei. Ihr Appell: „Sag mir, wie es gut und sicher geht. Sag mir nicht, wie es nicht geht.“
„Ernährung findet in unserem Wohnzimmer statt“
Prof Roland Frankenberger widmete seinen Vortrag der Ernährung für Zahnmediziner und wies direkt auf den Doppelsinn des Themas hin. Zum einen finde „Ernährung in unserem Wohnzimmer statt“, denn alles, was gegessen wird, passiert die Mundhöhle. Zum anderen sind auch Zahnmediziner Menschen, die essen und dabei einiges falsch machen können. Dabei nahm der scheidende Präsident der DGZMK sich selbst nicht aus und berichtete über seine eigenen Erfahrungen rund um Ernährung.
Gesunder Menschenverstand gefragt
Zum einen sei es so, dass die wenigsten Menschen viel Ahnung von gesunder Ernährung haben, zum anderen komme es aktuell zu einer gravierenden Abnahme des gesunden Menschenverstands, und beides zusammen führe zu einer absolut ungesunden Ernährung mit überwiegend verarbeiteten Lebensmitteln, die wenig Vitamine, Mineralstoffe oder Polyphenole enthalten, dafür überwiegend leere Kalorien und vor allem zu viel Zucker. Wenig beziehungsweise kein Zucker in der Nahrung hat nicht nur den Vorteil der Kariesreduktion, er führt auch zur Reduktion von Gingivitis und Parodontitis. Das zeigt eindrucksvoll eine Studie zur sogenannten Steinzeitdiät (Baumgartner, Rath, Persson, Persson: J. Periodontology 2009(809: 759)). Und solche klaren Zusammenhänge können Zahnärzte klar auch an den Patienten kommunizieren.
Doch wie sieht es bei den Zahnmedizinern selbst aus – und ist das wichtig? Frankenberger meint: Ja! Denn die Weltsituation ist dramatisch: 2013 waren 29 Prozent der Menschen weltweit mit einem BMI von mehr als 25 übergewichtig (und das dürfte sich in der Pandemie nicht gebessert haben). Frankenberger riet dazu, Körpermaß-Parameter wie BMI HU, HTW und WTH nicht überzubewerten, sondern sich einfach mal ehrlich im Spiegel zu betrachten – auch hier lässt sich mit gesundem Menschenverstand erkennen, wo das (zu) viele oder falsche Essen geblieben ist.
„Jeder Jeck is(s)t anders“
Er selbst fing 2011 an, seine Ernährung umzustellen, nach dem er „nur noch ohne Kontaktlinsen unter 100 Kilogramm auf der Waage erreichte“, und stellte seinen Erfahrungen und Empfehlungen einige Bemerkungen voran: Übergewicht ist keine Willensschwäche, es gibt unterschiedliche Konstitutionstypen, Anlagen und Geschmäcker („Jeder Jeck ist anders“) – und genauso führen mehrere Wege zum Ziel. Ganz ohne Disziplin geht es aber nicht.
Doch auch wenn jeder Mensch individuell ist, ist die Tatsache, dass 33 Prozent der Weltbevölkerung eine Fettleber und 25 Prozent Insulinresistenz haben, nicht harmlos. Auch hier gilt allgemein: Crash-Diäten sind zu vermeiden, schneller Gewichtsverlust geht vor allem auf Kosten von Muskelmasse und fördert so den Jojo-Effekt. Optimal ist die dauerhafte Umstellung auf vernünftiges Essen, ohne Nahrungsergänzungsmittel wird es, so Frankenberger dauerhaft nicht gehen.
Was ist gesunde Ernährung? Dazu stellte Frankenberger mehrere Ernährungsformen inklusive Schwachstellen vor, so bei der veganen Ernährung die unkritische Haltung gegenüber Zucker und Weißmehl oder bei der Paleoernährung den hohen Fleischverzehr. Nach aktuellem Stand der Wissenschaft ergeben sich folgende Empfehlungen:
- Bunt essen, insbesondere Gemüse
- Vorsicht vor zu viel Fruchtzucker in süßem Obst
- Zucker/leere Kohlenhydrate vermeiden oder reduzieren
- Keinen Zucker trinken
- So wenig Alkohol wie möglich trinken (Kalorien und Hungerattacken)
- Fit durch Fett: Omega-3-Fettsäuren in Fisch oder Öl supplementieren
- Proteine vermeiden Muskelabbau und Jojo-Effekte
- Pro Woche dreimal mindestens 30 Minuten Bewegung und ins Schwitzen kommen
- 50 ml Wasser/kg KG/Tag
Die Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), die mit einer getreidebasierten Ernährung in eine Kohlenhydrat-Mastsituation weisen und sich darüber hinaus seit Jahrzehnten nicht grundlegend verändert haben (im Gegensatz zur Lebenswelt und dem Energieverbrauch der Bevölkerung hierzulande), sieht Frankenberger als nicht mehr geeignet an. Dem aktuellem Erkenntnisstand entsprechen hier eher die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM).
Und sonst so?
Um die richtige Ernährung zur vollen Wirkung kommen zu lassen, müssen Co-Faktoren beachtet werden: Bewegung, Nahrungsergänzungsmittel, Schlaf und aktive Stressreduktion. Die Rolle des Zahnarztes ist in der Ernährungsberatung nicht zu unterschätzen: Als Früh-Detektor falscher Ernährung, als idealer Berater aufgeklärter Patienten, als oraler Diagnostiker und zur Komplettierung der großen Erfolge in der Prävention. Wer sich weiter ins Thema einlesen möchte, kann dies in der Quintessenz Zahnmedizin Ausgabe 5/2020 mit dem Schwerpunkt Ernährung in der Zahnmedizin tun, darüber hinaus empfahl der Referent das Buch „Ernährungszahnmedizin“ von Johan Wölber und Christian Tennert, erschienen 2022 im Quintessenz Verlag.
Allergien auf dentale Materialien sehr selten
DGZMK-Generalsekretärin Prof. Dr. Anne Wolowski präsentierte drei kontroverse, sehr spannende Themen. Prof. Dr. Randolf Brehler, Dermatologe an der Universität Münster, vermittelte noch einmal die Basics zum Thema Allergien auf dentale Materialien. Hier seien fast ausschließlich Typ-IV-Allergien zu beobachten. Generell seien Allergien auf Dentalmaterialien selten, infrage kommen vor allem Metalllegierungen, bei denen Nickel und Palladium, aber auch Gold die Auslöser seien. Aber auch Kunststoffe (Acrylate, Restmonomere) oder Eugenol könnten Allergien auslösen, die Sensibilisierung für Acrylate sei gerade beim Fachpersonal gegeben. Reaktionen auf Titan seien ganz überwiegend keine Allergien, sondern Fremdkörperreaktionen auf Titanpartikel, die von den inserierten Titankörpern ins Gewebe gelangten. Allergien träten zudem klinisch in der Regel eher großflächiger und nicht scharf begrenzt auf.
Testungen – hier ist der Epikutantest nach wie vor Standard, der LTT-Test sei nicht aussagekräftig – müssten idealerweise mit den verwendeten Bestandteilen einer Legierung standardisiert durchgeführt werden. Das erweise sich in der Praxis oft als schwierig. Die Testregionen müssten über einen deutlich längeren Zeitraum – bis zu 96 Stunden und länger – beobachtet werden, da Reaktionen oft verspätet aufträten. Und nicht jede zu beobachtende Sensibilisierung führe am Ende tatsächlich zu einer allergischen Reaktion, so Brehler. Prophetische Aussagen seien nicht möglich.
Wenn der Patient Homöopathie wünscht
Ein aktuell viel diskutiertes Thema ist die Homöopathie. Die Ärzteschaft hat Fortbildungsangebote zur Homöopathie in fast allen Ärztekammern gestrichen, die Bundesärztekammer die Homöopathie aus der Muster-Weiterbildungsordnung herausgenommen. Und das mit gutem Grund, wie Dr. Christian Weymayr darlegte. Er griff dazu auf die Geschichte der Homöopathie und den Ansatz ihres Begründers Hahnemann zurück. Danach ist die in hoher Potenz verdünnte Substanz gar nicht wichtig, es gehe dezidiert nicht um die materielle Wirkung, sondern geistartige Kräfte. Damit sei Homöopathie Esoterik, konstatierte Weymayr. Denn Wirkstoffe seien nicht mehr nachweisbar, am Ende blieben Zuckerkügelchen.
Dass Homöopathie trotzdem immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Studien und Veröffentlichungen sei, liege an der engen Fixierung der evidenzbasierten Medizin, kritisierte Weymayr. Sie habe hier einen „blinden Fleck“, weil sie andere wissenschaftliche Bereiche bei der Beurteilung oft ausblende. Dies werde von vielen Seiten kritisiert.
Kein verdeckter Placebo-Einsatz
Mit der ethischen Frage der Homöopathie befasste sich Dr. Daniel Friedrich. Nicht alles in der praktizierten Medizin sei wissenschaftsbasiert oder wissenschaftlich begründbar. Doch seien Ärzte gehalten, eine wissenschaftsorientierte Medizin zu betreiben und dem Leitgedanken der Patientendienlichkeit, dem Wohl-tun und Nicht-schaden zu folgen. Bei der Homöopathie gebe es nachweislich keine Evidenz und keine pharmakologischen Effekte. Wenn der Patient nun den Wunsch habe, mit Homöopathie behandelt zu werden, sei es der richtige Weg, ihn darüber auch aufzuklären.
Um die Grundsätze der Patientendienlichkeit und Wissenschaftsbasiertheit komme der Mediziner nicht herum. Damit sei eine verdeckte Gabe als Placebo nicht möglich. Denn auch eine Placebo-Gabe müssen aufgeklärt werden. Setze man Homöopathie nach Aufklärung als Placebo ein, nutze man den möglichen psychogenen Effekt. Diese offene Placebogabe sei noch neu, das Wissen dazu baue sich gerade noch auf.
In der Diskussion verwies Weymayr ergänzend darauf, dass auch dieser Placebo-Effekt oft überschätzt werde und damit natürliche Heilungseffekte/die Selbstheilung des Körpers überlagert werden.
Das Problem mit der Wurzel: The Root Cause
In der letzten Session des ersten Tags unter Leitung von Prof. Frankenberger unterzog Prof. Dr. Edgar Schäfer in seinem Beitrag den Film „Root Cause“ (Netflix) aus dem Jahr 2018 einer kritischen Betrachtung. In dem Film macht der australische Filmemacher Frazer Bailey eine Wurzelkanalbehandlung verantwortlich für seine Müdigkeit, Koronale Herzerkrankungen (KHK), Angst und Depressionen und weiterhin für verschiedene Krebserkrankungen. Drei in diesem Film zitierte Experten dienten als Quellen für Zahlen, Studien und Veröffentlichungen, die in einer Pubmed-Recherche von Prof. Schäfer ins Leere liefen. Auch im Abspann des Films genannte Fachleute ergaben zu den Begriffen „root canal“ oder „teeth“ keine Treffer. Die Assoziation zwischen Apikaler Parodontitis (AP) undkardiovaskulären Erkrankungen wurde in 18 Studien bejaht, in fünf verneint.
Laut Schäfers detaillierter Darstellung kann ein Kausalzusammenhang nicht formuliert werden, AP und KHK haben zahlreiche Risikofaktoren gemein. Das mehr als 90 Prozent der Krebspatienten eine Wurzelkanalbehandlung haben, ist schlichtweg statistisch nachvollziehbar, da weltweit jeder zweite einen Zahn mit apikaler Parodontitis vorweist und im Mittel mehr als 1,4 Wurzelkanalbehandlungen hinter sich hat. Weitere Zusammenhänge sind laut Schäfer als gemeinsame Folgen einer systemischen Erkrankung und daraus ablaufender Pathomechanismen sehr gut bekannt und belegt. Laut Schäfer ist also „Zahn 21 vermutlich nicht der einzige Grund für das Chronic-Fatigue-Syndrom von Frazer Bailey“.
Speicheldiagnostik … es ist kompliziert
Prof. Stephan Ruhl widmete seinen Beitrag dem Speichel als Diagnostikum. Speichel hat viele Funktionen: vom Schutz für Zähne und Schleimhaut über Verdauung und Vorbereitung fürs Schlucken der Nahrung bis hin zur Pufferfunktion im Mundmilieu reichen die Aufgaben.
Angesichts der vielen Funktionen wundert es nicht, dass Speichel eine sehr komplexe Flüssigkeit ist. Doch dies und seine ständige Erneuerung durch gleich drei Speicheldrüsen, und das ständige Abschlucken limitieren seine diagnostische Potenz. Bisher werden – bei Pferden – Dopingtests per Speichelprobe absolviert und auch Corona hat Speichel zu neuem Stellenwert verholfen.
In der Zahnheilkunde kann außer der Flussrate zur Diagnostik von Mundtrockenheit nicht viel Erkenntnisreiches aus Speichel gewonnen werden. Ruhl sieht Speichel vor allem als Frühwarnsystem bei Epidemien, hofft auf weitere Forschungsergebnisse und verwies auf eine Datenbank zur weiteren Vertiefung ins Thema.
Ist Nachhaltigkeit utopisch?
Der Samstagmorgen begann mit einem Vortrag zur Nachhaltigkeit, der auch in sich nachhaltig im Gedächtnis blieb. Prof. Jörg Wiltfang, noch Präsident elect der DGZMK, moderierte diese Session und stellte mit Prof. Christian Berg einen Universalgelehrten vor, der sich mit der Frage beschäftigte, ob Nachhaltigkeit utopisch sei. Berg ist Mitglied des Club of Rome, der 1972 den Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ herausbrachte und seit 50 Jahren als Denkfabrik für Zukunftsfragen und nachhaltige Lösungen fungiert.
„Leider sind wir auf einem mühsamen Weg“, so Berg. Er zeigte auf, wie die Erdtemperatur sich erhöht, dass die Klimakrise leider nicht die einzige Krise (neben Überbevölkerung, Energiebedarf, Düngemittelverbrauch, Ozeanversauerung, Artensterben) und nicht einmal die dramatischste ist – hier haben Artensterben, das Einbringen neuartiger Substanzen und Organismen und die Überdüngung mit Phospor und Stickstoff in ihrem Ausmaß die planetaren Belastungsgrenzen überschritten. Die Emissionen nehmen unverändert weiter zu, schon die Ambitionen, sie einzudämmen, reichen nicht aus!
Hinzu kommt die globale Ungerechtigkeit: Der Süden, der am wenigsten zum Klimawandel beigetragen hat, ist von ihm am stärksten betroffen. „Aus moralischen Gründen sollten die reichen Länder im Norden Standards setzen und die Verantwortung dafür übernehmen, das Überleben im Süden weiter zu ermöglichen“, so Berg.
Doch was kann der Mensch tun? „Es ist komplex – dass aus Erkenntnis Handeln folgt, klappt noch nicht.“ Darüber hinaus wird durch den Dauerkrisenmodus der Blick auf die Barrieren der Nachhaltigkeit verstellt, die da heißen Lobbyismus, Silodenken, Populismus, soziale Ungleichheiten und Marktversagen.
Der These, Nachhaltigkeit als Konzept aufzugeben, hält der Referent einen anderen Ansatz entgegen: Gesellschaftliche Veränderungen sollten multi-dimensional (sozial, ökologisch, ökonomisch) sein, multi-level (von lokal bis global) und multi-sectoral (Regierungen, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft) alle Akteure einbinden.
Ins Handeln kommen
Wichtig: „Wir brauchen eine komplexe Analyse – aber einfaches Handeln“, so Berg. Hinderlich sind die Barrieren der menschlichen Natur (kognitiv, moralisch bis hin zur Kluft zwischen Werten und Verhalten) sowie die allgemeine Fragmentierung von Wissen und Verantwortung (allein in Deutschland gibt es mehr als 20.000 Studiengänge) und soziale Ungleichheit.
Für Berg liegt die Lösung in Nachhaltigkeit als Ziel und Maßnahme zugleich und dem Ziel einer „Futeranity“ (Future of terra and humanity, einer Zukunft der Erde und des Menschlichen oder dem Lebenswohl. Dazu braucht es komplexe Problemanalysen (vor allem der Barrieren, um ins Handeln zu kommen) und konkrete Unterstützung in Form von Handlungsprinzipien für die Akteure.
Zusätzliche Tests ohne klinische Vorteile
Von diesen globalen Gedankenwelten ging es nun, moderiert von DGZMK-Vizepräsident PD Dr. Dietmar Weng, wieder in die Praxis. Prof. Dr. Peter Eickholz verglich in seinem Beitrag die praktische Relevanz von PSI versus a-MMP-8-Test. Ausgehend von vier bis sechs Messungen pro Zahn beim PSI ergeben sich beim PSI bei 28 Zähnen zwischen 56 und 168 separate Befunde zum aktuellen parodontalen Zustand. Anhand der Befunde werden in der UPT klar die Behandlungsbedürftigkeit und die Schritte, die vorzunehmen sind, festgelegt. Der a-MMP-8-Test erhebt nur einen Befund (Anwesenheit von a-MMP-8 im Speichel) und gibt in praxi eher schwurbelige Empfehlungen im Sinne von „bedarf einer medikamentösen Therapie“ – doch welcher?
Dem Referenten reicht der PSI, dieser sei in Sensitivität, Spezifität und in Sachen Praxisrelevanz dem a-MMP-8-Test überlegen. Der a-MMP-8-Test für Krankenhäuser oder für einen Selbsttest zuhause als niedrigschwellige Möglichkeit zur Testung sieht er ebenfalls kritisch: Er empfiehlt bei Verdacht in Krankenhäusern, die Patienten zum Zahnarzt zu schicken, und für zuhause den Paro-Check der BZÄK, der, umsonst und am Handy durchführbar, noch niedrigschwelliger sei, als ein Test für einen zweistelligen Eurobetrag.
Das Mikrobiom lässt sich nur langsam verändern
Prof. Christian Dörfer widmete sich dem Mikrobiom, einer höchst komplexen Welt aus Viren, Megaviren, Pilzen, Protozoen, Amöboiden, Mikroalgen, Archaebacteria und Bakterien, die er aus Sicht der Parodontologie unter die Lupe nahm. Eigentlich ist das Mikrobiom relativ stabil, interessanterweise erhöht sich die Diversität des Mikrobioms bei oralen Erkrankungen. Diese Stabilität ist auch der Grund, warum Parodontitisbehandlungen aus Sicht der Patienten „nie enden“: Die Rahmenbedingungen müssen verändert werden, um das Mikrobiom positiv zur beeinflussen.
Interessant: Die Diversität des Mikrobioms erhöht sich bei oralen Erkrankungen. Aber, so Dörfer, auch unspezifische Maßnahmen wie Entfernung des Biofilms und niedrigschwellige wie häusliche Mundhygiene helfen.
Protektion und Funktion: Der Mundschutz
Session 7 unter Leitung von Prof. Frankenberger drehte sich um Sportzahnmedizin. Dr. Stavros Avgerinos stellte das One4all-Mundschutzkonzept der Deutschen Gesellschaft für Sportzahnmedizin(DGSZM) vor, der in seinem Eishockeyverein immerhin von 100 Prozent der Spielerinnen und Spieler getragen wird: Kombination einer harten Komponente zur Verteilung der Energie über die gesamte Zahnreihe und einer weichen zur Dämpfung der Krafteinwirkung, resistente Verbindung beider Schichten via Laminierung bei ca. 100 bar, angepasste Schichtstärken und Eigenschaften der Schiene, minimales Volumen mit maximalem Schutz, Verwendung konkreter Materialien, Instrumente und Herstellung und zertifiziert von der DGSZM. Bei durchschnittlichen Herstellungskosten von 70 Euro und einer Schiene pro Saison überschaubare Kosten, gegenüber Zahnverlusten und deren Folgen über die Lebenszeit der Betroffenen.
Bessere Performance im Sport
Das Zahngesundheit auch sportliche Leistung unterstützen kann, zeigte Dr. Siegfried Marquardt in seinem Beitrag. „Immer wenn wir unsymmetrische Systeme in symmetrische Systeme pressen, bekommen wir Verzug“, so der Referent. Beeindruckend der Patientenfall, bei dem nach einer Funktionsanalyse der junge Sportler eine Entlastungsschiene erhielt und sich bei ihm umgehend eine höhere Beweglichkeit im Nacken und eine geradere Beinhaltung auf dem Laufband einstellte. Im Endeffekt konnte der Sportler eine langfristige Leistungssteigerung erzielen. Damit zeigt sich, dass die Zahnmedizin einen absolut berechtigten Platz im Team neben Sportmedizin und Physiotherapie innehat.
Minimal-invasiv und vorhersagbar – moderne prothetische Rehabilitation
Der Samstagnachmittag widmete sich umfassend nur einem Thema: der modernen festsitzenden prothetischen Rehabilitation, genauer dem „Geneva Concept“. Prof. Dr. Irena Sailer und ZTM Vincent Fehmer gingen kritisch mit ihren eigenen Arbeiten von vor 15 oder zehn Jahren ins Gericht und zeigten anhand der wissenschaftlichen Literatur, wie wenig minimal-invasiv die damals gewählten Ansätze mit verblendeten Vollkeramikgerüsten wirklich waren. Zugleich stellten sie wissenschaftlich fundiert auf die Materialentwicklung, die klinische Bewährung moderner vollkeramischer Materialien im Vergleich zur klassischen VMK-Krone und den „Gamechanger“ Adhäsivtechnik ab. In Kombination mit neuen digitalen Verfahren und vollkeramischen Materialien macht vor allem das „Kleben können“ den entscheidenden Schritt zu deutlich minimal-invasiveren und zugleich vorhersagbaren komplexen Rehabilitationen aus.
Die von ihnen kritisch analysierten alten (ästhetisch und funktional sehr gut gelösten) Fälle erlaubten es den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, ihre eigene Praxis zu hinterfragen, und führten zu den heute adäquaten minimal-invasiven Lösungen – vollkeramische Veneers, Tabletops, Teilkronen etc. aus monolithischem Material mit deutlich geringerem Präparationsbedarf. Kronen hätten zwar auch noch ihre Berechtigung, seien aber immer seltener indiziert.
Die Abteilung für festsitzende Prothetik der Universität Genf hat in gemeinsamen Projekten mit der ETH Zürich und den Computer-Experten der Walt Disney Studios Verfahren untersuchen können, wie sich die Kieferbewegungen und die Mimik des Patienten digital erfassen, diese digitalen Daten in die Planungsprogramme einfügen und die geplante prothetische Versorgung funktional korrekt dann in das Bild des Patienten digital möglichst lebensrealistisch einbinden lässt.
Das hier eingesetzte Equipment, das in der Filmbranche entwickelt wurde, ist für die Praxis nicht tauglich. Aber es gibt inzwischen eine Lösung für den Einsatz auf dem Tablet, die praxistauglich ist (Ivosmile, Ivoclar). „So können die Patienten bereits vorab sehen, wie ihre Versorgung aussehen wird. Sie können mitentscheiden, was zum Beispiel Zahnform und Farbe angeht. „Wir können dies funktionsgerecht simulieren. Und wir können dank digitaler Verfahren diese geplante Lösung auch tatsächlich reproduzieren“, fassten Sailer und Fehmer die Vorteile ihres Konzepts zusammen. Fehmer wies auch auf den deutlich reduzierten Arbeitsaufwand in Praxis und Labor hin. Die klassischen, individuell geschichteten Arbeiten seien zwar ästhetisch anspruchsvoller, allerdings wegen der Technik (Porositäten) auch anfälliger für Chippings. Und dank der neuen Keramiken sei die Ästhetik bei den CAD/CAM-gefertigten Arbeiten inzwischen auch sehr gut.
Ihr Tipp: Beim Einsetzen umfangreicher Einzelzahnrestaurationen (komplette Front) immer bei den Inzisivi beginnen, um Passungsprobleme zu vermeiden. Patienten mit kompletten Rekonstruktionen inklusive Bisshebung müssten gut vorbehandelt werden (vor allem Bruxer) und nach der Versorgung nachts Schienen tragen, um den Behandlungserfolg zu sichern. Ein von beiden ebenfalls kritisch diskutierter Patientenfall stellte alle wesentlichen Faktoren am Beispiel vor (mehr im Buch „Festsitzende Restaurationen“ von Sailer/Fehmer/Pjetursson).
Nach diesem letzten Vortrag verabschiedete sich Prof. Frankenberger mit einem Dank an den Vorstand und die Geschäftsstelle der DGZMK und alle Partnern als Präsident der DGZMK und übergab den (realen) Staffelstab an Prof. Dr. Dr. Jörg Wiltfang. Dieser übernahm und würdigte Frankenberger als „tollen Präsidenten“, Partner und Freund.
2023 Gemeinschaftstagung mit der DGMKG
Den Deutsche Zahnärztetag und den Wissenschaftliche Kongress der DGZMK in der seit 2010 praktizierten Form wird es 2023 so nicht mehr geben. Der neue DGZMK-Präsident Wiltfang lud alle Mitglieder herzlich zum DGZMK-Kongress im Juni 2023 nach Hamburg ein, der gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (DGMKG) stattfinden wird. Tagungspräsidenten sind PD Dr. Dietmar Weng, Vizepräsident der DGZMK, und Wiltfang in seiner Funktion als Vizepräsident der DGMKG. Für 2025 haben Frankenberger, Wiltfang und der DGZMK-Vorstand bereits wieder eine Gemeinschaftstagung aller in der DGZMK vertretenen Fachgesellschaften auf den Weg gebracht. (Mehr zu den Zielen, Vorstellungen und Plänen des neuen DGZMK-Präsidenten im Interview.)
Nach dieser Gemeinschaftstagung 2025 wird dann der auf der Mitgliederversammlung der DGZMK am 10. November 2022 in Frankfurt (Main) neu gewählte Präsident elect Prof. Dr. Peter Proff, Kieferorthopäde an der Universität Regensburg, die Präsidentschaft der DGZMK übernehmen.
Dr. Marion Marschall, Karen Nathan, Berlin
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