Das Extrahieren erhaltungswürdiger Zähne, ohne den Patienten die Möglichkeiten der Zahnerhaltung darzustellen, kann als gefährliche Körperverletzung gewertet werden. Das hat das Oberlandesgericht Karlsruhe in diesem Jahr entschieden (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. März 2022, Az.: 1 Ws 47/22).
Einem Zahnarzt wurde von der Staatsanwaltschaft bereits 2017 vorgeworfen, in den Jahren 2010 bis 2014 in 33 Fällen bei seinen Patienten Zähne extrahiert zu haben, obwohl diese noch erhaltungswürdig waren. Er hatte behauptet, dass die Extraktionen zwingend sind. Die Patienten vertrauten seinem Urteil und willigten in die Zahnentfernung ein.
Staatsanwaltschaft sieht Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung
Die Staatsanwaltschaft erklärte dagegen, dass die Patienten nicht eingewilligt hätten, wären ihnen die Alternativen der Zahnerhaltung bekannt gewesen. Der Zahnarzt habe die Zähne auch extrahiert, um danach für ihn lukrativere Versorgungen mit Zahnersatz vornehmen zu können, so der Vorwurf. Sie sah daher den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung als erfüllt an. Entsprechend erhob die Staatsanwaltschaft Anklage vor dem Landgericht.
Das Landgericht hatte das Hauptverfahren nur eingeschränkt eröffnet und die Taten als vorsätzliche einfache Körperverletzung eingestuft, wogegen die Staatsanwaltschaft Beschwerde beim Oberlandesgericht eingelegt hatte. Dieses würdigte die dem Zahnarzt vorgeworfenen Taten neu und gab der Staatsanwaltschaft recht.
Einwilligung unwirksam
Die durch Täuschung vom Zahnarzt erlangte Einwilligung der Patienten ist unwirksam. Unstreitig liegt damit eine vorsätzliche einfache Körperverletzung im Sinne des Paragrafen 223 Strafgesetzbuch (StGB)vor. Lange war es jedoch umstritten, ob eine unerlaubte Zahnextraktion durch einen Zahnarzt auch eine gefährliche Körperverletzung im Sinne des Paragrafe 224 StGB darstellt.
Dieser scheinbar akademische Streit hat in der Praxis erhebliche Konsequenzen: Die einfache Körperverletzung ist mit einer Höchststrafe von fünf Jahren bedroht, die gefährliche Körperverletzung mit zehn Jahren. Das bedeutet zunächst, dass der Zahnarzt mit einer höheren Strafe zu rechnen hat. Es bedeutet aber auch, dass die Taten später verjähren.
Extraktionzange als „gefährliches Werkzeug“
Das Oberlandesgericht Karlsruhe (OLG) stufte die Extraktionszange in diesem Fall als gefährliches Werkzeug ein. Damit geht es um eine gefährliche Körperverletzung. Die Extraktionszange sei deshalb ein gefährliches Werkzeug, weil sie geeignet ist, dem Opfer erhebliche Verletzungen beizubringen, nämlich den unwiederbringlichen Verlust eines Teils des Gebisses und eine offene Wunde. Konsequenterweise hielt das OLG damit die schon mehrere Jahre zurück liegenden Taten noch nicht für verjährt.
Das Verfahren vor dem Landgericht Karlsruhe wird nun mit dem Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung geführt, der Zahnarzt muss also mit einer erheblichen Bestrafung rechnen, wenn die Staatsanwaltschaft ihre Vorwürfe beweisen kann. (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. März 2022, Az.: 1 Ws 47/22).
Dr. Wieland Schinnenburg, Zahnarzt und Rechtsanwalt, Hamburg
Dr. Wieland Schinnenburg studierte Zahnmedizin und Jura und war bis Ende 2017 als Zahnarzt in eigener Praxis in Schleswig-Holstein tätig. Parallel arbeitete er als Rechtsanwalt und Mediator in Hamburg und ist in diesem Bereich weiter aktiv. Schinnenburg ist FDP-Mitglied und war unter anderem Vizepräsident der Hamburgischen Bürgerschaft. Nach der Bundestagswahl 2017 war er für eine Legislaturperiode bis Oktober 2021 Mitglied des Deutschen Bundestags und in dieser Zeit Mitglied des Gesundheits- und des Rechtsausschusses und Drogenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion.