Der medizinische Kontakt mit Kranken oder Pflegebedürftigen sollte in Zukunft für jeden, der Zahnmedizin studieren möchte, vor oder während des Studiums verpflichtend sein. Notfalls sollte die Ausbildung dafür verlängert werden. Diese Forderung erhoben die Mitglieder der DGAZ (Deutsche Gesellschaft für AlterszahnMedizin) zum Abschluss ihrer 28. Jahrestagung Anfang Mai im Hotel Herrenkrug in Magdeburg.
Zuvor hatten die mehr als 80 Teilnehmer eine abwechslungsreiche und informative Tagung zum Thema „Demenz“ absolviert, die Vorstandsmitglied ZA Hansmartin Spatzier mit der DGAZ-Landesbeauftragten Dr. Nicole Primas organisiert hatte. Die nach Ansicht vieler Teilnehmer falsche Dateninterpretation des Barmer Zahnreports zur Betreuung Pflegebedürftiger in Heimen sowie das Inkrafttreten des § 22a SBG V ab Juli dieses Jahres waren weitere wichtige Punkte der Tagung, deren Folgeveranstaltung im kommenden Jahr am 15. Juni 2019 in Hamburg stattfindet.
„Die Barmer versteht die Pflege nicht!“ – Darin waren sich DGAZ-Vizepräsident Prof. Dr. Christoph Benz und der stellvertretende Vorsitzende des Vorstands der KZBV, ZA Martin Hendges, einig. Die im Barmer Report aufgestellte Schlussfolgerung, es gingen zwar mehr Zahnärzte in die Pflegeeinrichtungen, die Zahl der Behandlungen im Verhältnis dazu aber zurück, ergo würden vornehmlich die Patientenpauschalen kassiert, sei falsch. „Das hätte im Report differenzierter dargestellt und die Fachlichkeit geklärt werden müssen," kritisierte Hendges und adressierte diese Kritik auch an den wissenschaftlichen Leiter der Studie, DGZMK-Präsidenten Prof. Michael Walter.
§ 22a: 108 BEMA-Punkte pro Patient und anno mehr
Hendges ging in seinem Einführungsvortrag speziell auf die Einführung der Richtlinie zum § 22a sowie die KZBV-Arbeit dazu im Gemeinsamen Bundesausschuss G-BA und im Bewertungsausschuss ein. „Die Ärzte treffen kaum Vereinbarungen mit Pflege-Institutionen und verfügen nicht über eine solche Zahl an Kooperationsverträgen. Wir möchten mit denen in Kontakt bleiben, die das Ganze auf zahnärztlicher Seite umsetzen." Für die Richtlinie gehe es vorerst um die Umsetzung der Leistungen, im zweiten Schritt sei an die Erweiterung dieser Leistungen gedacht. Immerhin habe man hier ein Finanzvolumen von 50 Millionen Euro per anno zusätzlich erreicht, damit gebe es 108 BEMA-Punkte mehr pro Versichertem pro Jahr.
Diskussion: Hat Patient ein Recht auf Verwahrlosung?
Eine spannende Diskussionsrunde unter Moderation von Prof. Benz entwickelte sich um das Thema „Einsatz mit ‚Unterstützung‘ oder hat der Patient ein Recht auf Verwahrlosung?" Die Runde war mit Ramona Waterkotte, Qualitätsbeauftragte Pflege, Dr. Angelika Fröhlich Krebs, Zahnärztin, Dr. Elmar Ludwig, DGAZ-Landesbeauftragter Baden-Württemberg, Dr. Christiane Panka, Pflegewissenschaftlerin vom Paritätischen Wohlfahrtsverband, ZA Bernd Oppermann, Arbeitskreis Ethik der DGZMK, sowie Joachim Alder, Richter am Amtsgericht Magdeburg im Bereich Betreuungsrecht fachkundig besetzt. Im Verlauf der Diskussion gab es viele rechtliche Aspekte, sodass Richter Alder zunehmend im Mittelpunkt stand. „Nur wenn ich den Eindruck gewinne, der Patient kann darüber nicht selbst entscheiden, ist der Betreuer maßgeblich. Der Zahnarzt muss das jeweils selbst abschätzen." Alder empfahl, sich an das zuständige Amtsgericht zu wenden, in Magdeburg gebe es eine Art Bereitschaftsdienst, der sich der Sache zeitnah annehme. Dieses differenzierte Herangehen lobte Dr. Ludwig, aber: „Ich rate dringend davon ab, gegen den Willen des Betreuers zu handeln. Im Zweifel muss man das zuständige Amtsgericht involvieren.“ Sonst bestünde die Gefahr, dass man auf den Kosten sitzen bleibe. Ein echter Notfall im zahnmedizinischen Bereich sei die absolute Ausnahme. Das bestätigte auch Richter Alder: „Juristisch ist ein Eingreifen ohne Zustimmung gefährlich.“
Verwahrlosung durch Einsamkeit
Dr. Christiane Panka schlug vor: „Es sollte am besten schriftlich festgehalten werden, was möchte der Patient und was nicht. Sehr sinnvoll, um das zu steuern, wäre eine kleine Fallbesprechung und dabei die Behandlung der Frage, was wichtig ist bis zum Lebensende. Das wird von allen unterschrieben und ist dann auch verbindlich." Richter Alder ergänzte: „Wenn der Patient selbst entscheiden kann, dann kann er auch entscheiden, unabhängig von einer Vollmacht. Eine Entmündigung ist per Gesetz nicht vorgesehen.“ Das sei bis Anfang der 90er Jahre anders gewesen, da sei etwa ein Querschnittsgelähmter automatisch entmündigt worden.
Für Waterkotte tritt Verwahrlosung in Zusammenhang mit Demenz auf. Auf die Frage, was man machen könne, wenn jemand im Umfeld zunehmend verwahrlost wirke, beantwortete Richter Alder: „Man kann eine Betreuung anregen, das kann jeder machen. Eine Verwahrlosung ist immer das Ergebnis mangelnder sozialer Kontakte."
Mobil zur aufsuchenden Betreuung
Im Anschluss an die Diskussion stellte DGAZ-Spezialist Michael Fechner (Wuppertal) einen von ihm mit einem polnischen Experten umgebauten Mercedes Sprinter vor, der mittels Laderampe und Kippvorrichtung auch die Behandlung von Patienten im Rollstuhl ermöglicht. Dieses Fahrzeug für die aufsuchende Betreuung hat im Ergebnis mehr als 160.000 Euro gekostet und enthält neben einem digitalen Röntgengerät sogar einen zusätzlichen zahntechnischen Arbeitsplatz. Dieses Fahrzeug will Fechner auch Kollegen zur Verfügung stellen, Anfragen könnten über die DGAZ gestellt werden. Der Wagen wurde von zahlreichen Schaulustigen begutachtet, die sich über Details informierten. Ein gemeinsames Abendessen im Hotel beschloss den Freitag.
Diagnostik, Anästhesie und Dysphagie bei Demenz
Drei fachspezifische Ausführungen boten die Vorträge am Samstagmorgen. Dr. Holger Jahn von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Hamburg stellte die Differenzialdiagnostik der Demenz sowie die Definition der Demenz nach den Kriterien der ICD 10 vor. Weltweit gehe man von 35 Millionen Erkrankten aus, davon 1,5 Millionen in Deutschland. Bei der Betreuung und Pflege solcher Patienten entstünden jährlich Kosten in Höhe von rund 600 Milliarden Euro (etwa ein Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts. Pro Dementen erwüchsen in Deutschland Kosten zwischen 13.000 und 42.000 Euro pro Jahr, vorwiegend durch die Pflege. Für die Erforschung von Herzerkrankungen werde das Zwanzigfache ausgegeben. Er warnte davor, dass mit dem Eintritt der „Babyboomer"-Jahrgänge ab Mitte der 20er Jahre mit einer dramatischen Zunahme von Demenz-Erkrankten zu rechnen sei.
Die „Zeitschrift für Senioren-Zahnmedizin“ der Quintessenz Verlags-GmbH betrachtet die Behandlung und Versorgung älterer und alter Menschen aus verschiedenen Blickwinkeln. Dazu gehören Informationen zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen ebenso wie Fortbildungsbeiträge zur Versorgung der älteren Patienten. Die Zeitschrift möchte mit Beiträgen aus der Zahnheilkunde, Geriatrie und Pflege ihren Lesern im täglichen Umgang mit alten Menschen umfassend zur Seite stehen. Zur Online-Version erhalten Abonnenten kostenlos Zugang. Weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie im Quintessenz-Shop, dort können Sie auch ein kostenloses Probeheft bestellen.
PD Dr. Ingrid Rundshagen gab wichtige und praktische Ratschläge zur „Anästhesie bei betagten Menschen“. Sie wies dabei auf eine gemeinsame Vereinbarung von Anästhesisten und Zahnmedizin vom 15. Januar 2000 hin, nach der die fachliche Zuständigkeit des Zahnarztes bei der Lokalanästhesie gelte. Dabei habe der ZA bei der Indikationsstellung und Übernahme der Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen zu prüfen, ob sich Bedenken wegen der Ausgangssituation oder durch das hohe Lebensalter ergäben. Sie ging in dem Zusammenhang auf die Physiologie und Pathophysiologie des Alterns ein und stellte medizinische Aspekte bei der Auswahl der Patienten vor. Die Herausforderung beim hochbetagten Patienten liege im Erkennen des Risikoprofils.
Dr. Jörg Edgar Bohlender, Oberarzt an der Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie am UniversitätsSpital Zürich, widmete sich der „Dysphagie bei Menschen mit Demenz“. Er ging auf den gestörten Schluckakt im Alter ein, beschrieb die Charakteristika der Dysphagie bei Demenz und die Gefahr einer Aspirationspneumonie. Bohlender beschrieb die systematische Dysphagieabklärung und erläuterte, dass eine Dysphagietherapie besonders bei Dementen eine „kreative“ Strategie erfordere.
Vier Workshops luden ein
Der Nachmittag bot vier Workshops, darunter der Besuch einer speziellen Einrichtung für Menschen mit Demenz unter Leitung von Dr. Nicole Primas. Dr. Cornelius Haffner und Prof. Benz bearbeiteten „Das neue Präventionsmanagement – §22a“. Den direkten „Umgang mit Demenz“ konnten Teilnehmer mit Dr. Greta Barbe erleben, hier wirkte eine auf diese Rolle geschulte Schauspielerin mit. DGAZ-Pressereferent Markus Brakel gab Anleitungen zum Verfassen eines redaktionellen Beitrags.
Im Anschluss wurde die Mitgliederversammlung abgehalten, auf der dem Vorstand Entlastung für das Geschäftsjahr 2017 erteilt wurde. Außerdem konnte die erfreuliche Zahl von inzwischen 405 DGAZ-Mitgliedern verkündet werden. Per Abstimmung wurde beschlossen, die Jahrestagung in zwei Jahren in Hessen erneut als „closed shop“ für Mitglieder abzuhalten und in 2021 als öffentliche Tagung in Berlin. Die Ergebnisse der Workshops wurden am Sonntagvormittag vorgestellt. Zum Abschluss dankte Präsidentin Nitschke Hansmartin Spatzier und Dr. Primas für die gute Organisation der Tagung. Im nächsten Jahr findet die Tagung am 15. Juni 2019 in Hamburg unter der Leitung des DGAZ-Landesbeauftragten Hamburg, Dr. Thomas Einfeldt, statt. Das Thema beschäftigt sich mit „Prothetik für fitte Patienten geplant und dann von Gebrechlichen getragen“.
Markus Brakel, Mettmann