Wie in anderen Lebensbereichen haben technische Weiterentwicklungen und kontinuierliche Forschung auch in der Zahnheilkunde dazu geführt, im Laufe der Zeit ungeahnte Möglichkeiten zu eröffnen und neue Perspektiven zu erschließen. Auf die Endodontie trifft dies ohne Zweifel ebenfalls zu. Um dies nachzuvollziehen, muss man nicht bis zur ersten Abrechnung einer Wurzelkanalfüllung mit gestopfter Goldfolie im 19. Jahrhundert zurückschauen. Es reicht bereits ein Blick auf die vergangenen Jahrzehnte, um zu erkennen: Vieles weiß man heute besser!
Ob chinesische Schriften zur Anwendung von Arsen bei Pulpaerkrankungen, der Fund eines in einen Wurzelkanal eingebrachten Bronzedrahts oder die Erwähnung von in heißes Öl getauchten und mit Baumwolle umwickelten Sonden zur Behandlung schmerzender Zähne – wirft man einen Blick auf die Historie der Endodontie, so stößt man auf Jahrhunderte oder gar Jahrtausende alte und mitunter bizarr anmutende Techniken.
Wartezeiten vor definitiver Versorgung?
Doch so weit muss man gar nicht gehen. Denn selbst noch vor 30 bis 50 Jahren ging man mitunter ganz anders an endodontische Fälle heran, als man es heute tun würde. Klar ist dabei auch, dass längst nicht jede Neuerung und nicht jeder Erkenntnisgewinn der vergangenen Jahrzehnte sofort die notwendige Breitenwirkung entfaltet hat. Ein Beispiel hierfür liefert die Betrachtung des alten Dogmas: Vor der restaurativen Versorgung eines endodontisch behandelten Zahns ist eine mehrmonatige Wartezeit einzuhalten. So oder ähnlich haben es schließlich viele Zahnärzte während ihres Studiums gelernt.
Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass bei einer im Rahmen einer Doktorarbeit durchgeführten Umfrage aus dem Jahr 2015 nur 15 Prozent der Befragten angaben, die Zähne ihrer Patienten sofort nach der Wurzelkanalbehandlung zu restaurieren . Fast die Hälfte der Teilnehmer (48 Prozent) gab hingegen zu Protokoll, endodontisch behandelte Zähne innerhalb von sechs Monaten definitiv zu versorgen.
Wissenschaftliche Empfehlung: möglichst umgehend versorgen
Die wissenschaftliche Empfehlung lautet allerdings anders. So sieht die bereits 2005 publizierte Stellungnahme des Endodontie-Beirats der DGZ eine „möglichst umgehende definitive koronale Versorgung des Zahnes durch Neuanfertigung der Restauration“ vor . Längerfristige temporäre Restaurationen sowie ein Aufschieben der definitiven Versorgung sind der Stellungnahme zufolge nur in Ausnahmefällen indiziert.
Dieser Empfehlung kann die Praxis dank der heutigen technischen Möglichkeiten sogar im Rahmen des digitalen Workflows nachkommen. So ist etwa die Anfertigung einer Endo-Krone als Sofortversorgung unter Zuhilfenahme von Intraoralscanner sowie einer Fräs- und Schleifeinheit (zum Beispiel Cerec Primemill, Dentsply Sirona) in einer Vielzahl von Fällen möglich .
Doch auch mit Blick auf die Aufbereitung selbst haben sich Wissensstand und technische Möglichkeiten weiterentwickelt. Letzteres lässt sich allein schon an den Feilensequenzen erkennen. Während früher vier bis acht verschiedene Aufbereitungsfeilen zum Einsatz kamen, lässt sich heute eine Vielzahl von Fällen mit nur einer Gleitpfad- und einer Aufbereitungsfeile lösen (zum Beispiel WaveOne Gold Glider und WaveOne Gold Primary, Dentsply Sirona).
Anatomische Besonderheiten
Gleichzeitig weiß man heute besser über bestimmte anatomische Verhältnisse und Besonderheiten Bescheid. Ein interessantes Beispiel sind in diesem Zusammenhang die unteren Schneidezähne. Wurzelkanalbehandlungen finden hier nicht nur äußerst selten statt – sie weisen zudem die größten Misserfolgsergebnisse auf . Als ein möglicher Grund wird die variable Anatomie der Wurzelkanalsystems der unteren Frontzähne ins Feld geführt.
Zweiter Kanal in rund 40 Prozent der Fälle
Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass bei rund 40 Prozent der unteren Schneidezähne zwei eigenständige Kanäle zu finden sind. Diese Möglichkeit dürfte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Studie, im Jahr 1974, und auch noch deutlich danach wohl längst nicht jeder Behandler in Betracht gezogen haben. Heute weiß man: Bei der Behandlung von Schneidezähnen sollte selbst bei scheinbar unkomplizierten Fällen die präendodontische, röntgenologische und intrakoronale Diagnostik nicht vernachlässigt werden.
Die Liste sowohl endodontisch relevanter Forschungserkenntnisse und technologischer Fortschritten lässt sich um zahlreiche Beispiele verlängern. Vom Wissen um die Bedeutung des Dentinerhalts für die Langzeitprognose über die Entwicklung von wärmebehandelten Aufbereitungsfeilen aus Nickel-Titan oder verbesserten Spülprotokollen bis zur Erfolgsgeschichte des OP-Mikroskops in der Endodontie reicht die Liste jüngerer Erkenntnisse.
Fazit für die Praxis
Wurzelkanalbehandlungen sind heutzutage mit hohen Erfolgsaussichten assoziiert. Untersuchungen zufolge liegen sie je nach Ausgangsbefund bei mehr als 90 Prozent. Erkenntnisse aus der Wissenschaft und Weiterentwicklungen auf technischer Seite haben dazu geführt, dass man an endodontische Herausforderungen heute spürbar anders herangehen kann, als es noch vor 30, 40 oder 50 Jahren der Fall war. Vor diesem Hintergrund kann es ratsam sein, verinnerlichte Lehrmeinungen ebenso wie das eigene endodontische Vorgehen von Zeit zu Zeit auf den Prüfstand zu stellen und eventuell ungenutzte Potenziale der modernen Endodontie für sich und seine Patienten zu erschließen.