Die Wurzel- und Wurzelkanalanatomie eines ersten Unterkiefermolars können äußerst komplex sein. Insbesondere bei überkronten Zähnen kann die Gestaltung der Zugangskavität, die maßgeblich zum Behandlungserfolg beiträgt, erheblich von den traditionellen Umrissformen abweichen. Ein digitales Volumentomogramm (DVT) kann relevante Hinweise sowohl hinsichtlich der Lokalisation der Wurzelkanäle als auch auf mögliche Obliterationen liefern. Im vorliegenden Fall beschreiben die Autoren Dr. Sohar Flisfisch und Prof. Edgar Schäfer für die Endodontie 2/2022, wie ein vermeintlich obliterierter mesiobukkaler Wurzelkanal unter Zuhilfenahme eines DVTs erkannt und entsprechend behandelt wurde.
Fast jede zahnärztliche Maßnahme tangiert das endodontische System, und jährlich ca. zehn Millionen in Deutschland durchgeführte Wurzelkanalbehandlungen belegen den Stellenwert der Endodontie in der Zahnmedizin. Die Zeitschrift „Endodontie“ hält ihre Leser dazu „up to date“. Sie erscheint vier Mal im Jahr und bietet praxisrelevante Themen in Übersichtsartikeln, klinischen Fallschilderungen und wissenschaftlichen Studien. Auch neue Techniken und Materialien werden vorgestellt. Schwerpunkthefte zu praxisrelevanten Themen informieren detailliert über aktuelle Trends und ermöglichen eine umfassende Fortbildung. Die „Endodontie“ ist offizielle Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Endodontologie und zahnärztliche Traumatologie (DGET), des Verbandes Deutscher Zertifizierter Endodontologen (VDZE) und der Österreichischen Gesellschaft für Endodontie (ÖGE). Abonnenten erhalten kostenlosen Zugang zur Online-Version (rückwirkend ab 2003 im Archiv) und zur App-Version. Mehr Informationen zur Zeitschrift, zum Abonnement und kostenlosen Probeexemplaren im Quintessenz-Shop.
Einleitung
Der erste Unterkiefermolar ist der Zahn, der statistisch gesehen im Lauf des Lebens als erster eine Wurzelkanalbehandlung erfährt1. Karies ist dabei die häufigste Ursache für den Zahnhartsubstanzverlust, der seinerseits in eine Wurzelkanalbehandlung münden kann2. Insuffiziente Randschlüsse von Restaurationen können diesen Prozess beschleunigen3. Kronen an pulpavitalen Zähnen, die vor dem vollendeten 50. Lebensjahr präpariert und eingesetzt werden, sind mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit assoziiert, dass dieser Zahn im Laufe der Zeit ein endodontisches Problem entwickelt4. Liegt dann die Indikation für eine Wurzelkanalbehandlung vor, kann das Auffinden der Wurzelkanäle eine besondere Herausforderung sein, da zum einen die Form der prothetischen Krone nicht mit der der anatomischen Krone korrespondieren muss und zum anderen bei älteren, teilweise multimorbiden Patienten zusätzlich mit Pulpaobliterationen zu rechnen ist, die eine adäquate Wurzelkanalbehandlung erschweren können5,6. DVT-Studien zur Anatomie der Wurzelkanäle von Unterkiefermolaren in unterschiedlichen ethnischen Gruppen belegen zudem die hohe Variabilität der Kanalmorphologien7–9. Insofern können DVTs bei entsprechender Indikationsstellung ein wertvolles diagnostisches Hilfsmittel bei der Wurzelkanalbehandlung solcher Zähne sein10.
Falldarstellung
Anamnese und Befund
Allgemeinanamnestisch litt die 68-jährige Patientin an Polyarthrose sowie an Darmpolypen. Aufgrund einer Bipolaren Störung wurde sie mit Lamotrigin und Cipralex (Lundbeck, Hamburg) behandelt. Ansonsten wurden keine weiteren Medikamente eingenommen. Ebenfalls waren keinerlei Allergien bekannt. In der speziellen Anamnese berichtete die Patientin über Aufbissschmerzen seit zwei Tagen am Zahn 46. Sie musste allerdings keine Schmerzmittel einnehmen.
Der klinische Befund zeigte parodontal keine Auffälligkeiten und dental ein größtenteils prothetisch und konservierend suffizient versorgtes Gebiss. Der Parodontale Screening-Index (PSI) wies als höchsten Index 2 auf, was mit einer noch zu optimierenden Mundhygiene einherging. Eine Parodontitis lag somit nicht vor. In Regio 46 konnte palpatorisch weder von bukkal noch von lingual ein Schmerzreiz provoziert werden. Der Zahn 46 war mit einer Verblend-Metall-Keramik(VMK)-Krone prothetisch versorgt. Der Perkussions- und der Aufbisstest von okklusal fielen jeweils stark positiv aus, die Sensibilitätsprüfung mit Kälteschnee negativ. Radiologisch wurden an den VMK-Kronen der Zähne 45 und 46 insuffiziente Kronenränder festgestellt. Ansonsten waren keinerlei weitere Auffälligkeiten sichtbar (Abb. 1).
Diagnose
Auf Basis der klinischen und radiologischen Befunde wurde am Zahn 46 eine akute Parodontitis apicalis, ausgehend von einer infizierten Pulpanekrose diagnostiziert, die ihrerseits vermutlich Folge einer insuffizienten Kronenversorgung war.
Therapie
In derselben Sitzung, unmittelbar nach der Befundaufnahme, wurde der Zahn 46 nach Leitungsanästhesie (Ubistesin, 3M Espe) und Applikation von Kofferdam durch die VMK-Krone trepaniert. Nach Exkavation von kariöser Zahnsubstanz wurde mithilfe des Dentalmikroskops (Zeiss Pro Ergo,Carl Zeiss Meditec) versucht, die Kanaleingänge darzustellen. Der mesiolinguale und der distale Kanaleingang wurden schnell lokalisiert; der vermutete mesiobukkale Kanaleingang zeigte sich jedoch obliteriert. Auch mit Ultraschallspitzen (VDW Ultra und Ultrasonic Tip Redo 1,VDW) konnte der mesiobukkale Kanaleingang nicht dargestellt werden (Abb. 2).
Die beiden anderen Wurzelkanäle wurden mit reziprokierenden Instrumenten (Reciproc VDW Gold Endo Motor, Reciproc blue, VDW) bis zur Größe 25 präpariert (Abb. 3). Die Arbeitslängen wurden über die integrierte Messfunktion des Motors bestimmt. Das Spülprotokoll bestand aus 2-prozentigem Natriumhypochlorit (NaOCl) und 20-prozentiger Zitronensäure, die jeweils schallaktiviert (Eddy, VDW) wurden. Die Wurzelkanäle wurden mit Guttapercha und Sealer (TotalFill BC Sealer, FKG) gefüllt, der auch auf den vermutet obliterierten mesiobukkalen Kanal aufgebracht wurde (Abb. 4). Es kam die Single-Cone-Technik zum Einsatz, wobei der mesiolinguale Guttaperchastift versehentlich um ein Viertel der Kanallänge nach koronal herausgezogen wurde (Abb. 5). Für den koronalen Verschluss wurde ein dentinadhäsiv (Adhese Universal, Ivoclar Vivadent) befestigtes Komposit (Tetric, Ivoclar Vivadent) appliziert.
Die Patientin wurde über den Behandlungsablauf informiert; zur Absicherung der klinischen Verdachtsdiagnose wurde zwei Tage später ein DVT angefertigt (Abb. 6 und 7). Auf diesem konnten der mesiobukkale Kanaleingang sowie der mesiobukkale Wurzelkanal dargestellt werden. Einen weiteren Tag später folgte die Präparation des mesiobukkalen Wurzelkanals, der zwar mithilfe des DVTs schnell aufzufinden war, jedoch eine ungewöhnlich stark extendierte Zugangskavität erforderlich machte (Abb. 8). In derselben Sitzung wurde die Wurzelkanalfüllung im mesiolingualen Kanal revidiert. Die Wurzelkanalfüllung wurde in der gleichen Weise wie bereits oben erwähnt durchgeführt (Abb. 9 und 10). Die Zugangskavität wurde ebenfalls wie schon nach der ersten Sitzung, diesmal jedoch deutlich erweitert, mit Komposit (Tetric, Ivoclar) verschlossen (Abb. 11). Die Rötgenkontrollaufnahme nach sechs Monaten zeigt reizlose apikale Verhältnisse (Abb. 12).
Diskussion
Pulpaobliterationen kommen, sofern sie nicht im Zusammenhang mit einem Trauma stehen, meistens bei Frauen nach dem 40. Lebensjahr und am häufigsten an Molaren vor11. Die Behandlung solcher Wurzelkanäle ist häufig eine große Herausforderung mit dem nicht unerheblichen Risiko einer Perforation12. Grundsätzlich lassen sich solche Verkalkungen mithilfe von Einzelzahnröntgenbildern diagnostizieren13. Bei überkronten Molaren mit röntgenopaken Rekonstruktionen ist dies allerdings nur eingeschränkt möglich. Daher sollte bei dieser Patientengruppe damit gerechnet werden, intrakanaläre Verkalkungen vorzufinden. Eine gute Möglichkeit zur Diagnostik von Kalzifikationen bietet in solchen Fällen das DVT. Natürlich muss im Sinne einer adäquaten Strahlenexposition bei jeder Aufnahme das ALARA-Prinzip („as low as reasonably achievable“) berücksichtigt und das Field of view entsprechend klein gewählt werden.
Aus einer Studie, die DVTs unter dem Aspekt der Zugangskavität für untere erste Molaren auswertete, ist bekannt, dass diese zumeist im mesiobukkalen Feld der Okklusalfläche angelegt werden muss14. Eine ausgedehnte Zugangskavität kann den Zahn entscheidend schwächen und somit das Frakturrisiko heraufsetzen. Traditionelle Zugangskavitäten, bei denen das Pulpadach komplett entfernt wird, erlauben hingegen eine bessere Einsicht im Vergleich zu konservativen Zugangskavitäten, bei denen vom Pulpadach lediglich so viel abgetragen wird, wie zum Auffinden der Kanaleingänge erforderlich ist15,16. Insbesondere für den mesiobukkalen Kanal des ersten Unterkiefermolars wurde gezeigt, dass es für die verbleibende Dentindicke im koronalen Drittel des Kanals keinen Unterschied zwischen traditioneller und konservativer Zugangskavität gibt, sofern der Kanal mit reziprokierenden Instrumenten präpariert wird17. In manchen Situationen können allerdings auch traditionelle Zugangskavitäten unzureichend sein. Ein Beispiel hierfür ist der vorliegende Fall mit einem überkronten ersten Unterkiefermolar. Hier musste entsprechend der DVT-Auswertung die Zugangskavität weiter als üblich in mesiobukkaler Richtung extendiert werden, um den mesiobukkalen Wurzelkanal zu erschließen.
Röntgenologisch diagnostizierte insuffiziente Kronenränder können die Ursache für eine apikale Parodontitis darstellen18. Ebenso scheint eine suffiziente Wurzelkanalfüllung in Kombination mit einem dichten koronalen Verschluss essenziell für den therapeutischen Langzeiterfolg zu sein19. Im Hinblick auf die äquivalente Bedeutung einer dichten prothetischen Rekonstruktion bei einer suffizienten Wurzelkanalfüllung wurde der Patientin eine neue Kronenversorgung empfohlen20.
Schlussfolgerungen
Es wurde gezeigt, wie schwierig die Erschließung der Wurzelkanäle eines überkronten ersten Unterkiefermolars sein kann. Selbst unter Verwendung des Dentalmikroskops können scheinbare Obliterationen zu einer Via falsa oder gar zu einer Perforation verführen. Erst im DVT wurde der Verlauf des mesiobukkalen Wurzelkanals dargestellt respektive eine vermutete Obliteration ausgeschlossen. Auf diese Weise wurden alle Wurzelkanäle des Zahnes 46 unter der Prämisse einer deutlich nach mesiobukkal extendierten Zugangskavität vollständig präpariert und gefüllt.
Ein Beitrag von Dr. Sohar Flisfisch, Basel, Prof. Dr. Edgar Schäfer, Münster
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