Die Nachfrage nach möglichst unauffälligen Zahnspangen bei Erwachsenen nimmt seit Jahren stark zu. Linguale Teil-Multibracket(MB)-Apparaturen eignen sich perfekt für die Behandlung einfacher bis moderater anteriorer Fehlstände. Häufig ist es jedoch schwierig, bei reduzierten Behandlungsapparaturen eine geeignete Verankerung für die Seitenzahnsegmente zu gewährleisten. Die Nutzung von CAD/CAM-gefertigten Verankerungs- und Bewegungseinheiten aus Edelstahl erweitert den Indikationsbereich dieser Apparaturen auf einfache Weise.
Die „Kieferorthopädie“ informiert viermal im Jahr über die neuesten Erkenntnisse und Entwicklungen aus Praxis und Wissenschaft. Die Beiträge befassen sich mit allen Sachgebieten der modernen Kieferorthopädie. Praxisnahe Patientenberichte und Übersichtsartikel bilden das Herzstück jeder Ausgabe. Kongressberichte, Buchbesprechungen, Praxistipps, Interviews und eine ausführliche Übersicht über kieferorthopädische Fortbildungsveranstaltungen runden das redaktionelle Spektrum ab. Eine Vielzahl von anschaulichen, zum größten Teil farbigen Abbildungen in optimaler Reproduktionsqualität illustriert die einzelnen Beiträge. Mit kostenlosem Zugang zur Online-Version recherchieren Abonnenten komfortabel online – auch rückwirkend ab 2003 im Archiv. Kostenloser Zugang zur App-Version für Abonnenten. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenlosen Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.
Einleitung
Newton stellte 1687 in seiner Schrift „Philosophiae naturalis principia mathematica“ seine drei Grundgesetze (Axiome) der Mechanik vor. Vor allem das 3. Axiom ist für die Kieferorthopädie von entscheidender Bedeutung.
LEX III: „actioni contrariam semper et aequalem esse reactionem, sive corporum duorum actiones in se mutuo semper esse aequales et in partes dirigi“.
Folglich kann eine Kraft (actio) nie alleine auftreten, sondern hat immer eine Gegenkraft (reactio), die an einem anderen Körper angreift (3. Newton´sches Axiom). Für den Kieferorthopäden ergibt sich dadurch die Notwendigkeit, Zähne, die nicht bewegt werden sollen, zu verankern1,2. Vor allem bei solitären Zahnbewegungen im anterioren Segment sind zusätzliche Verankerungsmechaniken indiziert, falls Seitenzähne nicht bewegt werden sollen.
Die Anzahl der erwachsenen Patienten die eine kieferorthopädische Behandlung in Erwägung zieht, ist in den vergangenen Jahren überproportional gestiegen3–5. Auch in Deutschland nimmt der Trend zur Erwachsenen-Kieferorthopädie immer mehr zu6. Zusätzlich wird die Motivation erwachsener Patienten zu kleinen ästhetischen Zahnstellungskorrekturen durch die Weiterentwicklung der Medizintechnik (Aligner, individualisierte Lingualapparaturen, etc.) weiter forciert7. Die Nachfrage nach möglichst unsichtbaren Zahnspangen steht bei dieser Patientengruppe im Vordergrund. Für die unauffällige Behandlung frontaler Engstände, leichter anteriorer Drehstände und Korrekturen von leichten bis moderaten Rezidiven eignen sich Aligner oder linguale Teil-MB-Apparaturen8,9. Sowohl Schienensysteme als auch reduzierte Lingualapparaturen sind jedoch vom Indikationsbereich limitiert, zudem stellen Teil-MB-Apparaturen den Behandler oft vor schwierige Verankerungssituationen, insbesondere im Seitenzahngebiet.
Burstone und Kuhlberg beschrieben im Jahr 2000 die klinische Anwendung von glasfaserverstärkten Kompositen (fiber reinforced composites, FRC) in der kieferorthopädischen Behandlung10. Dabei werden Zahngruppen, die mit glasfaserverstärkten Kompositen miteinander verblockt sind, als Verankerungs- oder Bewegungseinheiten zusammengefasst. Durch die Möglichkeit, einfache, ästhetische und biokompatible Verankerungseinheiten zu bilden, bietet sich die Anwendung von faserverstärkten Kompositen gerade bei der Anwendung von Teil-MB-Apparaturen als dentale Verankerung an. Nachteilig erweist sich hier jedoch die aufwendige Einbringung und Entfernung der glasfaserverstärkten Komposite. Weitere negative Aspekte einer Fiberglasverblockung sind die reduzierte Hygienefähigkeit, Verfärbungen und mögliche Frakturen bei nicht sachgemäßer Verarbeitung.
Die Fasern der FRC reagieren funktionell allerdings nur bei Zugbelastungen mechanisch verstärkend. Bei Druckbelastungen bieten sie keine ausreichende Festigkeit. Dahingegen wirken Metallverblockungen aufgrund ihrer Metallgitterstruktur sowohl bei Zug- als auch Druckbelastungen mechanisch verstärkend – ein ideales, rigides Verblockungsmaterial. Die rasche Entwicklung im Bereich der digitalisierten Herstellungsverfahren ermöglicht es, nun im CAD/CAM-Verfahren (computer-aided design/ computer-aided manufacturing) Verankerungseinheiten aus Edelstahl mit einer extrem hohen Passgenauigkeit bei maximaler Präzision herzustellen. Ziel des Artikels der Autoren Dr. Oliver Liebl, Yong-min Jo und ZTM Markus Gauggel für die Kieferorthopädie 3/19 ist es, ein durch die Verwendung neuartiger CAD/CAM-Verankerungseinheiten erweitertes Indikationsspektrum für linguale Teil-MB-Apparaturen zu beschreiben.
Digitaler Workflow
Im Sinne einer durchgehenden volldigitalen Prozesskette kann die kieferorthopädische Behandlung mithilfe digitaler Situationsmodelle komplett am Computer geplant und die entsprechenden Apparaturen und Verankerungssplints können per CAD/CAM-Verfahren hergestellt werden. Die Vorteile eines digitalen Workflows sind naheliegend. Dank vollständig digitalisierter Arbeitsabläufe und Integration der klinischen Patientendaten werden Arbeitsprozesse vereinfacht, Fehler minimiert, Ressourcen gespart und eine schnellere und genauere Fertigung der Behandlungsgeräte erzielt11.
Insbesondere in der Lingualtechnik hat sich das indirekte Kleben mit digitalem Setup weitestgehend durchgesetzt12. Gründe hierfür sind vor allem der eingeschränkte Zugang, die schlechte Sicht und die morphologischen Variationen der Lingual- und Palatinalflächen. Auf dem idealen Zielsetup werden die Bracketpositionen festgelegt und der Bogen angepasst. Die Position der virtuellen Brackets wird vom Setup-Modell auf das Malokklusions-Modell zurück übertragen (backwards planning). Anschließend werden die Brackets komplett individuell gefertigt, bzw. werden Konfektionsbrackets mit einer individuellen Basis versehen und Brackettransfertrays hergestellt. Die präzise virtuelle Positionierung der Brackets auf dem 3-D-Modell ist der Schlüssel zum klinischen Erfolg.
Durch Matching der Ist-Situation (3-D-Malokklusionsmodell) mit dem 3-D-Setup kann der Behandler sehr einfach den indizierten Verankerungsbereich festlegen (Abb. 1). Das Design der Verankerungseinheiten wird anschließend entsprechend den Vorgaben des Kieferorthopäden am Setup-Modell mithilfe einer 3-D-Modelling Software festgelegt und der Splint virtuell positioniert (Abb. 2 und 3).
Mit der Verwendung digitaler 3-D-Modelle ist eine präzise virtuelle Positionierung der Verankerungs- bezeihungsweise Bewegungseinheiten möglich. Insbesondere durch die Einbeziehung der individuellen bukkalen Zahnmorphologie und der interdentalen Septen sowie durch die Verwendung digitaler Prozessketten (Intraoralscan, 3-D-CAD-Planung, CAM-Fertigung) ist eine maximale klinische Passgenauigkeit zu erwarten13,14.
Fertigungsprozess
Die Verankerungseinheit wird in einem computergesteuerten subtraktiven Fertigungsverfahren aus 0,4 mm dicken Edelstahlplatten herausgelasert (Dimension des Werkstücks 0,4 x 0,4 mm). Der verwendete Werkstoff X10CrNi18-8 (1.4310) ist ein nicht rostender, metastabiler, austenitischer Stahl. Durch die starke Neigung dieses Federstahls zur Kaltverformung eignet sich der Werkstoff ideal zur Herstellung mechanisch stark beanspruchter Gegenstände. Zusätzlich wird durch das abtragende Herstellungsverfahren die Struktur des Metallgitters nicht verändert, potenzielle Sollbruchstellen werden minimiert.
Die Laserschnittkanten an der Verankerungseinheit werden anschließend an einer Vibrationsschleifeinheit mit Korund im Sinne eines Gleitschleifprozesses abgerundet (Abb. 4). Ein Silikontray dient als Übertragungshilfe, um den Splint indirekt adhäsiv einzugliedern (Abb. 5).
Klinische Anwendung
Die adhäsive Befestigung der CAD/CAM-Verankerung entspricht der Insertion von geklebt fixierten Lingualretainern und den Empfehlungen von Schumacher15. Wie bei jedem adhäsiven Verbund sind eine sorgfältige Arbeitsweise, ein trockenes Klebeumfeld und die strikte Einhaltung eines Klebeprotokolls Schlüsselelemente für eine erfolgreiche Befestigung.
Vorbereitung des CAD/CAM-Verankerungssplints
Zunächst wird der passgenaue Sitz der Verankerungseinheit vor dem Kleben mit einer optischen klinischen Überprüfung, sichergestellt (Abb. 6). Zur physikalischen Konditionierung und Oberflächenvergrößerung werden die Metallflächen des Splints mikromechanisch mit Al2O3 (Korngröße 50 µm) angeraut. Dabei ist der Substanzabtrag zu beachten, es sollte nur im 45-Grad-Winkel zur Oberfläche abgestrahlt werden6.
Anschließend wird das Werkstück gründlich gereinigt, entfettet und getrocknet (FokalDry, lege artis Pharma GmbH). Zur chemischen Konditionierung werden spezielle Metallprimer, die sogenannte funktionelle Monomere enthalten, verwendet (Metal Primer Z, GC Corporation). Die Adhäsion zwischen der Edelstahloberfläche und den Methacrylsäure-Molekülen des Adhäsivsystems wird durch den verwendeten Metalprimer aktiviert17,18.
Intraorale Verarbeitung
Die Zähne werden mit einer fluoridfreien Reinigungs- und Polierpaste (Proxyt, Ivoclar Vivadent AG oder Zircate Prophypaste, Dentsply Sirona) gereinigt. Unter relativer Trockenlegung mit einem Dryfieldsystem (Nola Dryfield System) und Parotiskissen wird die Schmelzoberfläche mit 35-prozentigem, viskösem Phosphorsäuregel (Ultraetch, Ultradent) für 20 Sekunden konditioniert und anschließend gründlich mit Wasserspray gereinigt. Überschüssiges Wasser wird verblasen. Die angeätzten Flächen sollten frostig weiß erscheinen. Ist dies nicht der Fall, muss erneut für 10 Sekunden geätzt werden. Mittels Microbrush wird ein hydrophiles Bondingsystem (Assure, Reliance Orthodontic Products) auf die Zähne aufgetragen und für 3 bis 5 Sekunden „einmassiert“ um die Penetration in das Ätzrelief des Zahnschmelzes und das Verdampfen des enthaltenen Lösungsmittels sicherzustellen. Sollten die gebondeten Schmelzareale nach Trocknung nicht glänzend erscheinen, muss eine weitere Schicht Bonding einmassiert und verpustet werden.
Die CAD/CAM-Verankerungseinheit wird mithilfe des Übertragungstrays eingesetzt und indirekt befestigt. Als Adhäsiv sollte idealerweise ein niedrigvisköses, injizierbares Hybridkomposit (Beautifil Flow Plus F03, Shofu) verwendet werden um die Steifigkeit, Bruchfestigkeit und Abrasionsstabilität zu erhöhen (Abb. 7). Die Klebeflächen sollten möglichst breitflächig gestaltet werden, um zusätzlich den Verbund zum Schmelz zur verstärken.
Mit einer Hochleistungspolymerisationslampe erfolgt die Aushärtung des Adhäsivs entsprechend den Verarbeitungsempfehlungen des Herstellers. Anschließend wird die Dispersionschicht mit einer Occlubrush oder einem Polierkelchen entfernt (Abb. 8).
Fallbeispiel
Die 59-jährige Patientin stellte sich in unserer Praxis nach Überweisung durch den Hauszahnarzt vor prothetischer Rehabilitierung vor. Die Anamnese war unauffällig.
Klinisch auffällig waren die Distalokklusion um 1/2 PB auf der rechten Seite, Neutralokklusion links mit deutlicher Schwenkung der Mandibula nach rechts und tiefer Biss. Die intraoralen Aufnahmen zeigten frontale Entstände in beiden Kiefern, Steilstand der Zähne 12–21, Bukkalkippung 22 und Rotationen der Zähne 13, 22, 23, 43–31 und 43 (Abb. 9).
Die FRS-Analyse ergab eine moderate mandibuläre Retrognathie mit vergrößertem ANB-Winkel, einem verringerten Interbasenwinkel und eine ausgeprägte Retroinklination der oberen Front. Im OPG zeigten sich Verschattungen gemäß endodontischer, konservierender und prothetischer Versorgung. Der horizontale Knochenverlauf war als gut zu bezeichnen. Der Zahnersatz sollte nach Abschluss der kieferorthopädischen Behandlung zum Teil erneuert werden. Die Kiefergelenke waren klinisch unauffällig und symptomfrei.
Trotz ausführlicher Beratung und Aufklärung über die Möglichkeiten einer medizinisch indizierten, umfassenden kieferorthopädischen-prothetischen Behandlung äußerte die Patientin den Wunsch lediglich die oberen Frontzähne ästhetisch auszuformen und eine Kompromissbehandlung durchzuführen.
Die Behandlung mit einer lingual befestigten Teil-MB-Apparatur (InOvation L mtm, Dentsply Sirona Orthodontics) wurde anhand eines Modellscans digital geplant und die Bracketbasen wurden entsprechend dem Setup individuell angepasst (Abb. 10a und b). Die Verankerungseinheiten wurde in einem CAD-Programm geplant und aus 0,4 mm X10CrNi18-8 mit einer Dicke von 0,4 mm im subtraktiven Herstellungsverfahren mithilfe eines Lasers gefertigt (Abb. 10c).
Die linguale Teil-MB-Apparatur (14–24) und die bukkalen CAD/CAM-Verankerungssplints (14–16 und 24–26) wurden entsprechend den Empfehlungen indirekt adhäsiv befestigt (Abb. 11).
Die aktive Behandlungszeit betrug fünf Monate, durch den Einsatz der Verankerungseinheiten haben sich in den Seitenzahnsegmenten keine reaktiven Zahnstellungs- und Okklusionsveränderungen, entsprechend dem 3. Newton´schen Axiom, entwickelt. Zur Stabilisierung des Behandlungsergebnisses wurde ein geklebt fixierter Retainer und eine Retentionsschiene eingegliedert (Abb. 12).
Schlussbetrachtung
Die Verwendung von individuell hergestellten CAD/CAM-Splints erweitert das Indikationsspektrum lingual befestigter Teil-MB-Apparaturen durch die Bereitstellung zusätzlicher Verankerungsmöglichkeiten und individueller Bewegungseinheiten. Das Design der Verankerungssplints kann zusätzlich modifiziert werden, um zusätzliche Behandlungsstrategien während der Lingualbehandlung zu ermöglichen, zum Beispiel Klasse-II-Mechaniken mit intermaxillären Gummizügen (Abb. 13). Sowohl von den Materialeigenschaften als auch in der Möglichkeit der Designmodifikation und nicht zuletzt in der einfachen klinischen Handhabung sind CAD/CAM-Verankerungseinheiten den konventionellen Glasfaserverstärkten Kompositsplinten weit überlegen. Durch den digitalen Workflow und die hochpräzise Fertigungsweise sind ein spannungsfreier und passiver Sitz des Werkstückes und damit ein optimales Verankerungsmanagement gewährleistet.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass digital geplante, individuelle kieferorthopädische Apparaturen und Utilities sowohl im additiven, aber auch im subtraktiven Fertigungsprozess schon heute einfach zu realisieren sind und einen echten klinischen Mehrwert bieten.
Ein Beitrag von Dr. Oliver Liebl, Wertheim, Yong-min Jo und ZTM Markus Gauggel, beide Hilden
Erstveröffentlichung in Kieferorthopädie 3/19
Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de