Nach Überzeugung der älteren Generationen soll es in diesem Land früher so etwas wie den gesunden Menschenverstand, auch Gemeinsinn oder Hausverstand genannt, gegeben haben. Betrachtet man die im politischen Berlin waltende Problemlösungskompetenz, die sich schlussendlich nicht nur in der Anzahl von Gesetzen, sondern auch deren Qualität manifestieren soll, so verbleibt als frustrierende Erkenntnis: Trotz der Rekordzahl von 736 Abgeordneten scheint es noch nicht einmal zur Schwarmintelligenz zu reichen.
Bürokratie schafft … mehr Bürokratie
Wo soll die Schwarmintelligenz auch herkommen, zeichnen sich doch die allermeisten Debatten des 20. Deutschen Bundstages durch die Absenz einer Vielzahl, häufig sogar der Mehrzahl der Parlamentarier aus. Das wäre doch die Chance der früheren Regierungs- und nun größten Oppositionspartei CDU/CSU. Leider Fehlanzeige. Und auch die Ausschüsse des Bundestags sind da offensichtlich keine qualitative Verbesserung für die jeweiligen Gesetzesvorhaben. Korrekte Analyse, richtige Argumente, aber falsche Partei – hier baut sich weder ein Schwarm noch (leider) Intelligenz auf.
Und so strotzen die Gesetze der vergangenen Jahre, insbesondere die im und für das Gesundheitswesen, vor immer kleinteiligeren Regelungen statt pragmatischer Lösungen, geschweige denn Problemlösungen! Der für dieses Jahr von Gesundheitsminister Lauterbach geplante Gesetzes-Tsunami lässt hinsichtlich der im Bundesgesundheitsministerium ausgebrüteten „Problem-Lösungen“ weiterhin Schlimmstes befürchten.
Das ALBVVG – ein Meilenstein ministerieller Problemlösungskompetenz
Mittlerweile stehen inklusive dem neuesten Machwerk mit dem nichtssagendem Akronym ALBVVG bereits 19 Verordnungen und Gesetze allein für dieses Jahre auf der BMG-Uhr. Ach ja, ALBVVG bedeutet nichts anderes als Arzneimittel-Lieferengpass-Bekämpfungs- und Versorgungs-Verbesserungs-Gesetz. Ziel des Gesetzes soll unter anderem sein, den in den vergangenen zwei Jahren zunehmenden Lieferschwierigkeiten für viele Basisarzneimittel Herr zu werden. Wir reden hier also nicht über die Medikamentenhochpreiser wie die zunehmende Verwendung findenden Biologicals, gentechnisch hergestellte komplexe Moleküle, sondern über die pharmazeutische Basisversorgung mit Generika. Also die je nach Blickwinkel preiswerten oder billigen Standardtherapeutika. Und das sind eben nicht nur Hustensäfte für Kinder, sondern auch Antibiotika, Antihypertensive etc.
Leider muss man im Sommer 2023 immer noch feststellen: Die Probleme sind seit Jahren bekannt und die möglichen Lösungsstrategien x-fach diskutiert, bis hin zu einer europäischen Initiative für die hiesige Produktion wichtiger Substanzen. Konnte man während der Coronakrise die Versorgungsschwierigkeit dem Riss vieler Lieferketten anlasten, ist diese Ausrede nun leider perdu. Denn das Verrückte ist: Von den Lieferschwierigkeiten war in der Hauptsache Deutschland betroffen – und ist es im Gegensatz zu den umliegenden Ländern noch immer.
Lauterbach: „Wir haben es mit der Ökonomisierung übertrieben“
Die Ursache zu erkennen ist wahrlich keine Raketenwissenschaft und sollte dem wirtschaftlich unbedarftesten Ministerialbeamten wie auch dem hartnäckig auf der Kostenbremse stehenden Kassenfunktionär beim Blick auf die medikamentöse Versorgungssituation in unseren Nachbarländern möglich sein: „Its the economy, stupid!“ (um einen Zigarren nicht abgeneigten US Präsidenten zu zitieren). Der Grund ist so banal, dass es schmerzt: Für jeden Unternehmer – das betrifft die niedergelassenen Zahnärztinnen und Zahnärzte ebenso wie Dentallabore, die Depots bis hin zur Dentalindustrie – muss der Preis für eine Leistung oder Produkt auskömmlich sein, ansonsten wird diese eben nicht erbracht. Kein Unternehmer kann es sich leisten – selbst die an Selbstausbeutung und Querfinanzierung gewohnten Leistungserbringer nicht – statt Geld zu verdienen eben dieses mitzubringen.
Was daran nicht zu verstehen ist, ist mir schleierhaft. Aber der bereits angesprochene Personenkreis will halt nicht von seinem höchst effektiven Einsparinstrument namens Rabattverträgen lassen. Zugegebenermaßen funktioniert dieses angesichts der Einsparvolumina höchst erfolgreich. Alleine im Jahr 2021 sparte man damit 5,1 Milliarden Kosten in der Arzneimittelversorgung. Und an dieser Stelle kommt der Springteufel aus der Kiste: Würde man der Versorgungssituation entsprechend reagieren, müsste nämlich an anderer Stelle gespart werden. Das verschiebt man das Problem lieber zu den Leistungeserbringern oder eben der Industrie.
Ansonsten müsste man eine Leistungseinschränkung den „eigenen“ Versicherten verklickern. Denn nicht immer kann man wie bei der neuen Parostrecke auf den „schuldigen“ Minister zeigen, der für die notwendige, aber eben auch mit Kostenerhöhungen verbundene neue Behandlungsform mal eben das Extrabudget gestrichen und den Niedergelassenen zusätzlich noch einen Budgetdeckel „draufgeknallt“ hat.
Doch zurück zu den Arzneimitteln. Anfang Juni verzeichnete das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) rund 490 Meldungen zu Lieferengpässen insbesondere für Generika wie zum Beispiel Kinder-Fiebersäfte, Antibiotika und Onkologika. Wir reden also nicht von Peanuts.
Halten wir fest: Ab einer – im Einzelfall sicher unterschiedlichen – Erlösgrenze steigt ein Unternehmer aus einem schlechten Geschäft aus. Er wird nicht unterhalb seiner Gestehungskosten liefern, schon gar nicht dauerhaft. Soweit so banal. Trotzdem schreibt Minister Lauterbach und das von ihm geführte Ministerium ernsthaft in das neue Gesetz, dass der pharmazeutische Unternehmer eine halbjährliche Zwangsbevorratung zu leisten hat. Wie soll das bei nichtauskömmlichen Preisen funktionieren? Oder bei laufenden Rabattverträgen, bei den die Zwangsbevorratung noch gar nicht einkalkuliert werden konnte?
Maximal reduzierte Preise haben keine Zukunft
Soll man solches Stückwerk nun gaga nennen? Allzumal man nur einige wenige Ausnahmen vorgesehen hat, ansonsten den grundlegenden Preisbildungsmechanismus bei den Rabattverträgen via Ausschreibung aber beibehält. Das ändert somit nichts am Kellertreppeneffekt der Preisbildung und schon gar nichts an der Liefersicherheit, wenn weltweit ein Wirkstoff nur von einem Hersteller synthetisiert wird.
Auf der Webseite des Ministeriums klingen die einzelnen aufgeführten Regelungen im Arzneimittel-Lieferengpass-Bekämpfungs- und Versorgungs-Verbesserungs-Gesetz konstruktiv und hilfreich. Allerdings nennt man wohlweislich die Relationen nicht. Hier einige wenige: ca. 2.500 Wirkstoffe, ca. verschreibungspflichtige 50.000 Fertigarzneimittel, ca. 79 Prozent betrug 2022 der Anteil der Generika an den Verordnungen, ca. 77 Prozent aller abgegebenen Packungen sind zudem festbetragsgeregelt. Nur für die Kinderarzneimittel werden die die Fest- und Rabattverträge abgeschafft, die Hersteller können die Preise um 50 Prozent auf Basis des zuletzt geltenden Festbetrages anheben. Es handelt sich um 493 Arzneimittel (Pharamazentralnummern [PZN], nicht Wirkstoffe!) von 46 Unternehmen.
Substanzielle Lösungen sehen anders aus. So lautet eine Regelung: Preisinstrumente für versorgungskritische Arzneimittel können im Fall einer Marktverengung gelockert werden. Gibt es bei wichtigen Arzneimitteln zu wenig Anbieter, können Festbetrag oder Preismoratorium einmalig um 50 Prozent angehoben werden. Aber: Wenn die Marktverengung nach den jetzigen Kriterien erkennbar wird, dann ist es für eine problemvermeidende Preislockerung bereits zu spät. Hoffen wir, dass es nur selten vorkommen möge. Doch die Zweifel überwiegen. Denn der sensus communis will sich nicht zeigen. Am mangelnden Alter der Bundestagabgeordneten kann es jedenfalls nicht liegen: 293 von 736 Abgeordneten sind 54 Jahre und älter, fünf Parlamentarier sind zwischen 74 und 83 Lenze alt.
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf