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Das Beispiel Apotheken und Arzneimittel zeigt, wie der Bundesgesundheitsminister denkt und trickst – eine Analyse von Dr. Uwe Axel Richter

(c) mikute/Shutterstock.com

Die neue Digitalisierungsstrategie umsetzen, eine Krankenhausreform auf den Weg bringen, Arzneimittel-Versorgungssicherheit per Gesetz verbessern, die Gematik zur digitalen Gesundheitsagentur umbauen – das sind bei weitem nicht alle Bälle, mit denen Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach derzeit jongliert. Leider übersieht der motorisch wenig begabte Minister, dass bereits einige Bälle trotz seiner Jonglierbemühungen als Stolperfalle auf dem Boden liegen.

„First things first“

Doch welchen Bällen die Aufmerksamkeit schenken? Denen, die mit viel Verbalakrobatik noch in der Luft gehalten werden? Oder denen, die bereits auf dem Boden liegen – bevor man drüber stolpert? Nun hat das Bild vom jonglierenden Minister Unterhaltungswert, sollte aber nicht überstrapaziert werden. Wie heißt es in der angelsächsischen Managementschule so schön: „First things first“. Was nichts anderes bedeutet, als sich der Realität zu stellen und die Aufgaben zu priorisieren. Zum Beispiel auf der Zeitachse: Drohende Krankenhausinsolvenzen, reale Arzneimittellieferengpässe, die Entbudgetierung der Kinderärzte auf die Reihe bekommen, eine funktionsfähige ePA, das auszurollende E-Rezept etc. pp. Das alles ist miteinander verbunden, aber systemisch wird in der bundesdeutschen Gesundheitspolitik schon lange nicht mehr gedacht, geschweige denn gehandelt.

Der „letzte Kittel“

Kein Wunder, dass der Gegenwind seitens der betroffenen Heilberufler steigt. Selbst die ansonsten eher wenig wahrnehmbaren – sagen wir leisen – Apotheker protestieren zunehmend lauter. Man reibt sich ungläubig die Augen: Die Apotheker agieren mit der Aktion der „letzte Kittel“ gemeinsam mit der IG Med, der Notwehr-Gemeinschaft der Ärzte, und machen offen Front gegen Lauterbachs Entscheidungen im Zuge des GKV-Finanzierungstärkungsgesetzes und des Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG).

Als Reaktion auf letztgenannten Entwurf hat die ABDA, das ist die Dachorganisation der deutschen Apothekerverbände und -kammern, folgenden Forderungskatalog an den Minister adressiert:

  • Erhöhung des Fixums auf zwölf Euro
  • Dynamisierung des Fixums
  • Pauschale für jede Betriebsstätte
  • Entscheidungsfreiheiten bei der Abgabe
  • Nullretaxation abschaffen
  • Finanzieller Ausgleich für die Bewältigung von Lieferengpässen
  • Kein Inkasso-Risiko beim Herstellerabschlag
  • Gemeinsames Medikationsmanagement mit der Ärzteschaft
  • Einschränkung des Präqualifizierung
  • Bürokratieabbau

„Aber werter Autor, was interessiert das die Zahnärzteschaft?“ – Nun, allein die Erhöhung des Fixums auf zwölf Euro pro Packung würde bei den Krankenkassen bereits mit rund 2,5 Milliarden Euro pro Jahr zu Buche schlagen. Utopisch? Angesichts leerer Kassen schon, aber andersherum betrachtet ist das ein sehr deutliches Signal dafür, was es kostet, eine maximal ausgepresste Zitrone zu revitalisieren. Will heißen, die Arzneimittelversorgungsstruktur in Deutschland zu erhalten. Des Weiteren fordert die ABDA eine Engpassprämie von 21 Euro bei nicht lieferbaren Arzneimitteln.

Zwischen Ministerium und den Apotheken liegen Welten

Und nun schauen wir mal, was im Referentenentwurf zum ALBVVG als Engpassprämie genannt wird: 50 Cent! Kein Witz, das steht da wirklich. Angesichts der realen Kosten sind die seitens der Ministerialbürokratie im Gesetzesentwurf offerierten 0,5 Euro für die erheblichen zusätzlichen zeitlichen und organisatorischen Aufwände, nicht lieferbare Arzneimittel zu besorgen oder gegebenenfalls zu ersetzen, Rücksprache mit dem behandelnden Arzt zu halten und den Patienten entsprechend aufzuklären nichts anderes als – ja was? Totale Ahnungslosigkeit? Affront? Oder nur der Versuch, das letzte Hemd – also die mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz versprochenen Einsparungen – irgendwie zu retten?

War mit „50 Cent“ der Rapper gemeint?

Die 50 Cent kann man als Testballon ja mal versuchen. Dann nämlich, wenn man Karl Lauterbach heißt und ganz fest an die eigene Verkündigung aus der ersten Märzwoche glaubt: „Die Lage hat sich, Gott sei Dank, deutlich entspannt.“ Die tägliche Erfahrung in den bundesdeutschen Apotheken ist jedoch eine ganz andere, wie eine aktuelle Befragung des Marktforschungsunternehmens „aposcope“ zeigt: Knapp 94 Prozent sehen in den Lieferengpässen aktuell die größte Herausforderung. Auch die anderen Ergebnisse der Umfrage lassen sich kaum mit der Einschätzung des Bundesgesundheitsministers vereinbaren.

Verfügbarkeit der Antibiotika sinkt weiter

So führen Antibiotika die Engpassliste mit 97 Prozent vor Fiebersäften- und Zäpfchen mit 84 Prozent und Hustenmitteln mit 83 Prozent an. Im Gegensatz zu der Behauptung des Gesundheitsministers hat sich die Verfügbarkeit von Antibiotika seit Dezember vergangenen Jahres sogar verschlechtert, bei den anderen Arzneimittelgruppen hingegen marginal verbessert. Derzeit seien 42 Prozent der Rezepte und Nachfragen von Lieferengpässen betroffen, 14 Prozent der Patienten können gemäß Aposcope nicht versorgt werden.

Die Hauptverantwortung für die Lieferengpässen sehen die Apotheker und Apothekerinnen mit 49 Prozent in der Politik, 38 Prozent bei den Krankenkassen. 96 Prozent fühlen sich von der Politik allein gelassen und 82 Prozent sind der Meinung, dass die Lieferengpässe im Laufe des Jahres noch zunehmen werden. Immerhin wurden in letzter Minute die Sars-CoV-2-Ausnahmeregelungen bei Lieferengpässen bis Ende Juli verlängert (ursprünglich sollten sie zum 7. April fallen).

Laut Apothekerschaft sind sie in 89 Prozent für die Versorgung essenziell. Im Einzelnen betrifft das die Abgabe von Teilmengen, Aut-simile-Austausch, Rezeptur statt Fertigarzneimittel, Tausch mit anderen Apotheken sowie den Einzelimport. Ein entsprechender Änderungsantrag der Ampel-Koalition war zwei Tage vor der Abstimmung im Gesundheitsausschuss noch „eingebaut“ worden.

Sparen versus Marktrealität

Dass die Krankenkassen ob der vorgenannten Austauschregeln und der damit einhergehenden Kosten not amused sind, liegt auf der Hand. Denn mit einer Prolongation der Sars-CoV-2-Ausnahmeregelungen bei Lieferengpässen können deren effektivste Kosteneinsparinstrumente (Rabatt- und Festbeträge) nicht ihre gewohnte Wirkung entfalten. Und damit die Kosteneinsparungen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes weiter in das Reich der Phantasie verschieben.

Generikaversorgung wird unsicherer

Doch die Geschichte über die Arzneimittelengpässe ist noch nicht zu Ende. An dieser Stelle sei nur daran erinnert, dass die Politik angesichts der Coronakrise bereits vor mehr als zwei Jahren erkannt hatte, dass die angespannten und teils zusammengebrochenen Lieferketten bei vorwiegender Produktion der generischen Arzneimittel in Asien einer überzeugenden nationalen beziehungsweise europäischen Antwort bedürfen. Passiert ist (natürlich) so gut wie nichts.

Kein Unternehmen kann sich negative Deckungsbeiträge leisten

Und so verwundert es schon nicht mehr, wenn es noch viel dicker kommen könnte. Denn die Generikahersteller haben bereits angekündigt, angesichts des hohen Kostendrucks bei Medikamenten, Präparate vom Markt nehmen zu wollen. Bei einer Umfrage unter zehn Herstellern, die zwei Drittel der in Deutschland benötigten Generika liefern, gaben 30 Prozent der Hersteller an, in den kommenden zwölf Monaten 10 bis 50 Prozent ihrer Arzneimittel aus dem Portfolio zu streichen, 70 Prozent der Hersteller wollen dies bei bis zu 10 Prozent ihrer generischen Präparate tun. Laut einem Bericht von „Apotheke Adhoc“ seien unter anderem – man höre und staune – auch Antibiotika betroffen.

„Whatever it takes“

Aber Minister Lauterbach ist nach wie vor fest davon überzeugt: „Die Liefersituation hat sich entspannt“. In demselben Brustton der Überzeugung und mit markigen Worten äußerte er sich kurz vor Weihnachten vergangenen Jahres angesichts der Lieferengpässe für Kinderarzneimittel: „Wir werden die Versorgung der Kinder sicherstellen, was immer dafür notwendig ist.“ Passiert ist seitdem wenig. Ob die für einige Produkte ausgesetzten Festbeträge wie auch die Abgabeerleichterungen den April überstehen werden, wird sich zeigen.

„Wasch dir den Pelz, aber mach mich nicht nass“

Kinder? Richtig, da war doch was. Im gleichen Zeitraum, in dem die Lieferausfälle für Kinderarzneien auftraten, meldeten auch die Kinderärzte aufgrund der massiv steigenden Infektionsfälle „Land unter“. Keine Kindermedikamente und eine unter maximalem Druck stehende ärztliche Versorgung der Lütten – da brennt schnell der politische Baum. Der ministerielle Löschversuch lautete „Entbudgetierung der niedergelassenen Kinderärzte“. Klingt wie eine sofort wirksame Maßnahme, war es aber nicht. Lauterbach kündigte zwar am 15. Dezember 2022 im Deutschen Bundestag höchstoffiziell an, die Budgetierung für die Kinderpraxen und -kliniken sofort auszusetzen. Nota bene: Die Worte lauteten „sofort“ und „Entbudgetierung“.

Doch nun begannen die ministerialen Tricksereien, aus „sofort“ und „Entbudgetierung“ eine möglichst kostengünstige Variante zu stricken. Im Zuge des Verfahrens schrieb der Bundesgesundheitsminister unter anderem an den Bewertungsausschuss, dass der Ausschuss anstelle einer sofortigen Entbudgetierung Entlastung zunächst für ein Quartal schaffen solle. Wer sich auf des Ministers Wort verlassen hatte, war mal wieder verlassen. Der Vorwurf des Wortbruchs seitens der Ärzteverbände folgte prompt. Das war 2022.

Entbudgetierung à la Lauterbach: zwei vor, einen zurück

Mittlerweile soll der zweite Entwurf des dafür notwendigen Gesetzes, angehängt an den Änderungsantrag zum Gesetz zur Unabhängigen Patientenberatung, zum 1. April 2023 in Kraft treten. Den ersten Entwurf hatte die die Ministerialbürokratie mit super komplizierten Regelungen im Laufe des Februars endgültig zu Tode geritten. Und auch wenn sich die Politik nun für „diesen überfälligen Schritt“ „für mehr Versorgungssicherheit“ und „eine steigende Attraktivität für Kinderärzte sich niederzulassen“ feiert, ist auch die neue Regelung „figelinsch“ (norddeutsch für „kniffelig kompliziert“), also mit Fingerspitzengefühl anzufassen. Erstens soll die Neuregelung rückwirkend zum 1. April 2023 gelten. Zweitens ist das 2. Quartal, wohlgemerkt dieses Jahres, als erstmalige Festlegung der Gesamtvergütung definiert. Und natürlich soll nach dem Wunsch des Ministeriums das teure 4. Quartal 2022 ausgeklammert werden. Im 2. Quartal 2023 dürfte die Erkältungs- und Infektionssaison „durch“ sein.

Positiv anzumerken ist, dass der „volle Euro-Punktwert“ für alle kinderärztlichen Leistungen gelten wird. Damit ist die absurde Ausgrenzung der speziellen kinderärztlichen Leistungen (Kardiologie, Onkologie, Pneumonie, Gastroenterologie) passé. Für diesen Coup lässt sich nun die FDP feiern. Zitat FDP-Gesundheitspolitiker Prof. Dr. Andrew Ullmann: „Jetzt wird endlich das bezahlt, was an Behandlungen stattfindet. Das können wir als partielle Entbudgetierung ansehen.“ Ob ihm wirklich klar ist, was er da von sich gegeben hat?

Schaufenster-Milliarden für die Kliniken

Und was ist mit den vielen Kliniken, denen die Insolvenz droht oder die sie bereits anmelden mussten? Hier versprach der Minister den Kliniken, für die Zeit von Oktober 2022 bis April 2024 sechs Milliarden Euro des Bundes als Härtefallfonds zur Verfügung zu stellen. 1,5 Milliarden Euro als bettenabhängige Pauschale, der Rest abhängig von den tatsächlichen Energiekosten. Klingt gut, aber Sie ahnen es bereits: Der Härtefallfonds ist gemäß den Worten des DKG-Chefs Gerald Gaß so konstruiert, dass die meisten Fälle nicht berücksichtigt würden. „Die versprochenen Milliarden-Hilfen werden zu reinen Schaufenster-Milliarden.“

Das Handlungsmuster ist gleich

Unterschiedliche Bereiche im Gesundheitswesen, ein Handlungsmuster. Lassen wir es an dieser Stelle mit diesen Beispielen bewenden. Fakt ist: Ankündigungen des Ministers à la „Ich habe verstanden“ folgen meistens Taschenspielertricks, um Zusagen zu relativieren, am besten wieder einzukassieren.

Lauterbach kommt zwar auch aus dem Rheinland, sein Handeln hat jedoch nur wenig zu tun mit dem alten Spruch des Ur-Rheinländers Konrad Adenauer: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern“. Denn der zweite, gerne vergessene Satzteil lautete: „Nichts hindert mich, weiser zu werden“.

Ich sehe schwarz …

Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf


Foto: Verena Galias
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.

 

 

Quelle: Quintessence News Politik Nachrichten Wirtschaft

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