Das Stresserleben von Beschäftigten in der ambulanten Versorgung war in der frühen Phase der Corona-Pandemie vergleichsweise hoch – höher als beim medizinischen Personal in den beiden anderen Sektoren des Gesundheitssystems, der Krankenhausversorgung und der präklinischen Notfallversorgung. Zu diesem Schluss kommt eine disziplinübergreifende Studie an der Universität Heidelberg, die auf einer Befragung zur Stressbelastung im Frühling und Frühsommer 2020 basiert. Die Ergebnisse zeigen, dass maßgeschneiderte Bewältigungsstrategien notwendig sind, um pandemiebedingten Stressoren entgegenzuwirken.
Die Studie unter Leitung von PD Dr. Marie Ottilie Frenkel vom Institut für Sport und Sportwissenschaft der Universität Heidelberg basiert auf Daten aus einer Online-Befragung, die im Frühling und Frühsommer 2020 unter Fachkräften mit Kontakt zu Covid-19-Patienten in Deutschland durchgeführt wurde. Langfristiges Ziel der Forschungsarbeiten ist es, die Stressbelastung in den jeweiligen Gesundheitssystemen international zu vergleichen, um dann systematisch dagegen vorzugehen.
Das Team von Psychologen, Medizinern und Sozialwissenschaftlern ist innerhalb der Umfrage auch der Frage nachgegangen, wie sich diese Faktoren auf das psychologische Stresserleben der Teilnehmer ausgewirkt haben und welche Bewältigungsstrategien sie als effektiv bewerteten. Zwischen Mitte April und Anfang Juni 2020 wurden hierfür 575 Fachkräfte befragt. Sie waren im ambulanten Sektor, im Krankenhaus oder in der präklinischen Notfallversorgung tätig.
Stressauslöser änderten sich mit der Zeit
„In der ersten Welle der Covid-19-Pandemie gehörten nach unseren Ergebnissen insbesondere Angst vor Ansteckung, Unsicherheit und mangelndes Wissen sowie Sorgen um das Team zu den latent auftretenden Stressfaktoren“, erläutert Frenkel. Diese Faktoren trugen in allen drei Sektoren gleichermaßen zum psychologischen Stress der Befragten bei, ebenso wie die Befürchtung, dass das Privatleben aufgrund der hohen Arbeitslast beeinträchtigt wird. Dennoch waren im Durchschnitt die Stresslevel nach den Worten von Dr. Stefan Mohr, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Klinik für Anästhesiologie am Universitätsklinikum Heidelberg, nur mäßig hoch – auf einer Skala von 1 (gar nicht gestresst) bis 5 (extrem gestresst) lag der Wert im Schnitt bei 3,2. Es zeigten sich jedoch deutliche Unterschiede in den drei Bereichen, in denen die Beschäftigten befragt wurden. So empfanden in der ersten Welle der Pandemie die Fachkräfte in der ambulanten Versorgung mehr Stress als die Befragten im Krankenhaus und in der präklinischen Notfallmedizin.
Jeder Sektor hat spezifische Stressoren
Wie die weitere Auswertung zeigt, waren die Beschäftigten in der präklinischen Notfallversorgung weniger erschöpft als die Befragten in den anderen beiden Sektoren. Sie machten sich jedoch bedeutend mehr Sorgen um die Kolleginnen und Kollegen als etwa die Gruppe des Krankenhauspersonals. Für die aktuelle Situation berichtet Prof. Dr. Erik Popp, Leiter der Sektion Notfallmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg: „In der Präklinik wirkt es sich positiv aus, dass es genug Schutzausrüstung gibt und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Umgang damit geübt sind. Gut ist auch, dass die meisten ihre dritte Impfung schon erhalten haben. Andererseits haben wir aktuell sehr hohe Inzidenzen und damit eine deutlich gestiegene Wahrscheinlichkeit, in der Notfallversorgung auf Patienten mit Covid-19 zu treffen.“ Im klinischen Bereich wiederum trägt insbesondere der tägliche Kampf um das Überleben schwer erkrankter Patientinnen und Patienten zu einer hohen psychischen und physischen Belastung bei, wie Prof. Dr. Markus Weigand, Ärztlicher Direktor der Klinik für Anästhesiologie am Universitätsklinikum Heidelberg, die aktuelle Lage schildert. Auch im ambulanten Bereich, etwa in der Kinder- und Jugendmedizin, ist nach den Worten von Prof. Dr. Benedikt Fritzsching, niedergelassener Kinderarzt in Heidelberg, der Stresspegel weiterhin hoch.
Zusammenhalt des Teams und Zeit für Familie wichtig
Als wirksame Bewältigungsstrategien führten die Befragten aus der ersten Welle der Pandemie neben dem Gebot, Abstand zu halten, und der Maskenpflicht auch Training, Erfahrung und Wissensaustausch an. Weiter deuten die Ergebnisse der Studie darauf hin, dass Beschäftigte im Gesundheitsbereich von Strategien profitieren, die das soziale Umfeld einbeziehen. „Die Belastung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist sehr hoch, da seit Beginn der Pandemie mit Ausnahme weniger Wochen kontinuierlich Covid-19-Patienten mit hohem Engagement intensivmedizinisch behandelt werden. Hier spielt der Zusammenhalt des Teams eine wichtige Rolle“, berichtet Prof. Dr. Uta Merle, Kommissarische Ärztliche Direktorin der Klinik für Gastroenterologie, Infektionen, Vergiftungen am Universitätsklinikum Heidelberg. Tragen am Arbeitsplatz insbesondere Zusammenhalt und Wissensaustausch unter Kollegen dazu bei, psychologischen Stress abzufedern, sollten nach Erkenntnissen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darüber hinaus die Arbeitszeiten so organisiert sein, dass im privaten Umfeld genügend Zeit mit Familie und Freunden verbracht werden kann.
Besser gerüstet für Pandemiezeiten
Die Ergebnisse der Studie sollen dazu beitragen, die Entscheidungsfindung und das Verhalten von medizinischen Ersthelfern in stressigen und risikoreichen Notfallsituationen besser zu verstehen und dank geeigneter Interventionen zu verbessern. Dr. Frenkel: „Insbesondere bei Pandemien ist die internationale Abstimmung von ressourcenstärkenden, präventiven und reaktiven Maßnahmen für Beschäftigte im Gesundheitswesen eine wichtige Voraussetzung für die effektive Bekämpfung.“ Die Forschungsergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Plos One“ veröffentlicht.