Vor 40 Jahren beschreibt Mulligan1 den Ruderbooteffekt (rowboat effect) als „tendency for the maxillary teeth to move forward during anterior lingual root torque“. Man erkennt den Widerspruch: Ein lingualer Wurzeltorque, der eigentlich die Wurzeln der Schneidezähne nach palatinal bewegen soll, bewegt stattdessen die Oberkieferzähne nach ventral. Später wird den Straight-Wire-Apparaturen in diesem Zusammenhang der Vorwurf gemacht, durch den Ruderbooteffekt ein Einschmelzen der Verankerung (burning anchorage) zu verursachen2. Dies erscheint zunächst erstaunlich, weil ein reines Drehmoment, sei es Rotation, Tip oder Torque, einen freien starren Körper zwar um seinen Schwerpunkt dreht, ihn aber nicht in eine Richtung zu bewegen vermag (Abb. 1). Vielmehr bewegt sich die Krone in die eine Richtung und die Wurzel in die entgegengesetzte Richtung. Wie soll es da zur Fortbewegung des Zahns kommen? Grundsätzlich ist es unerheblich, ob der starre Körper „Zahn“ extrahiert auf dem Tisch liegt (A in Abb. 1) oder körperumhüllend homogen und isotrop über ein Parodontalligament im Knochen aufgehängt ist (B in Abb. 1), wie es beispielsweise bei einem retinierten Zahn der Fall ist: Kronen- und Höckerspitze bewegen sich immer in entgegengesetzte Richtungen, der Zahn selbst bleibt jedoch an Ort und Stelle stehen, weil sich sein Schwerpunkt nicht fortbewegt (C in Abb. 1). Unter diesen Voraussetzungen ist es also nicht möglich, den Zahn fortzubewegen. Die generelle Frage stellt sich somit: Wie soll es durch ein reines Moment zu der von Mulligan beschriebenen Zahnbewegung1 kommen? Diesen Effekt und die daraus entstehenden Fragen diskutiert Autor Dr. Franz-Peter Schwindling in seinem Beitrag für die Kieferorthopädie 2/2020.
Die „Kieferorthopädie“ informiert viermal im Jahr über die neuesten Erkenntnisse und Entwicklungen aus Praxis und Wissenschaft. Die Beiträge befassen sich mit allen Sachgebieten der modernen Kieferorthopädie. Praxisnahe Patientenberichte und Übersichtsartikel bilden das Herzstück jeder Ausgabe. Kongressberichte, Buchbesprechungen, Praxistipps, Interviews und eine ausführliche Übersicht über kieferorthopädische Fortbildungsveranstaltungen runden das redaktionelle Spektrum ab. Eine Vielzahl von anschaulichen, zum größten Teil farbigen Abbildungen in optimaler Reproduktionsqualität illustriert die einzelnen Beiträge. Mit kostenlosem Zugang zur Online-Version recherchieren Abonnenten komfortabel online – auch rückwirkend ab 2003 im Archiv. Kostenloser Zugang zur App-Version für Abonnenten. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenlosen Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.
Modellierung des inhomogen aufgehängten Körpers
Anders stellt sich die Situation dar, wenn ein starrer Körper in einem lebenden biologischen System asymmetrisch, inhomogen und anisotrop – wie der natürliche Zahn im Knochen – über das Parodont aufgehängt ist (siehe Abb. 2), die ihn umgebenden Strukturen einen deutlich differenzierten Widerstand gegen die Zahnbewegung aufbringen, wie dies am E- beziehungsweise Kompressionsmodul sichtbar wird.
In vivo ragt die Zahnkrone frei in die Mundhöhle, ist nicht parodontal aufgehängt, und kann nur durch die Okklusions- und Nachbarschaftsbeziehungen mit den anderen Zähnen an der freien Bewegung gehemmt werden. Die Wurzel dagegen ist über das Parodontalligament mit einem E-Modul von etwa 5 MPa3 im Knochen aufgehängt. Dadurch wandert die Torqueachse vom grauen Schwerpunkt eines extrahierten Zahns in Richtung auf das grüne In-vivo-Widerstandszentrum (gestrichelte Linie in A in Abb. 2).
Nach einer Torqueauslenkung von vielleicht 0,2 mm hemmt der Apex-Knochenkontakt die Bewegung für die nächsten ein bis zwei Wochen, während sich die Krone aus geometrischen Gründen noch etwa fünfmal soweit bewegt (ca. 1 mm [B in Abb. 2]). Der E-Modul der Spongiosa ist mit einem Wert von 0,2 GPa4 im Vergleich zu 5 MPa für das Parodontalligament 400-mal so groß. Der Knochenkontakt wirkt dadurch wie ein Prellbock, der auf den Apex die rote Kraft FBone nach ventral erzeugt und gleichzeitig am Widerstandszentrum das Drehmoment von der Apparatur reduziert, sodass sich hier ein M/F-Quotient von +5 mm einstellen kann (siehe C in Abb. 2). In dem Augenblick verlagert sich der neue Drehpunkt an den Apex und wir haben es mit einer Kraft-Moment-Kombination zu tun, die den Zahn zusätzlich zu seiner Torquebewegung körperlich versetzt und die Krone weiterhin nach ventral bewegt, während die Wurzel stehen bleibt.
Im jugendlichen elastischen Knochen endet die physikalische Phase der Zahnbewegung mit einer durch das kontrollierte Kippen hervorgerufenen minimalen Verformung des Limbus alveolaris. Diese Verformbarkeit ist wegen der Flächenträgheitsmomente5 am Limbus etwa 40 Prozent größer als an der apikalen Basis. Dadurch wandert die Krone ein weiteres Stück nach ventral. Mit dieser Spannungsdifferenz im Parodont beginnt nun über eine Transmitterkaskade die zweite (biologische) Phase der Zahnbewegung. Dort, wo die Knochenauslenkung am größten und die Fibrillendehnung am geringsten ist, beginnt der Knochenabbau und der Parodontalumbau6 – also wieder am koronalen Drittel des Alveolenknochens.
Somit wandert die Krone erneut mehr als der Apex und es manifestiert sich der Ruderbooteffekt (Abb. 3): Der Ruderer (= Torquefeder) erzeugt mit dem Riemen in der Dolle ein möglichst hohes Drehmoment in möglichst kurzer Zeit ∆t, das am Riemenblatt (= Wurzelapex) den Kraftstoß ∆t•F auslöst. Durch den Wasserwiderstand bleibt das Riemenblatt für die kurze Zeitspanne ∆t quasi stationär im Wasser stehen und die an die Dolle versetzte Kraft FH2O verschiebt Dolle, Boot und Ruderer (= Zahnkrone) in Richtung des Rückens des Athleten. Tabelle 1 gibt zusammenfassend eine Übersicht über die im beschriebenen Modell verwendeten physikalischen Größen und Parameter3–5,7.
Nun mögen Modellierungen ja schön sein, sie sind aber nur solange sinnvoll, wie sie in vivo überprüfbar und verifizierbar sind. Die folgenden zwei Beispiele sollen daher klinisch die Kronenbewegung durch kontrolliertes Kippen, verursacht über reine Momente, darstellen.
Ruderbooteffekt zweiter Ordnung – Kronentip
Abbildung 4 zeigt den Ruderbooteffekt von Zahn 43 bei einer zwölfjährigen Patientin mit vertikalem Wachstumsmuster. Zur Lückenöffnung von Zahn 45 wurde eine Aufrichtefeder so aktiviert, dass auf die Zähne 43 und 46 zwei gleich große, entgegengesetzt gerichtete Drehmomente und keine Kräfte wirken. Nach zwei Monaten sieht man deutlich die überkorrigierte Lückenöffnung durch die Kronenbewegung des Zahns 43. Sein Wurzelverankerungspotenzial ist so dominant, dass er den angrenzenden Prämolar 44 und die Schneidezähne „kostenlos“ mitbewegt. Zum gleichen Ergebnis wäre man gekommen, wenn der Arzt eine Schraubendruckfeder („open coil“) auf Höhe der Schmelz-Zement-Grenze hätte ansetzen lassen. Dies wäre nicht nur mit Mehraufwand verbunden gewesen, sondern hätte die Zahnkrone des Eckzahns 43 nach mesial-innen-distal-außen rotiert.
Ruderbooteffekt dritter Ordnung – Kronentorque
Abbildung 5 zeigt die Kronenbewegung der Zähne 11 und 21 zur Korrektur ihrer invertiert-extrudierten Position bei der schmalen Deckbisssituation einer 32-jährigen Patientin. Das therapeutische Wunschkräftesystem am Widerstandszentrum ist ein Aufrichtemoment dritter Ordnung (Torque) am grünen Widerstandszentrum, gepaart mit einer Intrusionskraft zur Verkleinerung des Overbite (A in Abb. 5). Dazu greift ein Kragarm von den Molaren kommend am Schneidezahnbracket an, wo er nur eine Kraft und kein Moment erzeugt (B in Abb. 5). Obwohl man von dem Moment jetzt eigentlich erwarten würde, dass es die mittleren Schneidezähne um das grüne Widerstandszentrum torquen würde, ist dies nicht der Fall (D in Abb. 5). Die blaue Drehachse der Torquebewegung liegt vielmehr am Apex und entspricht einer kontrollierten Kippung; nur dass man die Bewegung in diesem Fall „labialer Kronentorque“ nennt und als Ursache dafür den Ruderbooteffekt identifiziert.
Modifizierung des Ruderbooteffekts
Jede Maßnahme, die geeignet ist, die Bewegung der Zahnkrone zu verhindern, stoppt auch den Ruderbooteffekt und dreht die Bewegung insofern um, als sich nun die Wurzelspitze mehr bewegt und die Krone stehen bleibt. Umgekehrt lassen sich Situationen finden, die die Kronenbewegung unterstützen.
Die sichere Okklusion
Da die okklusalen Kontakte beim horizontalen Wachstum erhöht sind, findet man beim brachyfazialen Gesichtstyp auch eine reduzierte Kronenbewegung, meist einhergehend mit einer verstärkten Zahnlockerung durch die Muskelaktivität. Patienten mit vertikalem Wachstumsmuster dagegen zeigen sich Kronenbewegungen gegenüber sehr offen. Hier kommt es im Verlauf der Behandlung häufig zur Bissöffnung.
Der Nachbarzahn im gleichen Kiefer
Eine intakte Wirkungslinie hemmt die Kronenbewegung, weil die bewegte Krone an die Nachbarkrone anstößt und die Bewegung dadurch gehemmt wird. Kronenaußenstände oder Kulissenstellungen geben der Krone dagegen die Möglichkeit, an den Nachbarn vorbeigleiten zu können.
Unterschiede im Verankerungspotenzial der Zähne
Eckzähne mit ihrem massiven Wurzelfundament werden sich durch grazile seitliche Schneidezähne nicht beeinflussen lassen. Wenn die Eckzahnkrone wandert, dann nimmt sie kleine seitliche Schneidezähne mit in die Bewegung hinein.
Anordnung der Wirkungslinie
Eckzähne stehen am Übergang von seitlicher zu frontaler Wirkungslinie, quasi in der Kurve. Bei einer Kronenbewegung kann die Eckzahnkrone die seitlichen Schneidezähne leicht überholen.
Zahnbewegungen in den freien Raum
Kronenbewegungen nach labial und bukkal erfolgen leichter, weil die Krone nur durch die Lippen- und Wangenmuskulatur gehemmt werden könnte. Entsprechend schnell können beim forcierten Vorgehen Rezessionen entstehen.
Höhe des Limbus alveolaris
Patienten mit Attachmentverlust zeigen eine ausgeprägte Tendenz zur Kronenbewegung. Der Limbus alveolaris ist in der Höhe reduziert und verliert so seine Zügelungswirkung.
Muskelbruxismus
Ausgeprägte Formen von Lippen- und Zungenpressen können die Kronenbewegung hemmen.
Verriegelungsmechanismen
Diese wirken der Kronenbewegung am sichersten entgegen, weil sie die Zahnkronen durch Achterligaturen, Cinch-back-Biegungen oder Tie-back-Ligaturen an Ort und Stelle halten. Allerdings erzeugen Zwangsmaßnahmen Gegendruck. Bindet man also eine Krone an einer anderen fest, dann wird a) entweder die andere mitgenommen, wenn der Ruderbooteffekt stark genug ist – das kann zu einem Verankerungsverlust führen, oder b) die Kronenbewegung der Ausgangskrone gehemmt, dann bildet sich im Laufe der Zeit eine Kombination aus Kronen- und Wurzelbewegungsanteilen heraus.
Zusammenfassung
Zähne, die unter zweiter und dritter Ordnung ein reines Tip- oder Torquemoment erfahren, bewegen in der biologischen Phase II der Zahnbewegung zuerst ihre Kronen („crown first“), während die Apices relativ in Ruhe bleiben. Ursache dafür ist das Zusammenspiel von Statik und Biologie zu verschiedenen Zeitpunkten. Möchte der Behandler dagegen gezielt Zahnwurzeln bewegen, sind erhebliche Anstrengungen hinsichtlich der Konstruktion und der Verankerung erforderlich, die in einem anderen Beitrag besprochen werden sollen.
Ein Beitrag von Dr. Franz-Peter Schwindling, Merzig
Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de