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Patente und wie sie die Welt der Kieferorthopädie verändert haben
Patentanwalt Dr. rer nat. Dipl. Biol Ulrich Storz über die Patent-Story und den Siegeszug der Aligner
(c) chainarong06/Shutterstock.com
Transparente Aligner haben die kieferorthopädischen Behandlungsoptionen in den vergangenen zwei Jahrzehnten entscheidend erweitert. Wesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen hat die Firma Align Technology aus den USA mit ihrer Marke „Invisalign“. Zwar hat Align Technology die transparenten Aligner nicht erfunden, aber zum richtigen Zeitpunkt durch Digitalisierung zu einem trotz Individualisierung in Masse – und damit industriell – herstellbaren Produkt gemacht. Dabei hat Align Technology in einem bis dahin für die Branche nicht bekannten Maß auf Patentschutz gesetzt, um seine Innovationen zu schützen und Wettbewerber abzuschrecken.
Wie Align Technology das versucht hat, welche Rolle Patente dabei spielten und warum es inzwischen doch eine Vielzahl von Wettbewerbern am Markt gibt, davon handelt dieser Beitrag.
Die Anfänge
Die Anfänge der Aligner-Therapie sind allgemein gut bekannt und deshalb schnell erzählt. Erste Ansätze, für die kieferorthopädische Korrektur statt auf Drähte auf elastische Polymere zu setzen, stammen bereits aus der Zeit um Ende des Zweiten Weltkriegs. 1945 entwickelte der amerikanische Kieferorthopäde Harold Kesling den sogenannten „Positioner“. Diese einstückige, beide Zahnbögen umfassende und aus zumeist schwarzem Kautschuk bestehende Vorrichtung war zunächst für die Verwendung im Anschluss an eine Zahnspangentherapie vorgesehen, also etwa wie die modernen Retainer. Kesling erkannte bereits schon damals, dass seine Positioner – oder vielmehr eine Serie derselben – auch für die inkrementelle Therapie von Zahnfehlstellungen verwendet werden könne. Allerdings schien ihm klar zu sein, dass die Zeit damals für eine solche Weiterentwicklung noch nicht reif war.1
In den 1960er-Jahren entwickelte Henry Nahoum2 die Technik weiter, indem er Tiefziehverfahren verwendete, um Platten aus thermoplastischen Material über Gipsmodelle zu ziehen und so Zahnschienen herstellte. Die bei dieser Technik verwendeten Gipsmodelle konnten auch modifiziert werden, indem die zu repositionierenden Zähne aus dem Modell herausgesägt, mit Wachssockeln versehen neu auf dem Modell platziert und dann im Sinne der anzustrebenden Korrektur gekippt oder gedreht wurden, bevor per Tiefziehen dann die Korrekturschiene hergestellt wurde. Die Herstellung mehrerer inkrementeller Aligner war jedoch schon deswegen nicht möglich, weil das Wachs beim Tiefziehen weich wurde und so spätestens nach Entnahme der fertigen Korrekturschiene das Gipsmodell unbrauchbar geworden war.
„Invisible Retainer“ schon in den frühen 1970er-Jahren
Robert Ponitz verwendete in den frühen 1970er-Jahren erstmalig durchsichtige Platten oder Folien zum Tiefziehen, und prägte den Begriff „invisible Retainer“.3 Wie der Name schon sagt, verwendete er die Schienen vorwiegend als Retainer, allerdings waren auch begrenzte kieferorthopädische Zahnbewegungen möglich.
In den frühen 1980er-Jahren entwickelten James McNamara und William Brudon4 die Technik weiter, indem sie einen Millimeter dicke Biocryl™-Folien und ein Biostar-Vakuumtiefziehgerät verwendeten, was eine feinere Detaillierung der resultierenden Zahnschienen erlaubte.
Industrielle Umsetzung durch Nicht-Zahnmediziner
1997 dann gründeten die Stanford-Studenten Zia Chishti und Kelsey Wirth Align Technology. Obwohl keiner der beiden Erfahrung in der Kieferorthopädie hatte (Chishti hatte einen Abschluss in Wirtschaft und Informatik, Wirth in Literatur und amerikanischer Geschichte), erkannten beide das Potenzial transparenter Aligner, insbesondere bei Verwendung digitaler Techniken wie 3D-Scanverfahren, CAD und 3D-Druck/Rapid Prototyping. Bereits 1997 reichten sie auch ihre erste Patentanmeldung ein, und 2001 konnten sie bei einem Börsengang 130 Millionen US-Dollar einsammeln.
Das Geschäftsmodell von Align Technology bestand darin, zunächst einen Abdruck vom Istzustand eines Patienten zu nehmen und diesen dann per 3D-Scan zu digitalisieren. Im Computermodell konnten dann die Positionen der fehlstehenden Zähne sukzessive korrigiert werden. Dabei konnten inkrementelle Übergangzustände definiert und von diesen jeweils ein Kiefermodell ausgedruckt werden, das dann zum Tiefziehen von Alignern verwendet wurde. Auf diese Weise konnte dann eine beliebig große Serie von inkrementellen Alignern für einen Patienten hergestellt werden, ohne dass jeweils neue Abdrücke genommen werden mussten. Dieser Ansatz ermöglichte es Align Technology, trotz Individualisierung Aligner, die bis dahin mehr oder minder handwerklich hergestellte Einzelanfertigungen waren, erstmals in industriellem Maßstab herzustellen. Hierzu wurden in Mexiko eine Fertigungsstraße aufgebaut und CAD-Spezialisten ausgebildet, die nicht notwendigerweise eine kieferorthopädische Ausbildung hatten.
Die Absicherung: Align Technology’s Patentstrategie
Wo große Investitionen in Technologie anstehen, sind Patente nicht weit. Aus der im Juni 1997 eingereichten Patentanmeldung leitete Align Technology mit Wirkung für Europa mindestens neun Patentanmeldungen ab, von denen dann fünf erteilt wurden. Da der zugrundeliegende Anmeldetext all dieser Anmeldungen sehr breit gefasst war, gelang es dem Unternehmen, für die fünf verschiedenen Patente Anspruchssätze zur Erteilung zu bringen, die jeweils unterschiedliche Aspekte des neuen Geschäftsmodells abdeckten. Tabelle 1 gibt eine Übersicht über diese fünf Patente.
Dabei ist es nicht geblieben. Align Technology meldete im Laufe der Jahre weitere 600 Patentfamilien an. Eine derart umfangreiche Patentstrategie war 1998 im Bereich der Kieferorthopädie neu. Zwar hat beispielsweise Harold Kesling seine Erfindung schützen lassen (US Patent US2467432A), der Großteil der damaligen Patente im Bereich Kieferorthopädie bezog sich aber auf Dentalmaterialien und Zulieferteile, wie Brackets.
Tabelle 1: Übersicht über Aligns EP Patente aus der ersten Patentfamilie Quelle: Storz
Neue Entwicklung für den ärztlichen Bereich
Da in den meisten Jurisdiktionen weltweit die Ausübung des Arztberufs (der als nicht gewerblich gilt) von patentrechtlichen Verbietungsaspekten ausgenommen ist, und die Anfertigung von Alignern bis dato nicht im industriellen Maßstab erfolgte, sondern individuell von einer Kieferorthopädin oder einem Kieferorthopäden, oder mindestens unter ihrer/seiner Aufsicht, schien Patentschutz in diesem Bereich als eine teure, aber sinnbefreite Spielerei.
Werden Aligner allerdings im industriellen Maßstab in extra dafür aufgebauten Fertigungsstraßen hergestellt, ist der Schonraum des sogenannten Ärzteprivilegs schnell verlassen, da es sich dabei recht eindeutig um eine gewerbliche Tätigkeit handelt.
Anlaufphase am Markt – Akzeptanz in Deutschland anfangs verhalten
Vier Jahre nach Firmengründung begann Align Technology mit der Markteinführung des Produkts Invisalign in Deutschland. Die Erfolge waren zunächst mäßig, was vielleicht mit einer gewissen konservativen Grundhaltung der niedergelassenen Kieferorthopäden erklärt werden kann. Hinzu kam, dass sich bereits im ersten Jahr die Deutsche Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKfO) recht negativ zur Alignertherapie geäußert hat.5 Auch waren zu diesem Zeitpunkt die genannten digitalen Techniken noch teuer und relativ rudimentär. Allerdings betrieb Align Technology eine bis dahin unbekannte, intensive Marketingstrategie, die einerseits Grund für die Kritik durch die DGKfO gewesen sein mag, andererseits aber den Boden für die langsam anlaufende Akzeptanz der Alignertherapie bereitete.
Folglich begann sich der neue Ansatz allmählich zu etablieren, was nicht zuletzt daran erkennbar ist, dass im Jahr 2007 die Deutsche Gesellschaft für Aligner-Orthodontie (DGAO) gegründet wurde.
Patentstreitigkeiten, um den Markt zu sichern
Der Erfolg von Invisalign und die sich einstellende Akzeptanz zog Nachahmer an. Daher verwundert es nicht, dass Align Technology angesichts der hohen getätigten Investitionen in Technologieentwicklung, Fertigungskapazitäten, Marketing und Vertrieb (und nicht zuletzt auch in das extensive Patentportfolio) versuchte, neu hinzukommende Wettbewerber durch Patentverletzungsklagen wieder aus dem Markt zu drängen und ein abschreckendes Beispiel für in den Startlöchern stehende weitere Wettbewerber zu schaffen.
Eines der ersten Ziele war die Firma OrthoClear, die von Zia Chishti, gegründet worden war, nachdem er Align Technology 2004 verlassen hatte. Align Technology kaufte, nachdem eine Patentverletzungsklage gegen OrthoClear eingereicht war, 2006 die Patente von OrthoClear für 20 Millionen US-Dollar, woraufhin OrthoClear seine Geschäftstätigkeit einstellte.
Am 6. Januar 2003 reichte die Orthodontik-Tochter des damaligen Medizintechnik-Multis Danaher, die Firma Ormco, in den USA Klage gegen Align Technology ein und behauptete, das Invisalign-Produkt von Align verletze die Patente von Ormco (die sogenannten „Andreiko“-Patente, die bereits 1992 eingereicht worden waren, allerdings lediglich das CAD-basierte Modellieren von Zahnkonfigurationen betrafen, nicht aber das Ausdrucken eines Positivmodells oder das Herstellen von Alignern). Align Technology schlug zurück und reichte eine Gegenklage wegen Verletzung seiner eigenen Patente ein.
Entscheidender Streit mit Ormco
Nach einigem Hin und Her (bei dem auch ein Teil der Ormco-Patente für ungültig erklärt wurden) entschied im Juni 2009 ein Bezirksgericht zu Ormcos Gunsten und bestätigte die Verletzung von einem von Ormcos Patenten durch Align. Kurz darauf einigten sich beide Parteien dahingehend, dass Ormco 13 Millionen US-Dollar in bar sowie Align-Aktien im Wert von 77 Millionen US-Dollar erhält. Ferner beschlossen beide Unternehmen, gemeinsam ein kieferorthopädisches Produkt zu entwickeln und vermarkten, das Align’s Produkt Invisalign mit dem kieferorthopädischen Bracket- und Drahtbogensystem Insignia von Ormco kombinierte. (Ormco gehört heute zur Envista-Gruppe, in die die Dentalunternehmen der Danaher-Gruppe überführt wurden.)
Zum Teil persönliche Klagen gegen Unternehmensgründer
Im Jahr 2009 reichte der Konkurrent ClearCorrect eine negative Feststellungsklage bei einem US-Gericht ein, mit dem Antrag festzustellen, dass bestimmte Patente von Align Technology nicht rechtsbeständig seien und ClearCorrect sie obendrein nicht verletze. ClearCorrect begründete dies mit einem laufenden Rechtsstreit mit Align und dem sich daraus ergebenden Klagerisiko. Gemeint war wohl eine vorherige Klage von Align Technology gegen den CEO von ClearCorrect, William Pumphrey persönlich, dem Align Vertragsbruch, Marken- und Urheberrechtsverletzungen vorwarf. Pumphrey war niedergelassener Kieferorthopäde und hatte, bevor er 2006 ClearCorrect gegründet hatte, Patienten mit dem Invisalign-Alignern behandelt.
Im Jahr 2011 verklagte Align Technology ClearCorrect vor einem US-Gericht wegen Patentverletzung und reichte später auch eine Klage bei der International Trade Commission (ITC) ein– mit dem Ziel, zu verhindern, dass ClearCorrect einige der patentgeschützten digitalen Verfahren in Pakistan durchführen lässt und lediglich die erzeugten CAD-Dateien in die USA importiert. Dieses Verfahren zog sich in all seinen Aspekten bis 2019 hin und endete mit einer Einigung. (Inzwischen gehört ClearCorrect zur Straumann Group)
Im Jahr 2015 reichte Align Technology eine Patentverletzungsklage gegen SmileCareClub ein. Das Unternehmen, das später in SmileDirectClub (SDC) umbenannt wurde, hatte ein Geschäftsmodell entwickelt, bei dem sich Patenten online registrieren und zu Hause Abdrücke ihrer Zähne herstellen und einsenden. Das Geschäftsmodell sah vor, dass die eingesandten Abdrücke zentral von Kieferorthopäden begutachtet und, bei passender Diagnose, dann Aligner angefertigt und dem Pateinten zugesandt werden. Align Technology einigte sich später mit SDC und erhielt eine 17-prozentige Beteiligung an dem Unternehmen. (Ende 2023 hat der SmileDirectClub Insolvenz angemeldet und existiert nicht mehr.)
Klage gegen zwei deutsche Mittelständler
Bereits Im Dezember 2011 verklagte Align Technology zwei mittelständische deutsche Unternehmen beim Landgericht Düsseldorf aus vier der in Tabelle 1 gezeigten Patente auf Unterlassung und Schadensersatz. Zwei der Klagepatente befanden sich zum Klagezeitpunkt noch in der neunmonatigen Einspruchsfrist, sodass die beiden Mittelständler Einsprüche beim Europäischen Patentamt (EPA) einreichen konnten.
Die beiden anderen Patente waren der Einspruchsfrist bereits entwachsen. Gegen die deutschen Teile dieser beiden Patente reichten die beiden Mittelständler Nichtigkeitsklage beim Bundespatentgericht (BPatG) ein.
Die Verletzungsklage wurde später um das fünfte in Tabelle 1 gezeigte Patent erweitert. Dies war erst nachgelagert erteilt worden und stand im Dezember 2011 noch nicht als klagefähiges Patent zur Verfügung. Auch gegen dieses Patent reichten die beiden Mittelständler Einspruch beim Europäischen Patentamt ein.
Patentansprüche infrage gestellt
In allen Fällen argumentierten die beiden Mittelständler, dass die jeweiligen Patentansprüche, mindestens nicht erfinderisch seien, sondern sich in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergäben. Dabei stützten sich die vermeintlichen Verletzer auf Dokumente, die bereits die „klassische“ Herstellung von Alignern am Gipsmodell offenbarten (wie die bereits erwähnten Artikel von McNamara und Brudon), sowie auf einen Laborreport einer Arbeitsgruppe der University of Louisville um Elsayed E. Hemayed, in welchem digitale Techniken zum Einscannen von Abdrücken und computergestützten Manipulieren der Positionen der einzelnen Zähne offenbart wurden.6 Die Mittelständler argumentierten, dass die patentgeschützten Verfahren von Align Technology lediglich auf dem Transfer bereits etablierter händischer Verfahren in die digitale Domäne beruhten, dass zum Anmeldetag die benötigten digitalen Techniken bereits vorhanden waren und dass daher diese Kombination nicht erfinderisch sei. Abbildung 1 illustriert dies anschaulich.
Abb. 1: Illustration der Argumentation der Verletzungsbeklagten, derzufolge die patentierte Align-Technologie lediglich auf einem Transfer bekannter Techniken aus der realen in die digitale Domäne beruhte. Mehr Details im Text. Grafik: Storz
In Deutschland getrennt verhandelt
In Deutschland werden Patentverletzung und Einspruch beziehungsweise Nichtigkeit getrennt voneinander verhandelt. Grundsätzlich gehen die Verletzungsgerichte von der Rechtbeständigkeit eines Klagepatents aus, prüfen also lediglich, ob ein Verletzungstatbestand vorliegt. Nur wenn der oder die Verletzungsbeklagte zeitgleich ein Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren anstrengt, und die Einspruchsabteilung beziehungsweise der Nichtigkeitssenat mindestens in einer vorläufigen Meinung den Rechtsbestand des Klagepatents in Frage stellt, können die Verletzungsgerichte das Klageverfahren aussetzen, bis über die Rechtsbeständigkeit entscheiden ist. Da das Landgericht (LG) Düsseldorf für seine relative zügige Verfahrensführung bekannt ist, kam es daher zu einem Wettlauf, den Align Technology zunächst für sich gewann.
Im Juli 2013 entschied das Düsseldorfer Landgericht, dass zwei der vier Patente (Patente 3 und 4 in Tabelle 1) verletzt wurden, während in einem Fall (Patent 2) die Verletzung verneint wurde und in einem Fall (Patent 1) das Gericht – trotz noch fehlendem Zwischenbescheid des BPatG – von sich aus zur Überzeugung kam, dass das Patent nicht rechtsbeständig sei, und das Verfahren daher aussetzte. Das Verfahren in Bezug auf Patent 5 wurde ebenfalls ausgesetzt. Gegen die beiden Verletzungsentscheidungen legten die Mittelständer Berufung beim Oberlandesgericht Düsseldorf (OLG) ein.
Wechselnde Entscheidungen von Bundespatentgericht, Patentamt und Gerichten
Etwa ein halbes Jahr später, im Dezember 2013, erließ das BPatG Zwischenbescheide in Bezug auf die Patente 1 und 2, in denen es durchblicken ließ, dass es die beiden Patente widerrufen würde – was dann im April beziehungsweise Mai 2014 auch per Nichtigkeitsurteil geschah.
Im Juni 2014 ergingen entsprechende Zwischenbescheide der Einspruchsabteilung des EPA, denen zufolge das Amt die Patente 3 und 4 voraussichtlich aufrechterhalten würden. Noch im Mai 2014 hatte das OLG die beiden betreffenden Verletzungsberufungsverfahren bereits ausgesetzt, und sich dabei auf die Entscheidungen des BPatG in den parallelen Nichtigkeitsverfahren zu den Patenten 1 und 2 berufen, die für das OLG eine Vernichtung auch der Patente 3 und 4 im Einspruchsverfahren wahrscheinlich machten. In der mündlichen Einspruchsverhandlung im Dezember 2014 änderte die Einspruchsabteilung ihre Meinung und widerrief das Patent 3 vollumfänglich, wohingegen sie das Patent 4 in der Verhandlung im Februar 2015 aufrechterhielt. Die beiden Mittelständler reichten daraufhin bei der Beschwerdekammer des EPA Beschwerde gegen die Aufrechterhaltung des Patents 4 ein.
Im November 2015 erschien der Zwischenbescheid der Einspruchsabteilung des EPA zu Patent 5, wonach dieses wahrscheinlich aufrechterhalten würde. Allerdings änderte das Amt auch hier seine Meinung und hielt das Patent dann in der mündlichen Verhandlung im Dezember 2016 in nur in sehr eingeschränkter Form aufrechterhalten. Dabei änderte das Amt seine ihre Meinung insbesondere in Bezug auf erfinderische Tätigkeit gegenüber dem sehr ähnlichen Patent 4, welches das Amt ein Jahr zuvor noch für erfinderisch hielt.
Gegen diese Entscheidung legte Align Beschwerde ein. Damit sah sich die Beschwerdekammer des EPA nunmehr zwei diametral unterschiedlichen Entscheidungen der Erstinstanz in Bezug auf die zwei nahezu identischen Patente 4 (aufrechterhalten) und 5 (widerrufen) ausgesetzt.
Mittelständler kippt beziehungsweise schränkt Patente ein
Im November 2016 schließlich bestätigte der Bundesgerichtshof (BGH) die erstinstanzliche Nichtigkeitsentscheidung des BPatG gegen das Patent 1 vollumfänglich, und die Nichtigkeitsentscheidung gegen das Patent 2 weitestgehend (hier wurde ein stark eingeschränkter, für die Mittelständler nicht mehr relevanter Anspruchssatz für rechtsbeständig erachtet).
Damit war es den Mittelständlern gelungen, vier der fünf von Align Technology ursprünglich geltend gemachten Patente zu kippen beziehungsweise massiv einzuschränken – zwei davon final und unwiderruflich. Die entsprechenden Verletzungsurteile wurden aufgehoben, und die Kosten wurden Align Technology auferlegt.
Aligns Versuch, die beiden Mittelständler aus dem Markt zu drängen, war damit letztlich fehlgeschlagen, und hat Align nicht nur viel Geld gekostet, sondern auch zum Totalverlust wesentlicher Patente geführt. Die beiden Mittelständler konnten über die gesamte Dauer des Verfahrens am Markt bleiben.
Bewertung aus patentrechtlicher Sicht
Da Nichtigkeitsklagen mit sehr viel höheren Kosten verbunden sind als Einspruchsverfahren, verwundert es in der Nachschau, dass drei der von Align Technology geltend gemachten Patente noch in der Einspruchsfrist waren und so auf dem Wege eines viel kostengünstigeren Einspruchs angegriffen werden konnten. Mit ein wenig mehr Geduld hätte Align Technology hier gegenüber den beiden Mittelständlern mehr Druck aufbauen können.
Andererseits hat das Bundespatentgericht in den betreffenden Nichtigkeitsklagen sehr viel eindeutiger auf fehlende Rechtsbeständigkeit geurteilt als (zumindest anfänglich) die Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts. Es macht fast den Eindruck, dass erst das klare Votum des BPatG für ein entsprechendes Umdenken bei der Einspruchsabteilung des EPA gesorgt hat.
Hinzu kam, dass das BPatG schneller als die Einspruchsabteilung Zwischenbescheide vorgelegt hat, die den beiden Patenten eine mangelnde Schutzfähigkeit attestierten, was erst eine Aussetzung der betreffenden Verletzungsverfahren ermöglichte. Insofern könnte der Umstand, dass sich die beiden Mittelständler sowohl per Nichtigkeitsklage als auch per Einspruch verteidigen mussten, für die Verteidigung vorteilhaft gewesen sein.
Im Januar 2017 reichte Align Technology etwas überraschend in Großbritannien eine weitere Patentverletzungsklage gegen den altbekannten Wettbewerber ClearCorrect ein. Dabei machte Align insbesondere eine Verletzung der Patente 4 und 5 geltend, deren Rechtsbestand gerade vor der Beschwerdekammer des EPA erneut geprüft wurde und der, soviel konnte man zu jenem Zeitpunkt wohl sagen, nicht als gesichert gelten konnte. Als Reaktion trat ClearCorrect als sogenannter vermeintlicher Verletzer dem Einspruchsbeschwerdeverfahren gegen das Patent 4 bei, da diesbezüglich die mündliche Verhandlung kurz bevorstand.
Finaler Ausgang erst in den Patentunterlagen sichtbar
Im Mai 2017 erschien dann eine Pressemitteilung7 auf der Homepage eines der beiden Mittelständler, wonach der Rechtsstreit mit Align Technology am 14. März 2017 nach über fünf Jahren mit einem Vergleich ein Ende gefunden habe.
Mehr war der Mitteilung nicht zu entnehmen, aber ein Blick ins Patentregister verrät, dass die beiden Mittelständler am 14. März 2017 – also zwei Tage vor der Verhandlung vor der Beschwerdekammer in Bezug auf das Patent 4 – die Einsprüche gegen die Patente 4 und 5 zurückgenommen hatten, woraufhin die beiden Patente von der Beschwerdekammer aufrechterhalten wurden. Auf diese Art konnte Align Technology den Rechtsbestand der beiden gegen ClearCorrect eingesetzten Patente für die verbleibende Restlaufzeit bis Juni 2018 sichern.
Gemäß Pressemitteilung vom 29. März 20198 legten ClearCorrect und Align Technology ihre Patentstreitigkeiten später bei, wobei ClearCorrect sich zu einer Zahlung von 35 Millionen US-Dollar sowie zur Rücknahme von Nichtigkeitsklagen in den USA verpflichtete. Zuvor hatte ein Berufungsgericht in den USA bereits eine Nichtigkeitsklage gegen eines von Aligns US-Patenten, das in seinem Schutzbereich in etwa dem oben genannten Patent 4 entspricht, zurückgewiesen.
Vorgehen nach Auslaufen der Patente
Im Juni 2018 war dann endgültig Schluss. Die erste Patentgeneration von Align hatte ihr Laufzeitende erreicht (Abb.2). Zwar hat Align weitere nachgelagerte Patentfamilien angemeldet, diese schützen aber naturgemäß nicht mehr die grundlegenden Prinzipen der CAD/CAM-basierten Produktion von transparenten Alignern und auch nicht mehr das Konzept, Serien inkrementeller Aligner ohne zwischenzeitig angefertigte Abdrücke zu generieren und dem Behandler oder Patienten als Set zu übergeben. In der Folge kam eine Vielzahl von weiteren Wettbewerbern auf den Markt. Der Markt ist mit jährlichen Wachstumsraten von 24,80 Prozent (Abb. 3) in den USA förmlich explodiert.
Abb. 2: Zeitleiste des (A) Verletzungs-, (B) Einspruchs- und (C) Nichtigkeitsverfahrens
Abb. 2: Zeitleiste des (A) Verletzungs-, (B) Einspruchs- und (C) Nichtigkeitsverfahrens
Abb. 2: Zeitleiste des (A) Verletzungs-, (B) Einspruchs- und (C) Nichtigkeitsverfahrens
Abb. 3: Marktentwicklung bei transparenten Alignern in den USA in Milliarden US-Dollar. Quelle: fortune business insights
Andere Anbieter profitieren von Patenturteilen
Mit Dentsply Sirona, Scheu Dental, 3M, und Envista (früher Danaher) und der Straumann Group (ClearCorrect) haben dabei auch große Dental-Player das Segment besetzt. Die beiden genannten Mittelständler sind ebenfalls noch vertreten. Sie haben es durch kluge anwaltliche Beratung geschafft, auch während der laufenden Klageverfahren am Markt zu bleiben und letztlich gegenüber Align Technology's Angriffen zu bestehen. Dass dem Patentportfolio von Align Technology letztlich der Schrecken genommen wurde, ist – wenn auch unfreiwillig – nicht zuletzt ihr Verdienst.
Die Verfahren wurden von der Kieferorthopädie-Community intensiv beobachtet. Dabei haben alle Parteien per Pressemitteilung immer wieder Wasserstandmeldungen abgegeben, unabhängige Berichte gibt es jedoch nur wenige.9 Der vorliegende Beitrag beschreibt und analysiert den Verfahrenskomplex erstmals in voller Länge aus patenrechtlicher Sicht.
Erstmals extensive Patentstrategie in einem eher unbelasteten Marktsegment
Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass Align Technology mit einer sehr extensiven (manche würden sagen: aggressiven) Patentstrategie in ein bis dahin von patentrechtlichen Aspekten relativ unbelastetes Marktsegment eingedrungen ist, für erhebliche Unruhe gesorgt hat und so den Markt relativ lange beherrschen konnte. Dies ist insbesondere deswegen erstaunlich, weil spätestens seit dem langwierigen Patentstreit mit Ormco klar war, dass Aligns Patente nicht unumstößlich oder gar unverwundbar sind.
Relativ ungestörte Marktentwicklung gesichert
Trotzdem hat Align Technology mit Hilfe insbesondere der ersten Patentfamilie für lange Zeit relativ ungestört den Markt entwickeln und seine Technologie optimieren und sich so einen Vorsprung erarbeiten können, der der Firma auch nach Patentablauf einen Wettbewerbsvorteil verschaffte.
Dr. Ulrich Storz, Düsseldorf
Angabe zum Interessenkonflikt
Dr. Ulrich Storz Foto: privatDer Autor Dr. Ulrich Storz ist Patentanwalt in der Kanzlei Michalski, Hüttermann & Partner Patentanwälte mbB und hat eines der mittelständischen Unternehmen während des gesamten Konflikts mit Align Technology beraten und vertreten. Für den vorliegenden Beitrag wurden nur öffentlich verfügbare Quellen verwendet.
Literatur
[1] Harold D. Kesling, Coordinating the predetermined pattern and tooth positioner with conventional treatment. Am. J. Orthod. Oral Surg. 32 (6) 1946 285-293. [2] Henry I. Nahoum, The vacuum formed dental contour appliance. N Y St Dent J. 1964; 30:385-390 [3] Robert J. Ponitz, Invisible Retainers, American Journal of Orthodontics, Volume 59, Issue 3,1971, Pages 266-272 [4] James A. McNamara & William Brudon, Orthodontic and Orthopedic Treatment in the Mixed Dentition, Needham Press, Sixth Printing July 1996, p. 347-353 [5] Zahnärztliche Mitteilungen 20/2001, S. 52 [6] Elsayed E Hemayed, Sameh M. Yamany, Aly A. Farag, Three Dimensional Model Building in Computer Vision with Orthodontic Applications;TR-CVIP 96, November 1996 (E18) [7] https://in-line.eu/2017/05/03/rechtsstreit-mit-align-technology-nach-5-jahren-beendet/ [8] https://www.zwp-online.info/zwpnews/wirtschaft-und-recht/businessnews/clearcorrect-align-technology-patentstreitigkeiten-aussergerichtlich-beigelegt [9] Rüdiger Gedigk, Wer ist der Erfinder der Schienen? Zusammenfassung der 1. Instanz. J. Compr. Dentof. Orthod. + Orthop. (COO) Umf. Dentof. Orthod. u. Kieferorthop. (UOO) No. 1-2 / 2014, p20
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„Investitionen tätigt man immer nur für sich selbst“ – Thomas Kirches in Folge #24 von „Dental Minds“ über Investitionsentscheidungen, Businesspläne, Rabattaktionen und die IDS