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Physiologische Grundlagen eines Zahnlebens und wie diese die kieferorthopädische Zahnbewegung ermöglichen

Beim Erreichen des Schneidezahn-zu-Schneidezahn-Kontakts kommt es zum Abgleiten von Zahn 41 in die Kreuzbissstellung. Gleichzeitig entsteht die Rezession.

Zähne sind die einzigen Strukturen im menschlichen Körper, die sich auch nach der Geburt und nach Ende des Wachstums bewegen und verschieben lassen und diese Ortsveränderung stabil halten können. Natürlich wachsen die Hautanhangsgebilde Haare und Nägel zeitlebens, doch bleibt dabei die örtliche Beziehung der Gewebestrukturen zueinander bestehen. Zwar gibt es auch Lageanomalien und vergrößerte Beweglichkeiten bei bestimmten Organen („Wanderniere“), ein struktureller Umbau aber bleibt einzig den Zähnen vorbehalten. Dabei unterscheidet man vier Bewegungstypen: der Zahndurchbruch, die Mesialdrift, die pathologische Zahnwanderung und die therapeutische Zahnbewegung bei einer kieferorthopädischen Behandlung. Mit Letzterer beschäftigt sich dieser Beitrag des Autors Dr. Franz-Peter Schwindling für das Quintessenz Team Journal 10/21.

Den Erfordernissen einer modernen Zahnarztpraxis entsprechend, wendet sich das „Quintessenz Team-Journal“ an das gesamte zahnärztliche Team: Zahnärztinnen, Zahnärzte sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, von Auszubildenden bis zur Dentalhygienikerin. Neben dem Basiswissen für die Auszubildende sorgen Beiträge aus dem klinischen Bereich für ein Kompetenz-Plus. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenlosen Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.

Warum steht ein Zahn eigentlich so, wie er steht?

Die Gebissentwicklung ist von unserer Erbanlage vorbestimmt, die in Form der DNA für die Gestaltwerdung sorgt: Schmalkiefer oder Breitkiefer, enge und weite Keimlage, offener oder tiefer Biss, sagittale Über- oder Unterentwicklung, Nichtanlage oder Zahnüberzahl – unser Genom hat hier das Sagen. Beim eigentlichen Zahndurchbruch gibt das Zahnsäckchen die Richtung vor: Die Zahnanlagen wandern normalerweise von innen (Zungenseite) nach außen (Wangenseite) und von hinten nach vorne (Abb. 1), wobei bestimmte Signalmoleküle den Knochenfresszellen (Osteoklasten) sagen, wie und wo sie den Knochen über dem Zahnkeim abzubauen haben11. Bei Änderung der Durchbruchsrichtung von mesial nach distal kann es dann schon einmal eng werden (Abb. 1).

In dem Augenblick, indem der Zahnkeim in die Nähe der anderen Zahnanlagen kommt, beginnt für ihn der Ernst des Lebens – er muss sich mit den anderen um den Platz streiten. Kommt er ein wenig zu spät und die Keime liegen sehr eng, haben sich andere Zahnanlagen schon breitgemacht. Dann kann es sein, dass es zu einer Durchbruchsstörung kommt und der Zahn im Kiefer verbleibt (Abb. 2).

Oder er kommt zwar zur rechten Zeit, seine Milchzahnvorgänger gingen aber frühzeitig verloren und die nachbarlichen Zuwachszähne haben den Platz geraubt (Abb. 3; A). Wenn der Milchzahnvorgänger zu schmal ist, hat der Ersatzzahn auch schlechte Karten für einen regelmäßigen Durchbruch (Abb. 3; B). Und ein Durchbruchshindernis in Form von Zysten, Odontomen oder nichtresorbierten Milchzähnen (Abb. 3; C) kann den freien Durchbruch unmöglich machen. 

Gelingt es ihm aber, bis zur Mundschleimhaut durchzubrechen, so ist er einem sich ständig wechselnden statischen Gleichgewicht ausgeliefert, das von seiner Umgebung bestimmt wird: Mal drücken ihn die Wangenmuskeln (Abb. 4), mal presst die Zunge (Abb. 5), mal spannen sich die Lippen. Mal schiebt sich ein Lutschdaumen in seinen Weg (Abb. 6), mal ziehen die interdentalen Bindegewebefasern der Wurzelhaut, mal drücken die Kontaktpunkte der Nachbarzähne. 

Und wenn er dann tatsächlich einen Gegenzahn erreicht hat, dann arbeitet die Kaumuskulatur gegen ihn – mit Kauen (10 Minuten täglich mit 5 bis 15 kg), Schlucken (15 Minuten täglich mit 1,2 kg) und Knirschen (bis zu 2 Stunden mit bis zu 80 kg). Hinzu kommt, dass nicht immer alles aufeinander passt, sodass sich beim Okklusionskontakt durch eine Zwangsführung auch mal ein verkehrter Überbiss entwickelt (Abb. 7). 

So steht der Zahn zeitlebens sekündlich, stündlich in einem „Stellungskrieg“ mit seiner Nachbarschaft, einem Krieg, in dem der Grundsatz gilt: „Wo ein Körper ist, kann ein anderer nicht sein“. Und dennoch: Dieser Anspruch schädigt die Gewebe nicht, sondern hält den Zahn jung. Sein Zahnhalteapparat arbeitet ununterbrochen, Gewebeumbau in der Wurzelhaut und Knochenremodellierung sind sein Alltagsgeschäft. Das ist die faszinierende (nahezu) lebenslange adaptive Fähigkeit des Zahnhalteapparates: Den Zahn ständig rasch an die Stelle zu bringen, an der die Summe aller an ihm ansetzenden Kräfte Null ist – auch in einem Alter, in dem der Mensch nicht mehr wächst.

Deshalb kann ein Zahn bei einer kieferorthopädischen Behandlung auch so schnell reagieren. Haben die kieferorthopädischen Kräfte die ideale Größe, beginnt der Zahn bereits nach zwei Tagen mit seiner zielgerichteten Wanderung.

Der Zahnhalteapparat – das Zahnbewegungsorgan

Von den vier Anteilen des Zahnhalteapparates Zement, Wurzelhaut, Alveolarfortsatzknochen und Gingiva wird für die Zahnbewegung das Zusammenspiel von Wurzelhaut und Alveolarfortsatzknochen benötigt10. Die rund 0,3 mm breite Wurzelhaut umgibt das Zahnzement körperlich und wirkt bei kurzfristigen Zahnbelastungen (Kinnhaken – autsch!) als Schockabsorber und Dämpfungskissen. Dabei helfen die Bindegewebefasern, die ihr Netzwerk in einer gallertartigen Schicht aus Kohlenhydrat-Eiweißverbindungen (Matrix) geflochten haben und die Wurzelhautzellen, Gefäße und Nerven darin einschließen. Diese Matrix kann man vergleichen mit einem Topf voller Spaghetti, die man etwas zu lange kochen und danach abkühlen ließ: Ein zähflüssiges Gemenge aus strukturierten Fasern, verklebt mit langkettigen Kohlenhydratmolekülen. Mit den bis zu 0,1 mm dicken Gefäßen ist die Wurzelhaut sehr gut durchblutet – mit ein Grund für die schnelle Kraftreaktion. Der venöse Rückfluss erfolgt dann über die Kanälchen im Alveolarfortsatzknochen. In dessen Kompakta liegen die in Lakunen eingemauerten Knochenzellen (Osteozyten), die über langgezogene Fortsätze (Dendriten) in dünnen Knochenkanälchen in Verbindung zueinander stehen und, obwohl schon sehr gereift, Signale zum Gewebeumbau über Zell-Zell-Kanäle („Gap junctions“) untereinander austauschen. Osteozyten gehören zu den Strippenziehern der Zahnbewegung.
Die Wurzelhaut befindet sich in einer delikaten Lage: Sie ist von zwei Hartgeweben umgeben, und trotzdem mineralisiert sie selbst unter normalen Umständen nicht! Im Gegenteil scheint sie das Zement vor Abbau zu schützen. Denn wer sagt eigentlich, dass bei der Zahnbewegung der Knochen ab- und umgebaut werden soll und nicht das Zement?

Ablauf der Zahnbewegung

Die Zahnbewegung ist eine ganz große Oper, von der wir Zuschauer das meiste nicht sehen, geschweige denn im Detail verstehen. Die Hauptdarsteller in der Wurzelhaut sind die Bindegewebebildner (Fibroblasten), die Knochenaufbauzellen (Osteoblasten) und die Knochenfresszellen (Osteoklasten); hinzu kommen Gefäße, Nerven, ein alles umhüllendes extrazelluläres Netzwerk (Matrix) und im Knochen die Knochenzellen (Osteozyten). Um alle korrekt in Szene zu setzen, benötigt die Zahnbewegung eine Unzahl von Bühnenarbeitern und Kulissenschiebern mit bisweilen unaussprechlichen Namen, die als Signalproteine, Katalysatoren und Botenstoffe (Zytokine) die Oper am Laufen halten, während eine Gruppe von Regisseuren (Genabschnitte), umschwärmt von ihren Assistenten (Transkriptionsfaktoren), die Regieanweisungen geben. Lassen Sie uns also mit der Ouverture beginnen:  Vorhang auf – der Maestro betritt das Podium: die kieferorthopädische Kraft. Um Zähne anhaltend zu bewegen, muss das im letzten Abschnitt beschriebene Kräftegleichgewicht aus Muskeln und Zähnen gestört werden – und genau das macht die Kraft. Einzige Anforderung an sie ist, lange anzuhalten und eine gewisse Mindestgröße zu überschreiten!

Mit diesem Wissen im Hintergrund umformuliert, lautet die Frage nach der Zahnbewegung: Wie wird die kieferorthopädische Kraft über die biologische Reaktion der Zellen hinweg in einen gerichteten strukturellen Gewebeumbau überführt, ohne dass dies in einem großen Tohuwabohu mit Gewebeabbau und Zahnverlust mündet? Oder wie die Spezialisten dazu sagen: Wie funktioniert die Mechanoperzeption und -transduktion?

Als erstes kommt es zur Auslenkung des Zahns in der Wurzelhaut um etwa 0,1 mm (Initialphase). Diese Auslenkung kann kippend oder parallelverschiebend sein, wodurch der Parodontalspalt zwischen Zahn und Knochen in einem Abschnitt vergrößert und in einem anderen Abschnitt verschmälert wird. Im ersten Abschnitt kommt es dadurch zur Streckung der Wurzelhautgewebe, im anderen zur Stauchung (Abb. 8). Je nach Kraftgröße kann zusätzlich der Alveolarknochen etwas gedehnt werden.

Mit der Verzerrung der parodontalen Geometrie kommt es fast zeitgleich zu den zwei für die Durchführung einer dauerhaften Zahnbewegung entscheidenden Vorgängen:

  • die Scherspannung mit Flüssigkeitsverschiebung im Desmodont (im Fachjargon „Matrix strain“ und „Fluid flow“ genannt) und
  • die Mangeldurchblutung mit Sauerstoffmangel (Ischämie und Hypo­xie) im Bereich der komprimierten Gefäße auf der Druckseite.

Ab jetzt stehen die Telefone nicht mehr still – allerdings mit dem Unterschied, dass nicht Töne über elektrische Signale von Ohr zu Ohr gelangen, sondern Struktur- und molekulare Konzentrationsänderungen von Zelle zu Zelle übertragen werden. Der Vorgang läuft vom Prinzip her immer ähnlich ab: Sauerstoffmangel und Zellverformung ändern das Zell-Matrix-Zell-Gleichgewicht (Homöostase) und lösen damit eine ganze Kaskade aus intra- und extrazellulären Signaleiweißen und Botenstoffen (Mediatoren) aus, die sich gegenseitig fördern oder hemmen. Gleichzeitig initiieren diese Mediatoren die Abschrift von Genabschnitten (Transkription) und die Produktion der daran gekoppelten Eiweiße (Translation), die im Zusammenspiel mit den relevanten Zellen dann den Gewebeumbau durchführen1–4,6–9.

Was passiert auf der Stauchungsseite?

Erster Akt: Durch die Wurzelhautstauchung kommt es zum Kapillarverschluss. Blut wird gestaut und die Gefäßumgebung wird im wahrsten Sinne des Wortes sauer, weil der Stoffwechsel anaerob umgestellt wird. Es sammeln sich in den Kapillaren weiße Blutkörperchen und Abwehrzellen an, Botenstoffe (Neuropeptide) werden von den Nervenenden abgesondert, um die Gefäßwand zu öffnen, und Blutzellen treten durch die geöffneten Gefäßwände in den Außenbereich (Abb. 9, rosafarbener Kasten oben links). Wenige Minuten nach der Krafteinwirkung kommt es dadurch zu einem Geschehen, das man „sterile Entzündung“ nennt. Nein, nicht erschrecken. Entzündung bedeutet hier nur die Reaktion der Wurzelhaut auf etwas Neues. Diese Art der Entzündung initiiert die Zahnbewegung und schadet nicht!

Die dadurch entstehenden Eiweiße kurbeln das Zellwachstum in der Wurzelhaut an, die Gefäßneubildung startet und die Blutversorgung erhöht sich, damit die Nährstoffzufuhr gesichert ist. Durch die saure Umgebung öffnen sich die Protonenkanäle der Nerven. Die Reizleitung beginnt und kann ab einer gewissen Größe dann als Schmerz wahrgenommen werden. 

Zweiter Akt: Durch die Scherspannung und die Flüssigkeitsverschiebung werden alle Zellen der Wurzelhaut ebenso wie die Nerven und Gefäße verformt. Die Bindegewebezellen sind über Kontakt- und Klebeeiweiße mit den Bindegewebefasern und über Membranproteine mit dem Zellskelett verbunden. Nun ändert sich die räumliche Eiweißkonfiguration, das Zellskelett wird verformt, woraufhin sich eine Signalkaskade öffnet, die über einige Zwischenschritte die Bildung von Osteoklasten in Gang bringt (Abb. 9, grüner Kasten oben rechts). Diese mehrkernigen Zellen (blau in Abb. 9) sitzen auf der mineralisierten Knochenoberfläche in Lakunen, die sie sich selbst erzeugt haben, bilden Säure zum Auflösen des Minerals und geben Enzyme ab, um die organische Knochenmatrix zu zerlegen. Nach etwa zwei Wochen geht ihr Leben zu Ende. Ihre Reste und die zerlegten Knochenreste werden von der körpereigenen Müllabfuhr, den Riesenfresszellen (Makrophagen), entfernt.

Aber auch die sonst eher passiv wirkenden Osteozyten in ihren Knochenlakunen sind nicht untätig. Sie sind sozusagen die graue Eminenz im Hintergrund. Über ihre Mechanorezeptoren registrieren sie die Scherspannung, steuern durch Sekretion von Schlüsselproteinen die Bildung der Osteoklasten und dämpfen die Funktion ihrer eigenen Vorläufer, der Osteoblasten. Über die Zell-Zell-Verbindungen ihrer Ausläufer (Dendriten) stehen sie mit den anderen Osteozyten in Verbindung und sind in der Lage, auf der Stauchungsseite Knochen abbauen zu lassen, damit der Zahn wandern kann, und auf der gegenüberliegenden Kortikalis Knochen anbauen zu lassen, damit der Zahn nicht ins Leere wandert, sondern seinen Knochen bei der Bewegung „mitnimmt“ (Abb. 10).

Zusätzlich unterstützen sie durch Öffnung ihrer Kalziumkanäle die Sekretion von Entzündungsvermittlern und verstärken so die Hypoxie-induzierte Entzündung. Und selbst wenn sie sterben, lassen sie – vermittelt durch Botenstoffe – wieder Osteoklasten reifen, die dann weiter am Knochenabbau arbeiten. 

Bei zu großen Kräften können sich Mikrorisse in der Knochenstruktur bilden. Die Heilung dieser Risse führt durch die vermehrte Stoffwechselaktivierung zur Steigerung der Zahnbewegung („Regional acceleratory phenomenon“, RAP, regionales Beschleunigungsphänomen5).

Und was passiert auf der Streckungsseite?

Hier herrscht kein Blutstau und kein Sauerstoffmangel, sondern die Blutgefäße werden gedehnt und die kollagenen Fasern der Wurzelhaut gestreckt. Die Zellen mit ihrem Zellskelett verformen sich dadurch und die Kaskade der Signalmoleküle beginnt. Zytokine, Stickstoffoxid und Wachstumsfaktoren lassen aus Bindegewebestammzellen Osteoblasten und Fibroblasten entstehen, die die Wurzelhaut umorganisieren. Ionenkanäle sorgen für den intra- bzw. extrazellulären Signaltransfer. Fibroblasten verstärken die Bindegewebestruktur der Wurzelhaut, während die Osteoblasten hinter dem Zahn her den Alveolarknochen aufbauen: erst organisches Material und dann Einbau der Mineralien (Abb. 11).

Osteozyten regulieren zusammen mit den Osteoblasten das Knochenanbau/-abbau-Gleichgewicht zugunsten des Anbaus. Nach zwei Tagen erreichen die Knochenbildner schon ihr Maximum und die Osteoidbildung kommt auf Touren. Die Osteoblasten mauern sich dabei selbst ein und werden zu Osteozyten. Jetzt arbeiten sie selbst nicht mehr, sondern lassen die Anderen tätig sein und steuern die Regelkreise.

Warum nimmt der Zahn beim Wandern seinen Knochen mit?

Bei der Zahnbewegung wird nicht nur Knochen auf der Streckungsseite angebaut, sondern auch an der Außenkortikalis zur Lippe oder Wange hin, also weit weg vom eigentlichen Entzündungsgeschehen. Ähnliches geschieht bei Bewegung in zahnlose Bereiche des Kiefers hinein, wo ehemals Zähne standen (Abb. 10). Der Zahn baut dabei den neuen Alveolarfortsatzknochen in dem Bereich auf, wohin er sich bewegen wird. Was zunächst wie Zauberei aussieht, erfolgt indes durch Signalvermittlung der Kortikalis-Osteozyten, deren Ausläufer über „Gap junctions“ miteinander verbunden sind. Werden sie verformt, so lassen sie aus den Knochenhautzellen der äußeren Kortikalis Osteoblasten entstehen, die die äußere Kortikalis schichtweise in Wanderungsrichtung aufbauen.

Bei zu starken Kräften kommt dieser Knochenanbau auf der Außenkortikalis dem Knochenabbau auf der Innenkortikalis (Lamina cribriformis) nicht mehr nach. Es bilden sich Defekte in der Außenkortikalis in Form von Knochenfenstern oder Rezessionen mit freiliegenden Wurzelanteilen.

Warum bewegt sich der Zahn nicht beim Kauen und Schlucken?

Die physiologischen Kräfte sind entweder zu klein (unterschwellig) oder zu kurzzeitig, als dass die Signalkaskaden in Gang kommen würden. Solche Kräfte puffert der Zahnhalteapparat kurzfristig ab, indem er die Eigenelastizität von Wurzelhaut und Knochen, die hydropneumatische Pufferung und – wenn auch in geringem Maße – die Streckung der Bindegewebefasern einsetzt.

Warum wird der Knochen umgebaut, das Zement aber nicht?

Es ist faszinierend zu sehen, wie ein sich bewegender Zahn Wurzelhaut und Knochen umbaut, das Zement aber in Ruhe lässt. Anscheinend hat die Wurzelhaut eine Schutzfunktion gegenüber dem Zahnzement, sodass sich bei der physiologischen Zahnbewegung keine Zementoklasten bilden, die am Zement andocken und dieses resorbieren. Wird die Entzündung aber unkontrolliert und überschießend, nehmen die entzündungsvermittelnden Moleküle überhand und es kommt zum unkontrollierten Abbau von zunächst Zement und dann Dentin (Wurzelresorption).

Welche Rolle spielt die Kraftgröße bei der Zahnbewegung?

Wegen der unterschiedlichen Reizantwort des Zahnhalteapparates trennt man zarte physiologische Kräfte, die zu einer direkten Zellantwort und einer Zahnbewegung nach zwei Tagen führen, von schädigenden Kräften ab, die zu einem lokalen Zelltod führen, sodass die Zahnbewegung erst nach etwa zwei Wochen weiter fortschreitet (Abb. 12). Bei kleinen Kräften kommt es zur direkten Resorption in der Bugwelle der Bewegung. Die Osteoklasten sitzen auf der Knochenoberfläche und resorbieren. Bei zu starken Kräften sterben dagegen Wurzelhautzellen und Osteozyten ab, die Zahnbewegung stoppt und aus dem Knochenmark wandern in Gegenrichtung Makrophagen ein, die den Knochen „unterminierend“, also rückwärtsgerichtet auflösen. Sie benötigen für ihre Arbeit etwa zwei Wochen. Danach erst kann die Zahnbewegung beginnen bzw. fortgeführt werden.

Beide Bewegungstypen – frontal vs unterminierend – erfolgen am Patienten zeitgleich nebeneinander, weil es derzeit nicht möglich erscheint, schädigende Kräfte vollständig zu eliminieren. In grober Vereinfachung kann man aber sagen, dass kippende Bewegungen nur mit einem Siebtel der Kraftgröße von parallel geführten Bewegungen durchgeführt werden sollten, damit der Spannungszustand in der Wurzelhaut keine lokale Ischämie auslöst.

Kann man die Zahnbewegung beschleunigen?

Insbesondere bei erwachsenen Patienten dauert eine kieferorthopädische Therapie oftmals zu lange, sodass die Frage gestellt wird, wie diese beschleunigt werden könnte. Durch chirurgisches Setzen einer Wunde im Bereich der zu bewegenden Zähne kann der Heilungsprozess angeschoben werden, was den Knochen-Turnover als Teil des Postaggressionsstoffwechsels5 erhöht: Die Zahnbewegung wird schneller. Dieser Vorgang läuft unter dem Begriff des regionalen Beschleunigungssphänomens (RAP) und hält für etwa vier bis sechs Monate an. So können umfangreiche knochenchirurgische Maßnahmen (Osteotomien, Kortikotomien) die Bewegungsgeschwindigkeit verdoppeln, kleinere Löcher und Ritzungen dagegen zeigen kaum Wirkung. Physikalische, pharmakologische und gentherapeutische Verfahren sind noch nicht genügend verifiziert, um verlässliche Aussagen zu treffen5. Es wird also noch etwas dauern, bis man die Pille für die schnelle Zahnstellungskorrektur schlucken kann!

Ein Beitrag von Dr. Franz-Peter Schwindling, Merzig

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Reference: Kieferorthopädie

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