Der Begriff Künstliche Intelligenz (KI) ist derzeit fast allgegenwärtig. In den vergangenen Jahren wurden in diesem Querschnittsfeld aus Informatik, Ingenieurswissenschaften und Angewandter Mathematik enorme Fortschritte erzielt. Gerade im Bereich des Maschinellen Sehens (um Beispiel Bildanalytik, Bildklassifikation, Objektdetektion etc.) findet KI schon heute in unserem Alltag vielfach statt. Auch in der Medizin sind in den vergangenen Jahren diverse KI-Anwendungen entwickelt worden, mit teilweise erstaunlichen Ergebnissen. Allerdings stellen sich bereits hier erste Fragen zur Belastbarkeit, Generalisierbarkeit und Transparenz dieser KI-Anwendungen. Auch in der Zahnmedizin rücken KI-Anwendungen immer mehr in den Fokus wissenschaftlicher Fragestellungen und klinischer Forschung: Zahlreiche KI-Anwendungen zur Detektion von Zähnen, Restaurationen, Karies und apikalen Läsionen werden zurzeit entwickelt und deren Vorhersagequalität in den einschlägigen Zeitschriften berichtet1. Auch hier wird allerdings momentan nur geringes Augenmerk auf Validität und Robustheit gelegt2.
Für den Parodontologen bietet KI-gestützte Bildanalytik zahlreiche Chancen. Die automatisierte Vermessung von Knochenverlust auf Röntgenbildern, die KI-basierte Charakterisierung von Knochendefekten oder auch die Verknüpfung von erhobenen Bilddaten mit Anamnese-, klinischen und weiteren Daten sind vielversprechend. KI-Technologien und der Rückgriff auf Daten („Datenzahnmedizin“) versprechen eine präzisere, personalisierte, präventivere und partizipative Parodontologie3. Der vorliegende Artikel der Autoren Prof. Falk Schwendicke, Prof. Henrik Dommisch und Dr. Joachim Krois für die Parodontologie 4/20 vermittelt Grundkenntnisse zu KI, KI-gestützter Bildanalytik und den Chancen dieser Anwendungen für die Zahnmedizin und im Speziellen für die Parodontologie. Er weist aber auch auf die zahlreichen Herausforderungen in diesem Forschungsfeld hin und soll Zahnärzte in die Lage versetzen, KI-Softwarelösungen besser zu beurteilen. Der Zahnarzt von morgen benötigt kritische Augen und „Datenkompetenz“ (Data Literacy), um robuste und zuverlässige KI-Lösungen von weniger robusten, fehleranfälligen Lösungen unterscheiden zu können.
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Künstliche Intelligenz: Was ist das?
Der Begriff Künstliche Intelligenz (KI) ist in aller Munde. Gemeinhin wird unter KI jegliche Tätigkeit verstanden, die, ansonsten von Menschen ausgeführt, nun von Maschinen umgesetzt wird. Bei allem „Hype“ muss man feststellen: KI ist kein neues Phänomen, sondern seit bereits 70 Jahren Thema der technologischen Forschung (Abb. 1). Über diese 7 Dekaden hat es immer wieder Phasen der Begeisterung und der Ernüchterung gegeben. Letztere wurden auch als sogenannte KI-Winter bezeichnet; oft waren diese das Resultat überhöhter Erwartungen an die Technologie, die dann enttäuscht wurden.
Die aktuelle Begeisterung um die KI geht zurück auf das Jahr 2012. In diesem Jahr wurden enorme Erfolge im Bereich des sogenannten Deep Learning (DL) verzeichnet4. DL ist ein Unterfeld des sogenannten Maschinellen Lernens. Hierbei lernt die Maschine an einem vorgegebenen Datensatz aus Input- und Outputdaten, statistische Muster in den Daten eigenständig zu erkennen. Die Maschine schreibt sich ihre Software quasi selbst. Beim DL kommen besonders tiefe, vielschichtige Modelle des Maschinellen Lernens, insbesondere sogenannte Künstliche Neuronale Netzwerke (KNN), zum Einsatz. Diese sind in der Lage, komplexe Datenstrukturen wie Bilder oder Sprache abzubilden und darin Muster zu lernen, um auf neuen Daten Vorhersagen zu treffen. Gerade in den vergangenen Jahren sind im Feld des Maschinellen Sehens („Computer Vision“) enorme Fortschritte verzeichnet worden: Die Gesichtserkennung durch fast jedes Smartphone oder in der Sicherheitstechnik, das autonome Fahren und eben auch der Einsatz von KI-Bildanalytik im Bereich der Medizin sind oft zitierte Beispiele für die automatisierte, KI-gestützte Analyse von Bilddaten. Genauso sind enorme Erfolge im Bereich der Spracherkennung mittlerweile real worden. Das sogenannte „Natural Language Processing“ steckt mittlerweile in jedem Telefon, jeder Diktiergerät-App und jeder Übersetzungssoftware und ist inzwischen so ausgereift, dass es Menschen nicht mehr möglich ist, Texte, die von Maschinen geschrieben worden sind, von jenen zu unterscheiden, die von Menschen verfasst wurden. Weitere Einsatzfelder von KI und Maschinellem Lernen sind beispielsweise die Robotik oder die Computersimulation.
In dem vorliegenden Artikel konzentrieren wir uns auf die Verarbeitung von Bilddaten, die sogenannte „Computer Vision“. Hier sind gerade in den vergangenen drei Jahren auch in der Zahnmedizin enorme Erfolge erzielt worden. Bei aller Begeisterung muss allerdings festgehalten werden: Wir stehen ganz am Anfang! In diesem jungen Feld, getrieben von den technischen Möglichkeiten, lässt die Evidenz oft noch zu wünschen übrig. An dieser Stelle sind vor allem wir als Mediziner gefragt, für unsere Patienten valide, belastbare, generalisierbare und transparente Lösungen einzufordern. Im schlimmsten Falle droht sonst ein weiterer KI-Winter. Enttäuschungen können wir uns gerade im Feld der Medizin jedoch nicht leisten. Hier geht es nicht darum, ob ein Telefon das Gesicht des Besitzers erkennt, sondern vielmehr darum, ob Patienten einen Gesundheitsnutzen oder -schaden erfahren, ob Ärzte eine richtige oder falsche Entscheidung treffen oder ob das Gesundheitssystem eine bestimmte Behandlung finanziert oder nicht.
Die Autoren werben ausdrücklich dafür, KI-Anwendungen unter anderem auch in der Zahnmedizin kritisch zu begutachten. Zusammen mit der WHO und ITU (AI4Health Focus Group) entwickeln die Autoren Krois und Schwendicke Standards für KI-Anwendungen im Bereich der Zahnmedizin. Zahnärzte sollten in der Lage sein, neue KI-Software auf ihre Validität und Robustheit hin zu begutachten. Dies bedeutet auch, dass Zahnärzte „Datenkompetenz“ (Data Literacy) aufweisen müssen. Der vorliegende Artikel versucht, auch hierzu einen Beitrag zu leisten.
Bildanalyse mit KI: Was heute alles schon „geht“
Um zu verstehen, wie KI-Anwendungen Bilder analysieren, ist es wichtig nachzuvollziehen, wie Maschinen „sehen“. Für Maschinen sind Bilder nur eine Ansammlung von Zahlen, in der Regel pixelbasierte Intensitätswerte. Um Grauwertbilder (zum Beispiel Röntgenbilder) abzubilden, genügt ein Kanal; Farbbilder (zum Beispiel RGB) erfordern jedoch 3 Kanäle. Um Bildinhalte maschinell zu erfassen, nutzen Algorithmen Bildfilter, wie sie in jedem Bildverarbeitungsprogramm zu finden sind. Diese Filter können Kanten, Ecken oder Rundungen und bestimmte Texturen detektieren. Sie „tasten“ das Bild systematisch ab und extrahieren so mehrdimensionale statistische Muster und Bildeigenschaften. Auch wird das Bild schrittweise immer weiter abstrahiert und feine Muster werden in gröbere umgewandelt. Dabei werden sehr viele Filter genutzt, deren Spezifikationen (zum Beispiel Farbfilter, Kantenfilter etc.) iterativ und selbstständig durch den Algorithmus erlernt werden. Am Ende stehen mitunter einige Milliarden Parameter zur Verfügung, mit denen die Maschine bildspezifische Muster extrahieren kann. Das „Lernen“ erfolgt mittels nichtlinearer mathematischer Operationen, die diese Parameter iterativ optimieren, indem dem Algorithmus sehr viele Bilder mit jeweils einem „Label“ beziehungsweise Bilder für medizinische Anwendungen einer Diagnose zur Verfügung gestellt werden. Das Label kann entweder eine Klasse sein (zum Beispiel „dieses Bild enthält eine Katze, einen Hund oder einen Bus“), es kann aber auch bestimmte Regionen beschreiben (zum Beispiel: „die Katze, der Hund, der Bus befindet sich links oben in der Bildecke“). Oder es kann die verschiedenen Bildinhalte sogar segmentiert beschreiben (zum Beispiel: „auf genau diesen Pixeln sieht man eine Katze“). Auf tausenden, zehntausenden oder auch Millionen von Bildern, die jeweils ein solches Label haben, lernen Maschinen mithilfe der beschriebenen Mustererkennung zu verstehen, was eine Katze von einem Hund oder einem Bus unterscheidet. Somit sind Maschinen, hier insbesondere Künstliche neuronale Netze (KNN) – diese gelten als „universelle Approximationsmaschinen“5 –, in der Lage, nahezu jeden Bildinhalt (Input) mit einem Label (Output) zu assoziieren – sie lernen! Die Möglichkeit, auf Bildern Hunde, Katzen oder Busse zu erkennen, eröffnet ungeahnte Chancen: Wie beschrieben, steht hinter jeder Gesichtserkennung in unserem Smartphone und hinter jeder videobasierten Sicherheitstechnologie eine solche KI-Technologie.
„Computer Vision“in der Medizin
Auch in der Medizin hat diese Technologie Einzug gehalten. Vor allem im Bereich der Bildanalyse (Klassifikation, Detektion und Segmentierung) sind zahlreiche KI-Anwendungen entwickelt worden. Einige von diesen Anwendungen befinden sich gerade in der Markteinführung. Hierbei können Anwendungsfälle unterschieden werden: So können Bilder klassifiziert werden; beispielsweise wurde in der Dermatologie eine Software entwickelt, die in der Lage ist, auf Fotografien der Haut verschiedene Hauterkrankungen mit ähnlicher Genauigkeit wie spezialisierte Hautärzte voneinander abzugrenzen6. Auf Bildern können Objekte detektiert werden; in der Radiologie können zum Beispiel Pathologien der Lunge oder anderer innerer Organe detektiert werden; ebenso ist die Identifikation von Frakturlinien in der orthopädischen Radiologie heute bereits möglich. Bilder können aber auch segmentiert werden (gleichbedeutend mit einer pixelbasierten Klassifikation); beispielsweise verspricht in der Pathologie die automatische Auswertung von histologischen Schnittbildern durch Maschinen enorme Effizienzgewinne; Pathologen könnten entlastet werden und ihre Zeit vor allem auf schwierige Grenzfälle konzentrieren. Routineaufgaben, wie das Markieren von Zellkern oderZellumrissen,würden dann maschinell erfolgen.
Allerdings soll auch an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen werden, dass es sich hierbei zum großen Teil um „Proof-of-Concept“-Ansätze handelt. Viele dieser Technologien wurden auf retrospektiven Daten entwickelt, also Daten, die in der medizinischen Routine erhoben und somit in einer bestimmten Zahl einfach verfügbar gemacht wurden. Oftmals sind die Datensätze zudem relativ klein (medizinische Datensätze enthalten oft einige tausend oder zehntausend Bilder; der von Google kuratierte Fotodatensatz „ImageNet“ enthält mehr als 14 Millionen Bilder!) und stammen oft von nur einem Datenspender (zum Beispiel einem universitären Zentrum). Eine Generalisierbarkeit und Robustheit sind nicht zwingend gegeben. Ebenso ist nicht immer ausreichend evaluiert, ob der Algorithmus anfällig für Verzerrungen, beispielsweise durch Artefakte, ist. Kaum eine dieser Anwendungen ist in prospektiven, randomisiert-kontrollierten Studien untersucht worden. Oftmals ist auch nicht klar, welchen Einfluss die Nutzung von KI auf die Therapieentscheidung der Ärzte und damit die Patientengesundheit hat7.
Zusammenfassend weist eine KI-gestützte Bildanalytik in der Medizin viele Chancen auf, aber die Nutzung von KI in der Medizin ist gänzlich anders als die Nutzung von KI in vielen anderen Feldern. Wir als Mediziner sollten darauf bestehen, dass die Prinzipien der evidenzbasierten Medizin auch im Bereich KI aufrechterhalten werden.
KI und Parodontologie: Wo macht es Sinn, wo geht es hin?
Dies gilt genauso für die Zahnmedizin. Auch hier häufen sich die Publikationen zu KI-Anwendungen. Die überwiegende Zahl befasst sich mit der Röntgenbildanalyse. Hier werden beispielsweise Zähne oder Restaurationen detektiert und klassifiziert oder diverse Pathologien (Karies, apikale Läsionen, Parodontitis oder Osteoporose) auf Röntgenbildern identifiziert. Einige dieser Forschungsergebnisse münden auch in anwendbaren Softwareprodukten. So hat beispielsweise die Charité eine Software zur automatisierten KI-gestützten Analyse von zahnärztlichen Röntgenbildern (Panoramaschichtaufnahmen, Bissflügelaufnahmen) entwickelt. Dieses Produkt, dentalXrai Pro(dentalXrai), befindet sich zurzeit in der Zulassung und wird zeitnah als Medizinprodukt zur Verfügung stehen. Die Software ist in der Lage, Zähne, Restaurationen, aber auch Karies und apikale Läsionen auf verschiedenen intra- und extraoralen zahnärztlichen Röntgenbildern zu detektieren (Abb. 2).
Da es sich um eine Ausgründung aus einer Universität handelt, wurden Aspekte der Generalisierbarkeit, Robustheit und Transparenz bei der Entwicklung explizit berücksichtigt.Validität und Genauigkeit der Software und von diversen Zahnärztenwurden verglichen. Die Software schnitt hierbei teilweise deutlich besser ab als der durchschnittliche Zahnarzt. In einer prospektiven randomisiert-kontrollierten Studie werdendie Softwareund die Auswirkungen der KI-Nutzung auf die Therapieplanung zurzeit untersucht. Auch im Bereich der Kieferorthopädie gibt es bereits eine KI-gestützte Softwareanwendung zur automatisierten Analyse von Fernröntgenseitenbildern derFirma CellmatiQ aus Hamburg. Insgesamt ist das Feld also in Bewegung.
Auch für den Parodontologen wird eine KIgestützte Analyse mittelfristig sinnvoll sein: die automatisierte Vermessung des parodontalen Knochenabbaus auf Einzelbildern oder Panoramaschichtaufnahmen kann das arbeitsintensive manuelle Vermessen auf diesen Bildern ersetzen. Die vollautomatische Erfassung dieser Daten erlaubt unter anderem eine Triangulation mit anderen Messungen, beispielsweise des Attachmentverlusts, oder mit Messungen aus verschiedenen Zeitpunkten. Die Ermittlung des Attachmentverlusts erfolgt schon heute oftmals über elektronische Datenerfassung, sodass eine Triangulation von Daten in diesem Zusammenhang ein realistisches Szenario darstellen kann. Besonders hinsichtlich der parodontalen Diagnostik nach der neuen EFP-AAPKlassifikation (2017) parodontaler und periimplantärer Erkrankungen und Zustände gewinnt die Vermessung des prozentualen Knochenabbaus an Bedeutung8. Dieser Aspekt kann für die Einteilung in Stadien, aber auch in die entsprechenden Grade zur Erfassung der Erkrankungsprogression (Knochenverlust in Prozent, dividiert durch das Alter des Patienten) herangezogen werden. Eine automatisierte Berechnung dieses Index auf Zahn- und Patientenebene kann den Zahnarzt in der parodontologischen Diagnostik maßgeblich unterstützen.
Die Verknüpfung der automatisiert erhobenen Bilddaten mit weiteren klinischen und anamnestischen Daten würde mittelfristig helfen, Patientenprofile genauer zu bestimmen und nachzuverfolgen. Unter Einbeziehung weiterer klinischer und analytischer Daten, wie beispielsweise Blutung auf Sondierung, Lockerungsgrade, sogenannte „Omics-Daten“ (also Mikrobiom-, Metabolom- oder Genomdaten), sowie durch von Patienten zur Verfügung gestellte Daten (beispielsweise Verhaltensprofile bezüglich Ernährung oder Sport) und/oder unter Rückgriff auf Abrechnungsdaten (Erfassung vorangegangener Behandlungen) kann es gelingen, eine präzisere, personalisierte parodontologische Prävention beziehungsweise Therapie durchzuführen. Auch wird durch das frühzeitige Erkennen lokalisierter parodontaler Entzündungen eine verstärkte Sekundärprävention in der Parodontologie ermöglicht. Da Softwarelösungen zudem den Patienten deutlich besser in die Behandlungsplanung und den Verlauf der Therapie beziehungsweise den Verlauf des Therapieerfolgseinbinden können, ist eine stärkere Partizipation des Patienten wahrscheinlich. Die vermehrte Nutzung von Daten (Datenzahnmedizin, siehe oben) unter Einsatz von KI-Technologien wird demnach den Weg für eine präzisere, personalisierte, präventive und partizipatorische Parodontologie (P4-Parodontologie) ebnen (Abb. 3).
Ein Beitrag von Prof. Falk Schwendicke, Prof. Henrik Dommisch und Dr. Joachim Krois, alle Berlin
Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de