Mehr als 60 Prozent der Ärzte und Psychotherapeuten spielten laut einer aktuellen Ärztebefragung mit dem Gedanken, aufgrund der schlechten Rahmenbedingungen vorzeitig aus der Patientenversorgung auszusteigen. Dabei erachteten nahezu 100 Prozent ihre Arbeit als sinnvoll und nützlich. Das berichtete der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. Andreas Gassen, am 8. Dezember 2023 auf der Vertreterversammlung der KBV in Berlin.
Die Zahlen stammen aus der aktuellen Ärztebefragung der KBV und des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) in diesem Herbst (siehe Kasten). Rund 32.000 Ärzte und Psychotherapeuten hätten sich daran beteiligt.
Zwei Drittel der Umfrageteilnehmer gaben an, sich durch die Arbeit ausgebrannt zu fühlen. Über 90 Prozent beklagen die Vielzahl bürokratischer Aufgaben und fühlen sich dadurch überlastet. Rund 85 Prozent empfinden, dass ihre Leistungen nicht angemessen honoriert werden. Etwa 85 Prozent der Haus- und Fachärzte machen sich mit Blick auf ihren Ruhestand Sorgen, keine Nachfolger zu finden. Hinzu kommt eine mangelnde Wertschätzung der Politik für die Arbeit der Praxen, die von 91,3 Prozent der Ärzte und Psychotherapeuten beklagt wird.
Auf volle Zustimmung stoßen bei Ärzten und Psychotherapeuten die im August von der Vertreterversammlung der KBV verabschiedeten Kernforderungen. Nahezu 100 Prozent drängen auf einen massiven Abbau von Bürokratie und eine tragfähige Finanzierung. Eine sinnvolle Digitalisierung, die nicht die Praxen lahmlegt, fordern 95 Prozent.
Miserable Rahmenbedingungen bremsen
„Diese Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Vereinfacht gesagt: Ärzte und Psychotherapeuten wollen schlichtweg ihren Job machen – und das so gut wie möglich. Aber miserable Rahmenbedingungen bremsen sie an allen Ecken und Enden aus“, sagte die Vorsitzende der KBV-Vertreterversammlung, Dr. Petra Reis-Berkowicz. Sie verwies ausdrücklich auf die sieben Kernforderungen der KBV an Gesundheitsminister Karl Lauterbach vom August, um Abhilfe zu schaffen.
„Die Ergebnisse dieser Befragung übertreffen meine schlimmsten Erwartungen“, sagte Gassen. „Wenn Politik jetzt nicht reagiert, werden wir bereits ab dem kommenden Jahr zunehmende Versorgungslücken haben, nicht nur auf dem Land, sondern auch in den Städten.”
Ergebnisse der Befragung von Ärzten und Psychotherapeuten
- 60,5 Prozent überlegen aufgrund der Rahmenbedingungen, vorzeitig aus der Patientenversorgung auszuscheiden (rund 70 Prozent der Haus- und Fachärzte).
- 61,9 Prozent fühlen sich durch die Arbeit ausgebrannt.
- 73,2 Prozent gaben an, dass ihnen für die Behandlung der Patienten nicht ausreichend Zeit zur Verfügung steht.
- 90,6 Prozent beklagen die Vielzahl bürokratischer Aufgaben und fühlen sich dadurch überlastet.
- 85,4 Prozent empfinden, dass ihrer ihre Leistungen nicht angemessen honoriert werden.
- 87,7 Prozent gaben an, dass die derzeitigen Digitalisierungsmaßnahmen den Praxisablauf beeinträchtigen.
- 91,3 Prozent nehmen von Seiten der Politik keine angemessene Wertschätzung für ihre Arbeit in der Patientenversorgung wahr.
- 82,2 Prozent finden schwer geeignetes Praxispersonal auf dem Arbeitsmarkt.
- 65,6 Prozent fühlen sich durch die Regressgefahren in der Patientenversorgung eingeschränkt.
- 72,2 Prozent machen sich Sorgen, einen geeigneten Nachfolger zu finden (rund 85 Prozent der Haus- und Fachärzte).
- 38,3 Prozent würden sich heute nicht wieder niederlassen.
KBV-Forderungen sind „kein Lobbyisten-Geschrei“
„Anhand dieser Befragung lässt sich eindrucksvoll ablesen, dass unsere Forderungen kein Lobbyisten-Geschrei von Funktionären sind, wie es der Bundesgesundheitsminister zuweilen darstellen möchte“, erklärte KBV-Vorstandsvize Dr. Stephan Hofmeister. „Diese Ergebnisse spiegeln die ganz realen Probleme und Sorgen der Praxen wider. Das ist eine veritable Krise.“ Frühzeitig habe man dem Minister Lösungsvorschläge unterbreitet. Jetzt müsse er handeln, forderte Hofmeister: „Obwohl es einige wenige, zaghafte erste positive Reaktionen gibt – es darf nicht bei Lippenbekenntnissen bleiben.“
Bürokratie und schlecht gemachte Digitalisierung
Obwohl fast 100 Prozent der Befragten ihre Arbeit als nützlich und sinnvoll empfänden, „verzweifeln viele von ihnen an einem Übermaß an Bürokratie, schlecht gemachter Digitalisierung, einer unzureichenden finanziellen Situation und dem damit verbundenen Fachkräftemangel sowie nicht zuletzt an der fehlenden politischen Wertschätzung ihrer enormen Arbeit“, kritisierte KBV-Vorstandsmitglied Dr. Sibylle Steiner.
Rund 62 Prozent der ärztlichen und psychotherapeutischen Kolleginnen und Kollegen fühlten sich ausgebrannt. „Es führt kein Weg daran vorbei: Die flächendeckende, wohnortnahe und qualitativ hochwertige ambulante Versorgung braucht gute und vernünftige Rahmenbedingungen.“
Leidtragende werden die Patienten sein
„Noch existiert ein dichtes Praxisnetz, durch das mehr als 600 Millionen Behandlungsfälle pro Jahr versorgt werden. Aber schon jetzt sind bundesweit fast 6.000 Arztsitze unbesetzt, weil die Niederlassung im Vergleich zu anderen Formen der ärztlichen Berufsausübung an Attraktivität eingebüßt hat. Tendenz steigend”, betonte Zi-Vorstandsvorsitzender Dr. Dominik von Stillfried. Wer aufhört, finde immer seltener einen Nachfolger für die Praxis. Damit würden Lücken in das bislang noch engmaschige Versorgungsnetz gerissen, “die die jetzt schon völlig überforderten Krankenhäuser niemals werden füllen können”, prophezeite der Zi-Chef und mahnte: “Die Leidtragenden werden die Patientinnen und Patienten sein.“
Umfrage zu Digitalisierung und TI in Berlin
Ähnlich schlecht ist die Stimmung der Vertragsärzte hinsichtlich der Digitalisierung und der Telematikinfrastruktur (TI). Auch dazu hatte das Zi mit dem Ärztenetzwerk Berlin im Frühjahr 2023 eine Online-Umfrage unter Berliner Praxisinhaberinnen und -inhabern sowie ihren Mitarbeitenden durchgeführt. 44 Prozent der befragten Praxen klagen über häufige Software-Abstürze, das Auslesen der elektronischen Gesundheitskarte sei besonders störanfällig. „Fast jede zweite Arzt- und Psychotherapiepraxis habe mehrfach im Monat Probleme mit der Praxissoftware, wenn es um die Umsetzung der Vorgaben zur digitalen Vernetzung der Praxen, der sogenannten Telematikinfrastruktur, geht. Rund ein Viertel der Praxen erleidet sogar sehr häufig (das heißt wöchentlich) Abstürze der Software. Dann steht auch die Patientenversorgung still, denn ohne Software geht in den allermeisten Praxen heute nichts mehr“, heißt es.
Häufige Störung beim Einlesen der eGK und der eAU
Besonders oft komme es zu Schwierigkeiten beim Auslesen der elektronischen Gesundheitskarte, gefolgt von Störungen bei klassischen TI-Anwendungen wie dem Ausstellen einer elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU). Die eAU wird von 62,5 Prozent der Praxen im Versorgungsalltag als eher erschwerend wahrgenommen. Am ehesten erleichternd haben 46,4 Prozent den elektronischen Medikationsplan eingestuft. Noch unklar ist das Bild bei der Nutzung des elektronischen Arztbriefs. Dieser wird jeweils von rund einem Drittel der niedergelassenen Praxen als Erleichterung, als Belastung beziehungsweise ohne Einfluss auf den Arbeitsaufwand gesehen.
Probleme auch mit dem PVS
Dass wichtige TI-Anwendungen nicht genutzt werden können, begründet die Hälfte der Teilnehmenden mit der zeitaufwendigen Einführung (51,7 Prozent) und einer hohen Fehleranfälligkeit (50,4 Prozent); oftmals treten nach notwendigen Software-Updates neue oder zusätzliche Probleme auf. Werden Probleme mit dem Praxisverwaltungssystem (PVS) festgestellt, wendet sich die Mehrheit der befragten Praxen direkt an den PVS-Anbieter (75,3 Prozent). Allerdings äußert mehr als die Hälfte Unzufriedenheit über die Erreichbarkeit der jeweiligen Servicehotline (51,5 Prozent). Zudem werden hohe allgemeine Kosten (60,7 Prozent) sowie hohe zusätzliche Kosten für den Support (55,1 Prozent) beklagt. Die Erhebung zeige allerdings auch, dass einigen Anbietern von Praxissoftware die Umsetzung der TI-Vorgaben offenbar gut gelingt und hohe Zufriedenheitswerte erreicht werden können.
Eher Schotterpiste als Datenautobahn
„Insgesamt stellt sich die von der Politik versprochene Datenautobahn für die Praxen eher als eine belastende Schotterpiste dar, auf der ein effizientes Praxis-Management massiv ins Schlingern gerät. Es steht zu befürchten, dass gerade ältere Ärztinnen und Ärzte früher als nötig ihre Praxen für immer zusperren, um nicht gezwungen zu sein, eine funktionsunfähige Telematikinfrastruktur anzuwenden, die täglich den Praxisbetrieb lahmlegt. Kurzum: Schlechte Digitalisierung gefährdet die Patientenversorgung“, so der Zi-Vorstandsvorsitzende Dr. Dominik von Stillfried. Deshalb müssten Praxen gefördert werden, die den Aufwand eines Wechsels zu einem funktionalen Softwareangebot auf sich nähmen.
PVS oft hinderlich für die Digitalisierung
Die stellvertretende KBV-Vorstandsvorsitzende Sybille Steiner forderte daher auf der KBV-VV auch von der Politik, die PVS-Anbieter stärker, als bisher von der Politik geplant, zu regulieren: „Bei Lichte betrachtet ist das Praxisverwaltungssystem (PVS) einer der – wenn nicht sogar der – Schlüssel zur Digitalisierung in den Praxen und damit im Gesundheitswesen insgesamt. Doch wir erfahren schmerzhaft: Politik, Sachverständigen und anderen Mit-Entscheidern ist überhaupt nicht bekannt, wie die PVS-Realität in den Praxen wirklich aussieht. Aktuell sind viele der PVS so hinderlich wie die für ihre Strenge berüchtigten Türsteher vor In-Clubs.“
Politik sieht Probleme nicht
Der Politik sei dies aber nicht bewusst. „Deshalb setzen wir uns intensiv bei der Politik dafür ein, dass alle PVS-Hersteller verbindlich dazu verpflichtet werden, rechtzeitig und fristgerecht einheitliche Qualitätsstandards der Gematik zu erfüllen, etwa hinsichtlich Reaktions- und Verarbeitungszeiten sowie Benutzerfreundlichkeit. Bei unserem Gespräch mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach wurde deutlich, dass er davon ausging, dies sei mit dem Entwurf des Digitalgesetzes bereits gewährleistet. Hier haben wir als KV-System nachdrücklich darauf gedrungen, dass dieses Gesetz dringend nachgebessert werden muss“, so Steiner.
Der Umgang mit der elektronischen Patientenakte (ePA) in den Praxen könne nur so gut werden, wie es das PVS zulasse. „Das ist der Dreh- und Angelpunkt für eine sinnvolle Digitalisierung.“ Deshalb könne man nicht warten, bis sich das vom Bundesministerium für Gesundheit als Allheilmittel geplante Kompetenzzentrum für Interoperabilität im Gesundheitswesen aufgestellt hat – zumal die ePA 2025 an den Start gehen soll. „Die Gematik muss sehr viel früher schon die PVS-Hersteller in die Pflicht nehmen können“, so Steiner.
Der Minister selbst hatte in einem Interview mit dem „Handelsblatt“ am 7. Dezember 2023 noch angekündigt, dass er mit den Digitalisierungsgesetzen erstmals auch Sanktionen für die PVS-Hersteller einführen wolle.
KBV legt eigene Rahmenvereinbarung vor
Die KBV selbst hat in einer Arbeitsgruppe und im Austausch mit Praxen eine Rahmenvereinbarung für die PVS-Hersteller vorbereitet, die jetzt in der Kommentierungsphase sei und im Februar von den PVS-Herstellern auf freiwilliger Basis unterzeichnet werden soll. Vorgesehen sind darin laut Steiner mehr Preis-Transparenz, verlässlicher Service und Support und IT-Sicherheit.