„Wir wollen einfach nur unsere Patientinnen und Patienten gut behandeln. Aber stattdessen müssen wir uns durch einen Bürokratiewahnsinn arbeiten“, fasste ein Zahnarzt aus dem Publikum knapp zusammen, was die Berliner Zahnärztinnen und Zahnärzte und ihre Teams aktuell umtreibt.
Unter dem Motto „Zähne zeigen gegen diese kranke Gesundheitspolitik“ trafen sich am 18. Juni 2024 mehr als 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer erst im Berliner Zahnärztehaus zur Podiumsdiskussion mit Berliner Politikern und zogen dann zum Henriettenplatz, um dort lautstark auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Die Sorge vor einer weiteren Verschlechterung der politischen Rahmenbedingungen für die Praxen, einer weiter zunehmenden Reglementierung und neuen bürokratischen Auflagen – vom Leiterbeauftragten bis zur Ausbildungsabgabe – für die Praxisabläufe beschäftigte viele. Zusammen mit den Auswirkungen des demografischen Wandels auf Praxisinhaberinnen und -inhaber und auf die zu betreuenden Menschen bildet dies eine gefährliche Mischung und droht, die wohnortnahe zahnmedizinische Patientenversorgung auch in der Millionenstadt Berlin akut zu beeinträchtigen. Mehr als 800 Praxen haben in den vergangenen zwölf Jahren geschlossen, ein Drittel der Berliner Zahnärztinnen und Zahnärzte ist älter als 60 und wird in den kommenden Jahren aus dem Berufsleben ausscheiden.
Podiumsdiskussion führt Berliner Probleme deutlich vor Augen
In der von Dr. Marion Marschall, Chefredakteurin Quintessence News, moderierten Podiumsdiskussion traten die zahlreichen Anliegen, die Zahnärzteschaft und zahnmedizinischen Fachberufen derzeit auf den Nägeln brennen, klar hervor. Für die Organisatoren der Veranstaltung, Zahnärztekammer (ZÄK) Berlin und Kassenzahnärztliche Vereinigung (KZV) Berlin, machten das Kammerpräsident Dr. Karsten Heegewaldt und KZV-Vorstandsvorsitzender Karsten Geist an vielen Beispielen deutlich. Für die vielen Zahnmedizinischen Fachangestellten und Fachkräfte in den Praxen sprach Hannelore König, Präsidentin des Verbands medizinischer Fachberufe (vmf) und erklärte unter Beifall, dass auch die Vertreterinnen und Vertreter der Fachberufe mit an den Tisch gehören, wenn es um die Zukunft der zahnärztlichen Versorgung geht.
Arbeitsplätze in den Praxen gefährdet
„Als vmf unterstützen wir den Protest der Berliner Zahnärzteschaft, denn die gesundheitspolitischen Entscheidungen zur Budgetierung der Parodontitis-Therapie und zu den Honorarobergrenzen bei zahnärztlichen Leistungen gefährden Arbeitsplätze in den zahnärztlichen Praxisteams und gleichzeitig die wohnortnahe zahnärztliche Versorgung“, so König. Die Versprechen zur Stärkung der Gesundheitsberufe und der ambulanten Versorgung aus dem Koalitionsvertrag seien bis heute nicht eingelöst worden, stattdessen gab es für den ambulanten Bereich nur Spargesetze, Sanktionen und mehr statt weniger Bürokratie. König: „Selbst der Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege fordert in seinem aktuellen Gutachten, endlich Strukturreformen umzusetzen, um die knappe Ressource der Gesundheitsberufe effizienter einzusetzen. Dazu gehört auch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen für unsere Berufsangehörigen, so die Gutachter.“
Berliner Gesundheitspolitiker auf dem Podium
Mit auf dem Podium saßen mit Christian Zander, gesundheitspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion, und Tobias Schulze, Sprecher für Gesundheit der Fraktion „DIE LINKE“, zwei Repräsentanten der Berliner Landespolitik. Sie hörten die Berichte und Sorgen aus den Praxen und die Forderungen der Zahnärzteschaft und Mitarbeitenden, die sich auch konkret auf die Berliner Landespolitik mit zusätzlichen Praxisbegehungen, endlosen Anerkennungsverfahren für ausländische Kolleginnen und Kollegen und anderen bürokratischen Belastungen bezogen. Und sie nahmen die klare Botschaft mit, sich auch auf Bundesebene gegen noch mehr Belastungen für die Praxen und gegen den weiteren Vormarsch von Fremdinvestoren in der zahnärztlichen Versorgung zu positionieren.
Für engen Austausch mit den Zahnärzten einsetzen
Schulze und Zander kündigten an, sich im Berliner Gesundheitsausschuss für einen Runden Tisch oder eine Anhörung zur Situation der ambulanten zahnärztlichen Versorgung in Berlin einzusetzen und die genannten Probleme auch anzugehen. „Wir hinken in der Digitalisierung bei der Lageso (Landesamt für Gesundheit und Soziales, Anm. d. Red.) hinter dem Standard im Bund hinterher“, konstatierte Zander angesichts des Beispiels eines übernahmewilligen Zahnarztes, der seit Jahren auf die Anerkennung seiner Approbation wartet. Einfache Lösungen gebe es nicht, konstatierten er und Schulze, aber konkrete Probleme müsse man angehen. Beide nahmen auch die Botschaft mit, dass es nicht die Work-Life-Balance ist, die Zahnärztinnen und Zahnärzte an der Niederlassung hindere, sondern der große Zeitanteil, der in Verwaltung, unausgereifte Digitalisierung und das Erfüllen bürokratischer Auflagen gehe – und eben nicht in die Behandlung der Patientinnen und Patienten und in die so erfolgreiche Präventionsarbeit.
Klare Position gegen iMVZ
Nicht nur in den Praxen, auch im Öffentlichen Gesundheitsdienst fehlten Zahnärztinnen und Zahnärzte, erklärte Schulze. Das wirke sich auch negativ auf den schulzahnärztlichen Dienst aus, und damit auf die Gesundheit der Kinder. Er sprach sich klar gegen investorengeführte MVZ in der Zahnmedizin aus. Diese zögen Geld aus dem solidarischen Gesundheitssystem, um Rendite zu erwirtschaften. Grundsätzlich seien ärztlich geführte MVZ, auch in der Trägerschaft von Kliniken oder Bezirken, gerade in der hausärztlichen und kinderärztlichen Versorgung in Berlin aber eine wichtige Option.
Erschreckende Umfrage-Ergebnisse
Beide nahmen auch die Zahlen aus der jüngsten Umfrage der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung unter den Vertragszahnärzten mit, nach denen 72 Prozent der Teilnehmenden überlegen, vorzeitig aus dem Berufsleben auszusteigen. 95 Prozent beklagen eine hohe Bürokratielast, für 94 Prozent belastet die Kombination aus nicht ausgereiften Pflichtanwendungen der Telematikinfrastruktur und Bürokratie konkret die Versorgung der Patienten in der Praxis.
Budgetierung steht effizienter Patientenversorgung entgegen
Karsten Geist, der Vorstandsvorsitzende der KZV Berlin, verwies auf die Folgen der Budgetierung: „Was einer effizienten Patientenversorgung massiv im Wege steht, ist die Budgetierung zahnmedizinischer Behandlungen. So hat der Gesetzgeber die erst Mitte 2021 neu eingeführte, präventionsorientierte und auf drei Jahre angelegte Parodontitistherapie schon 2023 wieder budgetiert. Ergebnis: ein Rückgang der durchschnittlichen monatlichen Neubehandlungen von 120.441 im Jahr 2022 auf 93.671 im Folgejahr. Das ist ein Einbruch um mehr als 22 Prozent. Dabei leidet jeder zweite Erwachsene an Parodontitis, unbehandelt ist sie die häufigste Ursache für vermeidbaren Zahnverlust. Wer ständig der Prävention das Wort redet, muss sich auch in der Realität daran messen lassen. Anderer Punkt: Die Überalterung der Zahnärzteschaft stellt uns vor immense Herausforderungen. So hat sich der Anteil der über 60-jährigen Vertragszahnärztinnen und -zahnärzte in den vergangenen 15 Jahren von 15 Prozent (2009) auf 33 Prozent (2023) mehr als verdoppelt. Und es existieren weit mehr ältere, praxisabgabewillige als jüngere, übernahmebereite Zahnmediziner. Für den Nachwuchs ist das wohl nicht mehr attraktiv.“
„Kontroll-Listen machen nicht einen einzigen Menschen gesund“
Kammerpräsident Dr. Karsten Heegewaldt redete sich angesichts der neuesten Beispiele für bürokratische Hürden fast in Rage: „Neben einem immer wilderen Bürokratiedschungel und einem sich verstärkenden Fachkräftemangel müssen wir nun die Folgen einer über Jahre und Jahrzehnte verfehlten Gesundheitspolitik ausbaden. Wir haben eine Verantwortung gegenüber unseren Patientinnen und Patienten, die wir sehr ernst nehmen. Neue bürokratische Anforderungen, Dokumentationen und Kontroll-Listen machen nicht einen einzigen Menschen gesund. Hinzu kommen die fatalen Konsequenzen der Budgetierung: Leistungseinschränkungen und verlängerte Wartezeiten für Patientinnen und Patienten sowie Praxissterben und dadurch wachsende Versorgungslücken. In den kommenden fünf Jahren wird circa ein Drittel der niedergelassenen Zahnärztinnen und Zahnärzte das Ruhestandsalter erreichen. Niederlassungswilliger Nachwuchs ist kaum in Sicht, denn aufgrund der stetig schlechter werdenden Rahmenbedingungen sind immer weniger junge Zahnärztinnen und Zahnärzte bereit, eine eigene Praxis zu gründen. Das Maß ist jetzt voll und wir müssen gemeinsam gegen die immer schlimmer werdenden Zustände protestieren!“
Kammer, KZV und vmf appellierten nachdrücklich an die Politik, die Grundlagen für eine qualitativ hochwertige Patientenversorgung bereitzustellen und zu diesem Zweck bestehende Hürden abzubauen, keinesfalls ständig neue zu schaffen.
Mit Material von KZV und Zahnärztekammer Berlin.