Die Morgenroutine ruft: Duftender Morgenkaffee und frische Tageszeitung. Bereits auf Seite 2 in „Hintergrund und Analyse“ die Überschrift: „Jedes Update bringt neue Fehler“ (Schleswiger Nachrichten vom 11. September 2024) Erster Gedanke: Och nee, nicht schon zu so früher Stunde. Zweiter Gedanke: Die Regionaljournalisten werden doch nicht etwa kurz vor dem Start der neuen elektronischen Patientenakte in die Niederungen der typischen Probleme der Telematikinfrastruktur (TI) herabsteigen und sich kritisch mit dem Lieblingsprojekt von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach befassen?
Diebstahl von Arbeitszeit durch Digitalisierung
Nachfolgend einige Zitate aus besagtem Artikel. „Alte Fehler werden behoben und neue produziert“ […], „In den ausgelieferten (Software) Versionen sind massenhaft Fehler, die man vor dem Rollout alle schnell noch versucht, mit Hotfixes einzufangen“ […], „Beim Scrollen kommt es beim Aufruf jeder neuen Seite (des PDFs) jeweils zu einer halben Sekunde Verzögerung“. Das klingt sehr nach den seitens der Leistungserbringer seit Jahren, um nicht zu sagen seit über einem Jahrzehnt beklagten Zuständen im Zusammenwirken der Praxis-EDV mit der TI.
Hier nun das vollständige Zitat: „In meinem Unfallversicherungssenat, wo die Akten gerne mal 2-000 Seiten haben, addiert sich diese Latenz ganz massiv“. Noch so ein Schmankerl: „Ein Team von Richtern und Staatsanwälten (die IT-Kontrollkommission) prüft, ob mit den jeweils neuen Versionen die 30 bis 40 unterschiedlichen Geschäftsprozesse unserer Justiz funktionieren“.
Was ein Glück, dass es sich hier nicht um die neue ePA, sondern „nur“ um die E-Akte in der deutschen Justiz handelt. Genauer in der von Schleswig-Holstein.
Gerichte standen ganze Werktage still
In der Anhörung vor dem parlamentarischen Ausschuss wurde seitens der sogenannten IT-Kontrollkommission, die alle Prozesse im Zuge der Digitalisierung der Justiz begleitet, die schlechte Performance der Akte thematisiert. Ein letztes Zitat aus besagtem Artikel: „Es gab den Stillstand ganzer Gerichte für ein Werktag, genaue Zahlen habe ich aber nicht“, so der Vorsitzende der IT-Kontrollkommission. Soweit zu den Digitalisierungszuständen in der deutschen Justiz.
Die Politik prägt die Technik, nicht der Nutzen für die Anwender
Diese klingen nicht wesentlich anders als die seit Jahren insbesondere von den Ärzten beklagten zeitraubenden Zustände im täglichen Umgang mit der TI. Nun ist die deutsche Justiz im Vergleich zum Gesundheitswesen überschaubar(er). Und auch der Massenanfall digitaler Vorgänge ist nicht vergleichbar. Dennoch wird das grundlegende Dilemma der Digitalisierung öffentlicher Bereiche hierzulande wieder einmal deutlich: Die Politik prägt die Technik. Und eben nicht das Anwendungsszenario.
Lassen wir an dieser Stelle einmal beiseite, woher die Ideen und Vorstellungen der Politik kommen, respektive von wem diese – meist sind es ja wirtschaftliche – Partialinteressen geprägt werden. Das Problem war und ist, dass die Auswirkungen der politisch betriebenen Digitalisierung auf diejenigen, deren Berufsalltag damit gestaltet wird, wenig bis nicht interessiert, sondern „par ordre du mufti“ aufoktroyiert werden.
Aus zwei mach achtzig
In weniger als vier Monaten soll nun der Stapellauf der neuen elektronische Patientenakte, „die ePA für alle“ – eine freundlich verbrämende Formulierung für die Opt-Out-Version der Patientenakte – stattfinden und als das zentrale Element der vernetzten Versorgung, quasi das Herz der Digitalisierung des Gesundheitswesens, fungieren. Zuerst in Hamburg und Franken startend (kann man das wirklich Pilotphase nennen?) soll einen Monat später die flächendeckende Einführung aus den 2 Prozent der gesetzlich Versicherten, die bis dato die „freiwillige“ Opt-in-Version nutzen, in kürzester Zeit 80 Prozent der gesetzlich Versicherten machen.
So zumindest die durchaus nachvollziehbare Erwartungshaltung des Ministers. Schließlich sollen doch die Gesundheitsdaten (treffender wäre die Formulierung Krankheitsdaten) der Patientinnen und Patienten im Sinne der gesetzlichen Vorgaben (Digitalgesetz, Gesundheitsdatennutzungsgesetz) in Anwendung gebracht werden.
Heilberufler schon wieder Beta-Tester
Allerdings fällt diese Erwartungshaltung von Propeller-Karl in die Rubrik Hybris, handelt es sich bei der ePA 3.0 noch nicht um ein ausgereiftes Produkt, sondern um eine jener digitalen Versprechungen, die wieder einmal beim Kunden reifen müssen. Aber immerhin gibt es einen Fahrplan der Bundesregierung mit weiteren Ausbaustufen bis 2026.
Und das, obwohl die ePA mittlerweile eine „Reifungszeit“ von nunmehr 20 Jahren aufweist. Noch Fragen zur Kompetenz eines professoralen Ministers, der vor zwei Jahrzehnten als Berater (leider garantiert dieses Wort keinen Sachverstand) die ePA mal eben schnell mit der TI einführen wollte?
Perspektive von Patienten und Anwendern nicht beachtet
Ob sich Karl Lauterbach und der Rest der damit mehr oder minder befassten Gesundheitspolitik die Mühe gemacht haben, die Perspektive der Patienten und Patientinnen, für die die ePA ja vorgeblich sein soll, wie auch derer, die damit arbeiten müssen, in Betracht zu ziehen, muss ernsthaft bezweifelt werden. Ein Blick auf die technische Beschreibung macht deutlich, dass es sich entgegen den Behauptungen aus Politik und Krankenkassen auch bei der ePA 3.0 gerade nicht um eine patientenzentrierte Akte handelt.
Die KI soll es wie immer richten
Was den Minister Lauterbach nur wenig jucken wird, denn immerhin hat er die sekundäre Datennutzung seitens Wissenschaft und Industrie bereits gesetzlich geregelt. Was die primäre Datennutzung durch die Heilberufler wie auch die Patienten angeht, sieht es ganz anders aus. Zum Start am 15. Januar 2025 steht lediglich die Medikationsliste strukturiert und in einem international standardisierten Format zur Verfügung. Der Rest von Labor-, Bildbefunden bis Krankenhaus-Entlassbriefen wird lediglich als pdf in der ePA landen. Doch lauscht man den Worten des Ministers, wird der schnelle und sichere Zugriff auf die Daten dank KI mit einem Fingerschnipp erledigt sein. Als ob „machine learning“ das trivialste der Welt wäre und KI keinen Bias hätte.
Marketingsprech statt Inhalt
In das gleiche Horn trötet auch die Gematik und formuliert in schönstem Marketingsprech: ‚In der ePA werden alle relevanten Gesundheitsdaten gebündelt und für den Versorgungsalltag nutzbar gemacht. […] Durch den schnellen Zugriff auf die Gesundheitsdaten können Ärztinnen, Apotheker und Pflegekräfte ihre Patientinnen und Patienten (Achtung! Jetzt kommt es:) noch individueller behandeln […]“.
Dazu seien nur zwei Aspekte angemerkt. Wenn das mit dem „noch individueller“ so stimmen würde, wäre es wirklich ein Armutszeugnis für jeden Heilberufler. (Nur nicht für die Zahnärztinnen und Zahnärzte, denn die scheinen ja offensichtlich nicht gemeint zu sein. – Freuen Sie sich nicht zu früh, denn wer das Webinar der Gematik am 11. September mitgemacht hat, dürfte dem ePA-Start mit noch mehr Bauchgrummeln entgegensehen als vorher.)
KBV vs. PVS-Anbieter
Nun will ich an dieser Stelle nicht den Eindruck erwecken, als ob es keine Produkt- und Projektbeschreibung gegeben hätte. Allerdings entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass angesichts des Zeitdrucks das Schwarze-Peter-Spiel bereits seit einiger Zeit die Öffentlichkeit erreicht hat. So baut die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) Druck vernehmlich auf die Hersteller der Praxisverwaltungssysteme auf, hat doch bis dato noch kein ePA-Modul der Praxissoftwarehersteller das Licht der Öffentlichkeit erblickt.
Dr. Uwe Axel Richter zu Gast bei „Dental Minds“
Die Gesundheitspolitik begleitet den Mediziner und Fachjournalisten schon seit Jahrzehnten, auch in der ärztlichen und zahnärztlichen Standespolitik ist er zuhause: Dr. Uwe Axel Richter. Für „Quintessence News“ nimmt er in seiner Kolumne alle 14 Tage aktuelle politische Themen kritisch unter die Lupe. Jetzt ist er zu Gast bei „Dental Minds“ und schaut mit Dr. Marion Marschall und Dr. Karl-Heinz Schnieder auf das, was sich in Gesundheits- und Standespolitik bewegt – oder auch nicht.
Vom gesundheitsreformerischen Dauerfeuer des amtierenden Bundesgesundheitsministers mit Krankenhausreform und mehr über die Möglichkeiten und Grenzen der zahnärztlichen Standespolitik bis zur AS Akademie, der Akademie für freiberufliche Selbstverwaltung und Praxismanagement in Berlin, erklärt und beleuchtet Richter im Gespräch die aktuellen Themen. Hier geht es zum Podcast.
Monoperspektivisches Erwartungsmanagement?
In einer Pressemeldung Ende Mai äußerte sich der Zusammenschluss der Anbieter daher folgendermaßen: „Der Bundesverband Gesundheits-IT – bvitg e. V. – begrüßte die grundlegende Intention der KBV, sieht jedoch das unabgestimmte Vorgehen zu den formulierten und veröffentlichten Anforderungen kritisch. Weder die Gematik als gesetzlich zuständige und betraute Stelle zur Definition von Anforderungen an die ePA-Umsetzung noch die Anbieter von Praxisverwaltungssystemen (PVS) mit ihrer technischen und praxisnahen Expertise wurden seitens der KBV in die Erstellung der Praxisinformation einbezogen. Im Ergebnis steht somit ein monoperspektivisches Erwartungsmanagement, welches besonders technische Implikationen der dargelegten Konzeptionen unzureichend berücksichtigt. Exemplarisch zeigen dies Formulierungen zum automatischen Zugriff einer Praxis auf die ePA-Inhalte für einen bestimmten Zeitraum, die beispielsweise Aspekte des Versicherungsstammdatenmanagements (VSDM) nicht einbeziehen“. Ohne spotten zu wollen: Wer sind eigentlich die Kunden der Mitgliedsfirmen des bvitg?
Hohe Drehzahl und kurze Fristen
Dem Vernehmen nach läuft die Abstimmung zwischen Herstellern und der Gematik mit hoher Drehzahl, um ab Mitte Oktober in die Testphase gehen zu können. Ob alle Hersteller den engen Terminplan schaffen werden, wird sich dann zeigen. Aber immerhin gibt es ja zwischen dem Start in den Modellregionen und dem Rollout Mitte Februar eine Galgenfrist von einem Monat.
Der Frust der Heilberufler wird nochmals steigen
Wie allerdings die Praxen mit der knappen Zeit zurechtkommen werden, um die Befüllung der ePA 3.0 physisch in den Praxisablauf zu integrieren, steht im wahrsten Sinne des Wortes in den Sternen. Psychisch wird es erhebliche Belastungen geben, schließlich haben Patienten ja ein Recht auf die Befüllung, wie die Krankenkassen nicht müde werden zu betonen. Ob da die zehn Euro für die Befüllung mit den ersten zehn Dokumenten die Stimmung heben werden? In der Situation der Hausärzte, die ja die Majorität der Initialbefüllung leisten werden müssen, möchte man nicht stecken.
Frust und Chaos treiben Ärzte aus der Versorgung
Da bekommt die Formulierung des Zentralinstitutes für kassenärztliche Versorgung (ZI) in der Pressemeldung von vergangener Woche einen noch düsteren Ton: „Bürokratische Auflagen, Kostenanstiege und IT-Chaos treiben immer mehr Praxisführende aus der vertragsärztlichen Versorgung“.
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.