Im Zusammenhang mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz soll ein Paragraf 94a in das Fünfte Sozialgesetzbuch (SGB V) eingefügt werden. Dieser Paragraph macht den Weg frei für die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsverfahren per Verordnungsermächtigung durch das Bundesministerium für Gesundheit. Dies hat zwei gravierende Folgen für das deutsche Gesundheitssystem: die Abkehr von den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin und die Aushebelung des im SGB V verankerten Grundprinzips der Selbstverwaltung, wodurch Entscheidungen über die medizinische Versorgung gesetzlich versicherter Patienten zum Spielball politischer Interessen gemacht werden.
Trifft medizinische Versorgung von GKV-Patienten
Mit Befremden hat das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V. (DNEbM) den Änderungsantrag Nr. 28 zum Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG) wahrgenommen. Dieser sieht die Einführung eines Paragrafen 94a in das Fünfte Sozialgesetzbuch (SGB V) vor, über den das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) in die Lage versetzt werden soll, per Verordnungsermächtigung neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden unabhängig von einer Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) in den Leistungsumfang der GKV aufzunehmen. Explizit soll dies auch für Methoden gelten, deren Nutzen nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin noch nicht belegt ist oder die vom G-BA bereits abgelehnt wurden. Auch der Vorstandsvorsitzende der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), Dr. Wolfgang Eßer, mahnte in einer Stellungnahme an, Maßstäbe der Methodenbewertung nicht grundsätzlich aufzuweichen und vielmehr die Kompetenz für die Bewertung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in den Händen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zu belassen (mehr dazu auf Quintessence News).
Aktuelles Beispiel: Liposuktion
Als ersten Anwendungsfall will das BMG öffentlichkeitswirksam die Liposuktion (Fettabsaugung) zur Behandlung des Lipödems als GKV-Leistung einführen, obwohl derzeit eine klinische Erprobung in Form einer randomisierten kontrollierten Studie vorbereitet wird.
Zurzeit liegen Entscheidungen über „Kassenleistungen“ beim G-BA). Dessen Entscheidungen orientieren sich an den Kriterien der evidenzbasierten Medizin. Wenn neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden durch den G-BA bewertet werden, erfolgt eine genaue Prüfung der Evidenz aus klinischen Studien. Erstellt werden diese Nutzenbewertungen meist durch das IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen). Falls die Evidenz unzureichend ist, kann der G-BA eine Erprobungsstudie initiieren, um kritische Wissenslücken zu schließen. Auch diese Vorgehensweise ist im SGB V verankert (Paragraf 137e SGB V).
Paragraf wirkt sich zweifach aus
Die geplante Einführung des Paragrafen 94a impliziert nun zweierlei: Zum einen umgeht sie die Regelungen des SGB V, die vor allem dem Schutz der Patienten vor ungeprüften schädlichen oder unnützen Methoden dienen. Wie wichtig das ist, wurde erst kürzlich durch die als „Implant Files“ publik gewordenen Probleme mit neuen Medizinprodukten gezeigt. Die Abkehr von den Entscheidungskriterien des G-BA bedeutet auch eine Abkehr von den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin – einer Errungenschaft, die die Grundlage einer effektiven, sicheren und effizienten Patientenversorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung sichert.
Zum anderen durchbricht der geplante Paragraf 94a das im SGB V verankerte Grundprinzip der Selbstverwaltung des deutschen Gesundheitssystems, indem jetzt Entscheidungen über medizinische Leistungen auf die politische, ministerielle Ebene verlagert werden. Das heißt, Entscheidungen über die Leistungen der GKV werden unmittelbar zum Spielball politischer Interessen. Es ist völlig unklar, nach welchen Kriterien und auf welcher Informationsbasis diese Entscheidungen getroffen werden. Aus Sicht des EbM-Netzwerks öffnet sich hierdurch Tür und Tor für die Einflussnahme unterschiedlichster Lobbygruppen auf die medizinische Versorgung gesetzlich versicherter Patienten.
Hinsichtlich des vom BMG monierten Beispiels ist festzustellen, dass die Liposuktion bei Lipödem eine kostspielige und durchaus risikobehaftete Behandlungsmethode ist. Auch ist fraglich, welche Patientinnengruppen am ehesten von dieser Therapie profitieren. Da die bisher verfügbare Evidenz (Fallserien) kaum aussagekräftig ist, ist es sinnvoll, dass der G-BA hierzu erst eine Erprobungsstudie durchführen lassen will. Nur auf wissenschaftlich fundierten Kriterien beruhendes Prüfen und Abwägen ermöglicht nachhaltige Innovation im Gesundheitswesen, die den Patienten nützt und nicht schadet.
Politische Ziele und Entscheidungen dürfen keinesfalls über wissenschaftliche Prinzipien und Erkenntnisse gestellt werden. Aus Sicht des EbM-Netzwerks und hta.de besteht keine Not, das in den vergangenen 20 Jahren entwickelte, etablierte und auch international anerkannte Vorgehen bei der Entscheidungsfindung über medizinische Leistungen in Frage zu stellen oder um einen alternativen Weg zu ergänzen.