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Leistungsausgaben und Kassendefizit im 1. Halbjahr deutlich gestiegen – GKV-Spitzenverband kritisiert Bundesgesundheitsminister Lauterbach

„Der Bundesgesundheitsminister schaut tatenlos zu“, so Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands.

(c) GKV-Spitzenverband

Die aktuellen Schätzungen des Bundesgesundheitsministeriums zur Finanzsituation der Gesetzlichen Krankenversicherung bestätigen, was Experten schon vorhergesagt haben: Die Leistungsausgaben sind weiter gestiegen, das Defizit der GKV beträgt inzwischen mehr als 2,16 Milliarden Euro, und die Tendenz für 2024 lässt ein deutlich höheres Defizit erwarten. Damit werden die Beiträge für 2025 erneut steigen müssen, so die Erwartung der Krankenkassen.

In der Pressemitteilung des Bundesministeriums für Gesundheit heißt es dazu lapidar: „Die 95 gesetzlichen Krankenkassen haben in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres ein Defizit in Höhe von 2,2 Milliarden Euro erzielt. Die Finanzreserven der Krankenkassen betrugen zum Ende des 1. Halbjahres rund 6,2 Milliarden Euro. Dies entspricht 0,23 Monatsausgaben. Die gesetzlich vorgesehene Mindestreserve beträgt 0,2 Monatsausgaben. Den Einnahmen der gesetzlichen Krankenkassen in Höhe von 159,1 Milliarden Euro standen Ausgaben in Höhe von 161,3 Milliarden Euro gegenüber. Die Ausgaben für Leistungen und Verwaltungskosten verzeichneten bei einem Anstieg der Versichertenzahlen von 0,4 Prozent einen Zuwachs von 7,3 Prozent.“

22 Kassen haben Zusatzbeitrag schon erhöht

Vermerkt wird auch, dass alle Kassenarten ein Defizit verzeichnen mussten und 22 Kassen bereits den allein von den Versicherten zu zahlenden Zusatzbeitrag unterjährig erhöht haben. Größter Treiber bei den Ausgaben im ersten Halbjahr sind die Krankenhausbehandlungen mit +7,9 Prozent oder 3,6 Milliarden Euro und die Arzneimittelkosten mit +10 Prozent/2,5 Milliarden Euro. Stark gestiegen sind ebenfalls die Ausgaben im Bereich der Behandlungspflege und der häuslichen Krankenpflege (+12,4 Prozent/+569 Millionen Euro) sowie bei Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen (+11,1 Prozent bzw. +231 Millionen Euro).

Ausgaben auch im ambulanten Bereich gestiegen

Auch im ambulanten Bereich sind die Ausgaben gestiegen, wobei die Angaben wegen der noch nicht erfolgten Quartalsabrechnungen immer vorläufig sind. Danach sind laut BMG-Bericht die Ausgaben für ambulant-ärztliche Behandlungen im 1. Halbjahr um 5,3 Prozent beziehungsweise 1,3 Milliarden Euro gestiegen. Die Aufwendungen für extrabudgetäre psychotherapeutische Leistungen weisen überdurchschnittliche Aufwüchse auf (+6,8 Prozent beziehungsweise +116 Millionen Euro). Auch die Aufwendungen für ambulante Operationen gemäß AOP-Katalog sind mit einem Wachstum von rund 9,2 Prozent beziehungsweise 106 Millionen Euro dynamischer als der Gesamtbereich gewachsen. Für die Abrechnung der sog. Hybrid-DRGs durch die niedergelassenen Ärzte buchten die Krankenkassen rund 35 Millionen Euro.

BMG hebt explizit auf PAR-Leistungen ab

„Die Aufwendungen für zahnärztliche Behandlungen (ohne Zahnersatz) stiegen um 3,7 Prozent beziehungsweise 255 Millionen Euro und damit weniger stark als in den Rechnungsergebnissen des ersten Quartals. Die Ausgaben für den Teilbereich der Parodontalbehandlungen stiegen aufgrund von Leistungsverbesserungen überdurchschnittlich stark um rund 10,3 Prozent beziehungsweise 73 Millionen Euro. Die weitere Entwicklung bleibt auch im Hinblick auf die mit dem GKV-FinStG geregelte Begrenzung des Anstiegs der Gesamtvergütung noch abzuwarten“, heißt es.

Interessant ist, dass das BMG hier erneut (nach dem Bericht zum 1. Quartal 2024) explizit auf die Ausgaben für die PAR-Therapie nach der neuen PAR-Richtlinie abhebt. Üblicherweise werden bei den zahnärztlichen Leistungen in den Berichten außer dem ohnehin gesondert ausgewiesenen Zahnersatz (+4,3 Prozent beziehungsweise 86 Millionen Euro) keine Einzelleistungen aufgeführt. Hintergrund ist, dass auch die Leistungen für die zum 1. Juli 2021 neu eingeführte PAR-Richtlinie mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz unter die damit eingeführte Budgetierung für 2023 und 2024 gefallen sind. Die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung und die Zahnärzteschaft fordern seit Genese des Gesetzes, die Budgetierung dieser Leistungen wieder aufzuheben. Eine Evaluierung der Auswirkungen, die vom BMG und der KZBV gesondert vorgenommen wurde, führte zu unterschiedlichen Bewertungen. Laut KZBV-Abrechnungszahlen sind die Neuanträge auf PAR-Behandlungen infolge der Budgetierung unter das Niveau vor Einführung der Neuregelungen gefallen. Die trotzdem gestiegenen Ausgaben resultierten im Wesentlichen aus den Folgeleistungen der auf mehr als zwei Jahre angelegten Therapiestrecke. Das BMG sieht dagegen keine negativen Auswirkungen der Budgetierung auf die PAR-Therapie.

Kassen fordern Gegensteuern von der Politik 

Der GKV-Spitzenverband (GKV-SV) fordert angesichts der aktuellen Zahlen erneut, dass die Politik endlich handeln müsse. „Auch wenn alle Krankenkassen im Interesse ihrer 75 Millionen Versicherten und deren Arbeitgebenden darum kämpfen, weitere Beitragserhöhungen zu vermeiden – die Beitragsspirale wird sich weiter nach oben drehen, wenn die Politik jetzt nicht endlich gegensteuert“, so der GKV-SV. Als eine Ursache benennt der Verband die von der Politik in Gesetzen beschlossenen Mehrausgaben und Mehrbelastungen für die GKV.

Defizit von bis zu 4,5 Milliarden Euro für 2024 möglich

Die Leistungsausgaben der GKV sind im 1. Halbjahr 2024 noch stärker gestiegen als im 1. Quartal 2024, sodass das Defizit der Kassen von 775 Millionen Euro auf 2,16 Milliarden Euro im 1. Halbjahr 2024 angewachsen ist. Für das Gesamtjahr rechnet der GKV-Spitzenverband mit einem Defizit von 4 bis 4,5 Milliarden Euro. Um im laufenden Jahr in der GKV auskömmlich finanziert zu sein, hätte der Zusatzbeitrag für 2024 daher nicht bei den im Herbst vergangenen Jahres geschätzten 1,7 Prozent, sondern bei 2 Prozent liegen müssen, so der Verband. Mit diesem erwarteten Defizit werden die Mindestreserven der Kassen zum Jahresende im Schnitt unter der gesetzlich festgelegten Mindestreserve von 20 Prozent bei nur noch rund 14 Prozent einer Monatsausgabe liegen, so der GKV-SV.

Kassen haben keine Reserven mehr

„Damit stehen keine Reserven mehr zur Verfügung, um Beitragssteigerungen im nächsten Jahr zu verhindern oder auch nur abzumildern – und der Bundesgesundheitsminister schaut tatenlos zu“, so Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands. Für 2025 rechnet der GKV-Spitzenverband inzwischen mit einem Zusatzbeitragssatz in Höhe von mindestens 2,3 Prozent, also mit 0,6 Prozentpunkten mehr als in diesem Jahr. Und dabei seien kommende Gesetzesvorhaben wie etwa die kostenträchtige Krankenhausreform noch nicht einmal berücksichtigt. Die könnten den GKV-Beitrag zusätzlich um 0,1 Prozent erhöhen.

Finanzielle Belastbarkeit von Versicherten und Arbeitgebern überfordert

„Die Politik scheint sich an steigende Zusatzbeitragssätze gewöhnt zu haben – wir aber nicht. Jährliche Beitragssatzanhebungen zur Finanzierung der medizinischen und pflegerischen Versorgung dürfen kein selbstverständliches Instrument der Gesundheitspolitik sein. Die finanzielle Belastbarkeit der Versicherten und Arbeitgeber wird dadurch zunehmend überfordert“, so Doris Pfeiffer weiter.

Immer neue Gesetze lösen strukturelle Probleme nicht

Um die GKV-Finanzen nachhaltig zu stabilisieren, müsse die Politik endlich die Ausgabenentwicklung für alle Leistungsbereiche in den Blick nehmen. Effizienzreserven müssten konsequent gehoben, der Abbau von Unter-, Über- und Fehlversorgung vorangetrieben werden. „Immer neue Gesetze, die die gesundheitliche Versorgung kaum besser, dafür aber deutlich teurer machen, lösen die strukturellen Probleme der GKV nicht. Gesetze müssen die Versorgung verbessern und dürfen dabei die Einnahmenentwicklung nicht ignorieren. Das Gesundheitswesen funktioniert nur, wenn es medizinisch, pflegerisch und ökonomisch im Gleichgewicht ist. Alles andere kann sich das Gesundheitswesen nicht mehr leisten und nützt auch den Versicherten nicht“, so Doris Pfeiffer.

Höhere Beiträge abwenden, Mehrwertsteuer auf Medikamente senken

Solche Strukturreformen können nur langfristig ihre Wirkung entfalten, zeigt sich der GKV-SV überzeugt. Die sich abzeichnende Beitragserhöhungswelle zum Jahreswechsel könne aber auch noch kurzfristig abgewendet werden, wenn die Gesundheitspolitik entschlossen ein relativ schnell umsetzbares Reformpaket schnüre. Dazu sollte das Senken der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel gehören, so der GKV-SV. Alleine mit dem ermäßigten Steuersatz würde die GKV hier um mehr als fünf Milliarden Euro entlastet, heißt es.

Eine weitere Sofortmaßnahme müsste die ausreichende Finanzierung der von den gesetzlichen Krankenkassen zu leistenden gesundheitlichen Versorgung der Bürgergeldbeziehenden sein – aktuell zahlt der Bund der gesetzlichen Krankenversicherung hierfür im Jahr rund zehn Milliarden Euro weniger, als sie für diese Leistungen im Auftrag des Staates ausgibt. Nicht zuletzt würde die dringend notwendige Dynamisierung des Bundeszuschusses für die so genannten versicherungsfremden Leistungen eine erhebliche Entlastung für die GKV bringen. Hier übernehmen die Kassen familienpolitische Leistungen wie etwa das Mutterschaftsgeld, die eigentlich vom Staat zu finanzieren wären.

Ausreichende Pauschalen für Bürgergeldbeziehende

„Die Bundesregierung hat noch Zeit und die Möglichkeit, im Sinne der Beitragsstabilität zu handeln. Ausreichende Beitragspauschalen für Bürgergeldbeziehende könnten eine Welle der Beitragserhöhungen Anfang des nächsten Jahres verhindern. Damit bekämen wir dann zwar noch keine langfristige Stabilität, aber es würde Gesundheitspolitik und Selbstverwaltung Luft verschaffen, um gemeinsam an den notwendigen Strukturreformen zu arbeiten. Weiterhin ein ‚Augen zu und durch‘ ist jedenfalls keine Option“, betont Doris Pfeiffer.

Krankenkassen weisen seit Wochen auf steigende Beiträge hin

Auch die einzelnen gesetzlichen Krankenkassen machen seit Wochen gegen die Ausgabenpolitik und gegen Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach und seine Gesetzesflut mit der Folge steigender Beiträge mobil. Besonders kritisiert wurden Lauterbachs Äußerungen, dass die von ihm angestoßenen Reformen so wichtig seien, dass man dafür eine steigende Belastung für die Versicherten und die Arbeitgeber durch höhere Beitragssätze und Zusatzbeiträge eben hinnehmen müsse. Der BKK Dachverband fährt sogar eine eigene Öffentlichkeitskampagne unter dem Hashtag #WasfehltzahlstDu.

Politik Wirtschaft

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