„Politik bedeutet ein starkes, langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“ (Max Weber, 1919). In der heute oft verwendeten Verkürzung, dass Politik primär aus dem Bohren dicker Bretter bestehe, sind die Worte „Leidenschaft“ und „Augenmaß“ leider entfallen. Ebenso wie die feste Überzeugung von Weber, dass für Politiker Verantwortung mehr zähle als Gesinnung. Schließlich müsse sich ein Politiker an seinen Taten messen lassen.
An den Taten messen lassen? Max Weber war Jurist, Soziologe und Nationalökonom und ist bereits vor etwas mehr als 100 Jahren verstorben. Man stelle sich vor, was heute politisch und medial in diesem Land los wäre, wenn der Herr Professor, der eine natürliche Begabung und Charakterstärke als wichtigste Voraussetzung für Politiker ansah, mit folgendem Satz in der Öffentlichkeit zitiert worden wäre: „Die Staatsform ist mir völlig Wurst, wenn nur Politiker und nicht dilettierende Fatzkes das Land regieren.“ („Max Weber für Einsteiger“, FAZ-net)
Wenn die Welt nicht will
Tja, da denke sich jeder ob der heutzutage in Bund und Ländern anzutreffenden Politsituation seinen Teil. Mit Blick auf die Ampelkoalition fällt mir – egal um welche Partei oder Ministerin und Minister es sich handelt – angesichts der seit zwei Jahren dargebotenen Aufführung nur das Lied von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf ein: „Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt“. Das Dumme ist nur: Die Welt will aber nicht …
Nun sind für Kinder Phantasie und frei fliegende Gedanken beim Erfassen und Erobern ihrer Welt genau das Richtige, aber eben nicht für Politiker und Minister, die für Lösungen zum Wohle der Bürger gewählt und bezahlt werden. Deren Lösungskompetenz zeigt sich jedoch allenfalls in der Namensgebung für Gesetze. Dies gilt insbesondere für die Spezies der Gesundheitspolitiker, und das seit Jahren. Traurig, aber wahr.
Gesetze heißen wie Problemlösungen
Man muss gar nicht mehr die Gesetze lesen, um zu wissen, dass ein GKV-Selbstverwaltungsstärkungsgesetz genau das Gegenteil bewirken und stattdessen den Gestaltungsrahmen der Selbstverwaltung massiv einschränken und in die Politik verlagern soll. Oder dass ein GKV-Finanzstabilisierungsgesetz nichts stabilisieren, sondern nur kurzfristig Finanzlöcher mehr oder minder sinnhaft stopfen soll.
Nun gut. Aber wenn es um die medikamentöse Versorgung der Bevölkerung geht, also der Bürger direkt betroffen wäre, würden sich die Fachpolitiker doch nicht mit viel heißer Luft auf dünnes Eis begeben, oder? Es sei denn, sie heißen Prof. Dr. Karl Lauterbach, selbsternannter Epidemiologe und echter Gesundheitsökonom. Der Minister sicherte mit dem am 27. Juli 2023 in Kraft getretenen Gesetz namens „Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG)“ mal eben im Vorbeigehen die Arzneimittelversorgung. Liefer- und Produktionsengpässe? Ach, Papperlapapp!
Sicherstellung per Dringlichkeitsliste
Und das ist auch ganz einfach, denn das Gesetz regelt das mit einer Dringlichkeitsliste, die den pharmazeutischen Großhandel zur entsprechenden Lagerhaltung verpflichtet. So die fixe Lösung des Ministers und seines Apparats. Und damit sind wir bereits beim „proof of concept“ für dieses Gesetzesmachwerk, wie ein ganz aktuelles Beispiel zeigt. Damit nicht wie im vergangenen Herbst und Winter die Kinderarzneimittel für die kommende feuchtkalte Jahreszeit knapp werden, verschickte der Professor in Abstimmung mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Dringlichkeitsliste an die Arzneimittelgroßhändler mit der Maßgabe zur Bevorratung.
400 Kinderarzneimittel betroffen
Auf dieser Liste stehen im aktuellen Fall rund 400 Arzneimittel, darunter Antibiotika und Arzneimittel für Kinder, die gemäß der Pressemitteilung des Verbands des vollversorgenden pharmazeutischen Großhandels (Phagro) bereits seit länger als einem Jahr knapp oder nicht lieferbar seien. Die Aussagen des Verbands, der die Situation bereits jetzt – und wir haben kalendarisch noch Sommer – als prekär beschreibt, sind an Deutlichkeit kaum noch zu steigern: „In der Konsequenz bedeutet das: Der pharmazeutische Großhandel kann bereits heute für ca. 85 Prozent der Dringlichkeits-Arzneimittel weder den durch das ALBVVG eingeführten Bedarf für vier Wochen noch den grundsätzlichen gesetzlich vorgegebenen Bedarf von zwei Wochen beschaffen und vorhalten!“ (Brief des Phagro an den Bundesgesundheitsminister).
Die Gründe in aller Kürze:
- Die pharmazeutische Industrie konnte 25 Prozent der benannten Arzneimittel bereits in den vergangenen Monaten nicht zur Verfügung stellen.
- Ein Achtel der Präparate sind außer Verkehr gesetzt oder werden nicht mehr in Verkehr gebracht.
- Bei mehr als 50 Prozent der Dringlichkeitsarzneimittel werden nur 20 Prozent der vom Großhandel angeforderten Ware ausgeliefert.
- Alternative Beschaffungswege können, wenn möglich, nur im Einzelfall zu einer Verbesserung führen.
- Lediglich bei 10 Prozent der genannten Arzneimittel sieht der Verband noch Restchancen, die aktuelle Lage verbessern zu können.
Und nun kommt der Knaller: „Der Beschaffungsmarkt für diese Arzneimittel ist ein Spotmarkt geworden, der im Gegensatz zu einem Terminmarkt keine mittel- oder langfristige Beschaffungs-, Liefer- und Lagerhaltungskalkulationen zulässt“, so der Verband.
Arzneimittel werden wie Rohöl gehandelt
Bei einem Spotmarkt treffen im Gegensatz zu einem Terminmarkt Angebot und Nachfrage aufeinander. Erdöl, Strom, Rohstoffe etc. werden außerhalb von Terminkontrakten so gehandelt. Hier gelten die Regeln für Kassageschäfte, die spätestens zwei Handelstage nach Geschäftsabschluss von beiden Vertragsparteien Zug um Zug durch Zahlung und Lieferung zu erfüllen sind. Diese Situation trifft nun auf ein maximal bürokratisches und enges Kostenkorsett, Stichwort Rabattverträge, sowie permanent zutiefst misstrauische Krankenkassen. Diese Erfahrung hat die pharmazeutische Industrie nicht exklusiv, sondern sie betrifft ebenfalls alle Leistungserbringer, ob im ambulanten oder stationären Sektor. Und hierbei reden wir noch nicht einmal von Ausnahmesituationen, sondern einer seit Jahren bestehenden Üblichkeit.
Was tun, wenn Märkte sich dramatisch ändern?
Dass es so kommen wird, war bereits seit Jahren absehbar und seit der Coronakrise nicht mehr übersehbar. Passiert ist: Nichts! Keine einzige Lösung außer politischen Balkonreden. Und zwar für alle. Erhöhung der Honorare für die Leistungserbringer aufgrund der massiven Kostensteigerungen? Fehlanzeige, stattdessen durch das GKV-FinStG sogar Honorarminderungen. Gleiches passierte auch bei den pharmazeutischen Versorgern: steigende Kosten, steigende Aufwände. Und nun wird die wirtschaftliche Luft zum Atmen bereits im Normalgeschäft dünn.
Maximaler Stress für Regelsysteme
Eine Lösung ist mit den derzeit zur Verfügung stehenden Mitteln jedenfalls nicht zu erreichen. Angesichts des bei den Kassen vorherrschenden Misstrauens gegenüber den Marktteilnehmern und der überbordenden Kontrollbürokratie könnten ja die Krankenkassen eine Taskforce „Medikamentenbeschaffung Dringlichkeitsliste“ ins Leben rufen, um die versorgungskritischsten Arzneimittel zu beschaffen.
Allerdings fänden sich die Krankenkassen dann in einer Situation wieder, in der sie weder die Regeln bestimmen noch kraft Masse Verhandlungen dominieren könnten, sondern vielmehr im Wettbewerb zu anderen Interessenten stünden. Also das Gegenteil der im bundesdeutschen Gesundheitswesen gewohnten Stellung. Man stelle sich vor, die Kassen verhandeln, kaufen und müssen zwei Tage später bezahlen. Und dann ist der Spotpreis gegenüber dem verhandelten Preis plötzlich gefallen. Welch ein Drama für sämtliche Regelsysteme!
Sondervermögen für Kinderarzneimittel?
So wird es also eher nicht funktionieren. Trotzdem muss eine Lösung her. Wer soll es machen? Die Pharmaindustrie? Der Großhandel? Oder gar die Apotheken? Hier war beispielsweise der Politik und den Kassen der notwendige Aufwand der Apotheker, das in Deutschland fehlende beziehungsweise nicht lieferbare Arzneimittel im Ausland zu beschaffen, gerade mal 50 Cent pro Packung wert. Nein, wenn man die Kostenkandare bei den Marktbeteiligten nicht lockern will, muss es die Politik selbst machen. Und was bei der Bundeswehr mittels Sondervermögen möglich war, sollte doch auch für die Beschaffung von nicht lieferbaren Kinderarzneimitteln möglich sein?
Ich bin da ganz zuversichtlich, denn Karl Lauterbach lässt sich im Sinne von Max Weber sicher nicht nur an seiner Gesinnung, sondern auch an seinen Taten messen. Schließlich ist er ja Gesundheitsökonom.
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.