Die Praxen in Deutschland sehen sich häufig und verstärkt mit Formen der verbalen oder körperlichen Gewalt konfrontiert. Knapp 80 Prozent der niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten sowie ihrer Praxisteams gaben an, allein im vergangenen Jahr verbale Gewalt erlebt zu haben. Das zeigt die Umfrage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), auf die es mit fast 7.600 Rückmeldungen eine enorme Resonanz gab, wie die KBV mitteilt.
Auch körperliche Gewalt sei längst keine Seltenheit mehr und habe im vergangenen Jahr sogar sprunghaft zugenommen. So hätten mehr als 40 Prozent der rund 7.600 an der Umfrage Beteiligten an, in den vergangenen fünf Jahren schon einmal selbst körperliche Gewalt bei der Ausübung ihrer Tätigkeit erlebt zu haben. Von ihnen wurden allein 60 Prozent im vergangenen Jahr Opfer. Die Fälle reichten von Tritten gegen das Schienbein, Schubsen und Spucken bis hin zu schweren Angriffen.
Kassen und Politik wecken zu hohe Ansprüche
„Die Verrohung der Sitten ist erschreckend“, kommentierte Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), am 13. September 2024 im Vorfeld der Vertreterversammlung der KBV die Zahlen. „Ein gesamtgesellschaftlicher Werteverfall trifft auf ein überlastetes und kaputt gespartes Gesundheitssystem. Außerdem wecken Politik und Krankenkassen zu hohe Ansprüche nach dem Motto ‚Geht zum Arzt, da bekommt ihr alles und das sofort‘“, so der KBV-Chef.
In der Regel vertrauensvolles Verhältnis, aber besorgniserregende Entwicklung
„Insgesamt ist der Ton in unserer Gesellschaft rauer geworden. Die Praxen als Spiegelbild unserer Gesellschaft bilden da keine Ausnahme“, erklärte Dr. Stephan Hofmeister, stellvertretender KBV-Vorstandsvorsitzender. „Bei einer Milliarde Patientenkontakten, die jährlich im ambulanten Bereich zu verzeichnen sind, verhalten sich die meisten immer noch friedlich“, betonte er. In der Regel sei das Verhältnis zwischen Patientinnen und Patienten und ihren Ärztinnen und Ärzten sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten von Nähe und Vertrauen geprägt. „Nichtsdestotrotz ist diese Entwicklung besorgniserregend“, so Hofmeister.
Enorme Resonanz zeigt hohe Betroffenheit der Praxen
„Die ohnehin angespannten Rahmenbedingungen werden so weiter verschlechtert in der ambulanten Versorgung“, sagte KBV-Vorstandsmitglied Dr. Sibylle Steiner. „Die enorme Resonanz bei der Umfrage unterstreicht die hohe Betroffenheit der Praxen. Vor diesem Hintergrund müssen die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen der konsequenten Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit der staatlichen Vollzugsorgane vertrauen können“, erklärte Steiner.
Appell, auch die Praxen in die Strafverschärfung einbeziehen
Alle drei Vorstände begrüßen die Pläne des Bundesjustizministers zur Strafverschärfung bei Angriffen auf Rettungskräfte, Feuerwehr und in Notaufnahmen. „Aber auch die Praxen sind ein wichtiger sozialer Faktor und Teil des Gemeinwohls. Sie bedürfen daher auch eines besonderen Schutzes“, stellten sie klar.
Im aktuellen Referentenentwurf für das Gesetz sind die ambulanten Praxen nicht erfasst. In einem Gespräch zwischen Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann und KBV-Chef Gassen war vereinbart worden, dass die KBV die Situation in einer wissenschaftlichen Studie erheben soll.
Zusammenfassung der Befragungsergebnisse
Beschimpfungen, Beleidigungen und körperliche Gewalt werden in Praxen mehr und mehr zur Belastung. Das zeigt eine Online-Befragung der KBV, an der etwa 7.580 Ärzte und Ärztinnen, Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen sowie Medizinische Fachangestellte teilgenommen haben.
- 80 Prozent von ihnen haben im Jahr 2023 Beschimpfungen, Beleidigungen oder Drohungen erlebt – häufig mehrfach. „Tatort“ sind nicht immer die Praxisräume, auch am Telefon oder im Internet verzeichnen viele einen raueren Ton. Von den Betroffenen haben 14 Prozent aufgrund der Vorkommnisse die Polizei eingeschaltet und/oder Anzeige erstattet.
- 43 Prozent der Befragten haben in den vergangenen fünf Jahren auch körperliche Gewalt bei der Ausübung ihrer Tätigkeit erlebt. Im Jahr 2023 wurden 60 Prozent von ihnen Opfer. Die Fälle reichen von Tritten gegen das Schienbein, Schubsen und Spucken bis hin zu schweren Angriffen.
- Ein Drittel der Praxen hat aufgrund der zugenommenen Gewalt Vorkehrungen getroffen – zum Beispiel ein Notrufsystem installieren lassen, potenziell gefährliche Gegenstände wie Vasen, Scheren oder Brieföffner entfernt, durch Umbauten Fluchtwege geschaffen oder das Personal entsprechend geschult.
- Einen Grund für die gestiegene Gewaltbereitschaft sehen viele in einem gestiegenen Anspruchsdenken von Patientinnen und Patienten, das teilweise von den Krankenkassen und der Politik geschürt wird. Häufig geht es dabei um zeitnahe Termine, Rezepte oder bestimmte Untersuchungen, die eingefordert werden. Gleichzeitig sind den Angaben der Praxen zufolge viele Patienten frustriert, was sich oft in Beleidigungen und Beschimpfungen äußert. Als eine Ursache dafür wird die verfehlte Gesundheitspolitik genannt.
- Die zunehmenden Angriffe bleiben nicht folgenlos: Zahlreiche Ärzte und Praxismitarbeitende berichten, dass ihnen der Beruf deshalb keinen Spaß mehr mache und es noch schwieriger werde, gutes Personal zu halten oder zu gewinnen.
Eine Übersicht mit Grafiken hat die KBV auf ihrer Internetseite eingestellt.