Warum überrascht diese Meldung nicht? Kurz vor dem langen Mai-Wochenende vermeldete das Deutsche Ärzteblatt: Gesundheitsministerium verschiebt Zeitpläne für Gesetzesvorhaben. Angesichts der Vielzahl der von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach angekündigten und parallel bearbeiteten Gesetzesvorhaben muss man bei dem ans Absurde grenzenden ministeriellen Zeitplan über jede Verzögerung seiner revolutionären Gesetzgebungsvisionen dankbar sei. Erhöhen sich doch so die Chancen ein wenig, dass im Ministerium – bevor die neuen Gesetzesvorschläge in die parlamentarischen Abstimmungsprozesse starten – etwas mehr Zeit zum Nachdenken über politische Wünsche und über Gesetze erreichbare Ziele im Abgleich zum Ist aufwendet werden konnte.
Mit dem Fundament, nicht mit dem Dach anfangen
Hinzuzufügen ist: Und dass dieses Nachdenken in folgerichtiges Handeln umgesetzt wird. Das nannte man in früheren Zeiten ganz praktisch „einen Schritt nach dem anderen gehen“. Aber da gab es noch die heute immer seltener anzutreffende Spezies namens Fachkräfte oder Handwerker, bevor deren Arbeit im gesellschaftlichen Ansehen arg ins Hintertreffen geriet. Was allerdings nichts daran geändert hat, dass man, um im Bilde zu bleiben, beim Hausbau eben nicht mit dem Dach, sondern mit dem Fundament anfängt.
Das neue Mantra von der Ökonomie
Baumethoden mögen sich ändern, wie zum Beispiel im Fertighausbau, aber das ändert die Grundlagen nicht. Weder die der Physik noch die der Ökonomie. Nur nicht für Karl Lauterbach, der ja seit einiger Zeit durch die gesundheitspolitischen Lande tourt, um sein neues Seelenpflaster auf die von der DRG-Wirklichkeit geschundenen Seelen der Krankenhäuser zu pappen: „Wir haben es mit der Ökonomie übertrieben“. Die unter demselben Prinzip (Stichwort Budgetierung) leidenden „Leistungserbringer“ Zahnärzte, Ärzte und Pharmazeuten werden dabei jedoch – man ist geneigt zu sagen systematisch – vergessen.
Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung
„Wir haben es mir der Ökonomie übertrieben.“ Das klingt gut, doch was meint er mit diesem nach Selbsterkenntnis klingenden Spruch? Der langweiligste Unterricht während meiner Schulzeit war Latein – das war unerträglich fad, jedenfalls für mich. Die Schönheit der Sprache, deren Logik wollten sich einfach nicht offenbaren. Und trotzdem lernte man fürs Leben: Um notentechnisch nicht unterzugehen, musste man lernen, den Standardspruch der Lateinlehrerin kreativ umzusetzen. Sie ahnen es: „Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung.“ Doch um genau die geht es bei Lauterbach nur vordergründig, wie an der offensichtlichen Ungleichbehandlung des ambulanten und des stationären Sektors deutlich wird.
Mit „Ökonomie“ kann Gesundheitsökonom Lauterbach also nicht die simplen Grundregeln der Mathematik und Betriebswirtschaft meinen – Einnahmen, Kosten, Gewinn oder Verlust. Sondern die Vielzahl der gesetzlichen Regelungen, nach denen im Gesundheitswesen gemäß den diversen Sozialgesetzbüchern konform gehandelt werden muss. Gesetzliche Gesundheits„ökonomie“ halt. Doch was wäre daraus neudeutsch das „Learning“?
Bestandsschutz für Gesetze statt lernendes System
Das Problem ist nämlich nicht, dass sich gesundheitsökonomische Denk- und Lehrgebäude ändern. In Medizin und Zahnmedizin ist das ein normaler „Zustand“, der sich wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt nennt und dessen Ordnungskriterium die Evidenz ist. Das Problem ist auch nicht, dass Fehler gemacht werden, die erst über die Zeit sichtbar werden – siehe das von Lauterbach und Ulla Schmidt (von 2001 bis 2008 amtierende SPD-Gesundheitsministerin) maßgeblich vorangebrachte Fallpauschalen-System, kurz DRG (Diagnosis Related Groups). Das Problem: Sind Vorgehensweisen und Regelungen einmal in Gesetze gegossen und Teil des SGB-Kanons geworden, setzen diese der Korrektur gemachter Fehler maximalen Widerstand entgegen. Denn die alten Gesetze werden nicht etwa abgeschafft und durch ein neues ersetzt: Die neuen Gesetze kommen „on top“ und werden mehr oder minder geschickt angeflanscht (auch ein Grund, warum Verwaltungsposten wuchern wie Unkraut.)
Nach mehr als 20 Jahren der Anwendung wird somit immer offensichtlicher, dass der ökonomische Handlungsrahmen der DRG selbst bei maximaler Dehnung der impliziten Regeln die Krankenhäuser reihenweise unwirtschaftlich agieren lässt. Mit erheblichen Konsequenzen für die „Ökonomie“ der Kliniken und deren unter Volllast laufenden ärztlichen und pflegenden Mitarbeitern und deren täglichem Spagat, die menschlichen Grundbedürfnisse der Patienten nicht gänzlich aus den Augen zu verlieren.
Der mit Absicht gefesselte Riese
In Anbetracht zunehmender Krankenhausinsolvenzen – auch Schleswig-Holstein kann mittlerweile ein Lied davon singen – soll nun die von Karl Lauterbach geplante Krankenhausreform das Ruder herumreißen, von ihm vollmundig als Revolution angekündigt. Eine erstaunliche Wortwahl für einen beamteten Professor, denn was das „System“ (von dem er ein Teil ist) gerade nicht brauchen kann, ist eine Revolution, die den mit bürokratischer Akribie doppelt und dreifach gefesselten Riesen namens Gesundheitswesen entfesselt – und sei es nur in Teilen. Hinterher zieht noch gesunder Menschenverstand in den von den Beitragszahlern finanzierten politischen Selbstbedienungsladen ein.
Gesetzgeber als Gesetzesbrecher
Beispiele gefällig? Versicherungsfremde Sozialleistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV): Der Bund bedient sich mit rund 14 Milliarden Euro – und zwar jährlich! Und die Krankenhausfinanzierung: Was kümmert es die Länder, dass sie gesetzlich verpflichtet sind, die Investitionskosten (betrifft auch Anlagegüter wie diagnostische Großgeräte) ihrer Krankenhäuser zu finanzieren. Von den Kosten in Höhe von deutlich sechs Milliarden Euro zahlten die Länder in 2021 gerade mal gut die Hälfte. Runde drei Milliarden müssten die Kliniken daher aus Eigenmitteln, also aus den von den Beitragszahlern finanzierten Krankenkassenzuweisungen, aufbringen. Komisch, dass angesichts solcher Summen die Krankenkassen nicht „Amok“ laufen. Welch ein Treppenwitz angesichts der Prüfungsorgien, die sie betreiben, um noch ein paar Milliönchen aus den Leistungserbringern zu pressen.
Die GKV braucht die Revolution
Diese hanebüchenen Fremdfinanzierungstatbestände sozialer politischer Wohltaten zu beseitigen, wäre das Wort Revolution allemal wert. Die angekündigte Krankenhausreform ist es definitiv nicht, auch wenn die geplante Vorhaltepauschale für die dringend notwendige finanzielle Entlastung bei den Kliniken sorgen wird. Woher das Geld kommen wird, ist bis dato nicht bekannt. Und dumm für den Gesundheitsminister, dass für die große Umstrukturierung der deutschen Kliniklandschaft ohnehin ohne die Länder nichts geht. Egal, wie sehr Karl Lauterbach die Backen aufbläst – der heißen Luft wollen keine Flötentöne folgen. Denn der Rest der Reformrevolution liegt im Bereich der Länderkompetenz (entsprechende Gutachten haben sie schon vorgelegt). Und die werden sich ihre Zustimmung teuer bezahlen lassen.
Statt zu sparen, sollen zusätzliche Strukturen finanziert werden
Da die Krankenhäuser den absolut größten Kostenblock in der GKV darstellen – rund jeder dritte Beitrags-Euro muss dafür aufgewendet werden – wundert es schon, dass Minister Lauterbach in seinem für dieses Jahr geplanten Gesetzesmarathon zusätzliche kostenträchtige Positionen aufmacht. Für die sogenannten Versorgungssetze I und II stehen Gesundheitskioske, Gesundheitsregionen, Erleichterungen zur Gründung kommunaler MVZ (wo werden wohl die Betriebsdefizite landen?) und die Verbesserung der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung auf der Tagesordnung. Auch die Regelungen der beiden Digitalgesetze werden nicht umsonst zu bekommen sein. Und das beileibe nicht, weil im Digitalgesetz die Gematik zu einer Gesundheitsagentur weiterentwickelt werden soll. Sondern weil die im Gesundheitsdatennutzungsgesetz zu regelnde Datenverfügbarkeit für Wirtschaft und Forschung halt auch eine entsprechende technische Infrastruktur braucht.
„Selbstausbeuter“ werden zusätzlich drangsaliert
Angesichts dieser Gemengelage verwundert es umso mehr, wie Lauterbach samt seiner Ministerialen mit dem einzigen Bereich umgeht, der konstant „Versorgung liefert“. Statt für die „Selbstausbeuter“ – genannt Niedergelassene, Praxisinhaber oder Apotheker, die mit hoher Identifikation und Arbeitseinsatz weit über einem „nine to five job“ hinaus die Patientenbetreuung aufrecht erhalten –, wenigstens einen Teil der Teuerungsrate mittels Honorarsteigerung (man könnte es auch Vorhaltepauschale nennen) abzufedern, passiert dies: strikte Budgetierung, Leistungskürzungen trotz nachgewiesener Morbiditätsveränderungen, Leistungsstreichungen, verweigerte Honoraranpassungen trotz massiver Kostensteigerungen, 50 Cent Kostenerstattungen für Apotheker, die teils Stunden zusätzlicher Arbeit aufwenden müssen, um nicht lieferbare Arzneimittel doch noch irgendwie aufzutreiben, zusätzliche Digitalisierungskosten für eine dysfunktionale TI. Oder noch absurder: Kosten für Arzneimitteldatenbanken, die kein Zahnarzt braucht, die aber im Zuge des elektronischen Rezeptes unabdingbar werden, etc. pp.
Das ist das Selbstverständnis einer Politik, die in zentral gelenkten Großstrukturen denkt und glaubt, dass Polikliniken tatsächlich einen Versorgungsfortschritt darstellen würden. Traurig, dass wir so geschichtsvergessen sind.
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.