Geht es um die Wirtschaftsleistung Deutschlands, verklärt sich meist der Blick vor allem der älteren Generationen und verengt sich auf ein Wort: Exportweltmeister! Auf diese volkswirtschaftliche Leistung war man stolz, sie war die Basis für den immer weiteren Ausbau des Sozialstaates. Doch Exportweltmeister sind wir bereits seit 2009 nicht mehr, im Jahr 2022 lag Deutschland im Nationenvergleich nur noch auf Platz 8. Tendenz weiter sinkend.
Allerdings will man die Konsequenzen politisch – auch standespolitisch – offensichtlich nicht wahrhaben. Lieber sonnt man sich in den Erfolgen der Vergangenheit und verteilt weiter auf Pump nicht mehr vorhandenen Wohlstand. Leistungskürzungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), um die Ausgaben den Einnahmen anzupassen? Sinnvolle Umverteilung, weil in bestimmten Versorgungsbereichen die zur Verfügung gestellten Finanzmittel seit langem nicht ausreichend sind? Die an der zunehmenden Zahl unterversorgter Planungsbereiche ablesbare Abstimmung mit den Füßen der versorgenden Zahnärzte- und Hausärzteschaft, wird auf ein Verteilungsproblem reduziert, welches mittels Telemedizin gelöst werden soll. Im Zweifel ruft man nach mehr Ärzten. Ironie? Ach, i wo.
Die Perspektiven ändern sich
Dass es mit der Perspektive der deutschen Volks-Wirtschaft nicht zum Besten steht, lässt sich mit den gewohnt kreativen ökonomischen Statistiken kaum noch verbergen. Selbst die notorischen Optimisten wären ob einer schwarzen oder auch einer roten Null für dieses Jahr wohl begeistert, stehen doch die Zeichen der Wirtschaftsleistung im besten Falle auf einer Seitwärtsbewegung. Und das kann auch eine Standespolitik nicht mehr negieren. Denn jeder im Gesundheitssystem umgesetzte Euro muss, sofern die Leistung aus Versicherungskassen finanziert wurde, zuvor verdient worden sein.
Historisch höchster Beitragsanstieg in einer Wahlperiode
Und genau hier liegt der metaphorische Hase im Pfeffer. Denn um den derzeitigen Leistungsstand zu halten, müssen die Sozialabgaben steigen. Was sie im Übrigen bereits kräftig tun. Aus den aktuellen Analysen der GKV-Kasse DAK-Gesundheit geht hervor, „dass die Kassenbeiträge schon 2025 voraussichtlich um 0,6 Prozentpunkte steigern werden“. „Mit einer Steigerung um einen vollen Beitragspunkt innerhalb von vier Jahren ist das der historisch höchste Beitragsanstieg in der GKV in einer Wahlperiode.“
Klingt nach nicht viel, oder um Cem Özdemir von den Grünen zu zitieren: Das merkt der Verbraucher doch kaum. In der Gesamtschau sieht es aber gemäß den Einschätzungen der DAK bereits so aus, dass der Gesamtanstieg der Sozialabgaben für die Beitragszahler in dieser Legislatur der Ampelkoalition bereits 1,75 Beitragspunkte in der Sozialversicherung beträgt: 1,0 in der GKV, 0,55 in der sozialen Pflegeversicherung (SLV) und 0,2 in der Arbeitslosenversicherung (ALV).
Betrachtet man die aktuelle Projektion des IGES-Instituts im Auftrag der DAK, können die „Sozialabgaben in Deutschland entgegen bisheriger politischer Vorgaben nicht realistisch auf 40 Prozent gedeckelt werden. […] Wir müssen vielmehr verhindern, dass die Gesamtbelastung in den nächsten Jahren in den nächsten zehn Jahren in Richtung 50 Prozent klettert und so Versicherte und Arbeitgeber überfordert“, sagte der Ende Juni der Vorstandschef der DAK, Andreas Storm.
Die Konjunkturindizes wollen nicht nach oben
Sofern sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) den Deutschen gewogen zeigt. Wohin es in 2024 mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Wirtschaft gehen wird, zeigen die sogenannten vorlaufenden Konjunkturindizes wie der Auftragseingang des verarbeitenden Gewerbes: „Im Dreimonatsvergleich lag der Auftragseingang von März 2024 bis Mai 2024 um 6,2 Prozent niedriger als in den drei Monaten zuvor. [...] Der reale Umsatz im Verarbeitenden Gewerbe war nach vorläufigen Angaben im Mai 2024 saison- und kalenderbereinigt 0,7 Prozent niedriger als im Vormonat. Im Vergleich zum Vorjahresmonat Mai 2023 war der Umsatz kalenderbereinigt 6,0 Prozent geringer“. Ob Auftragseingang oder Umsatz – der jeweilige Index ist, von dem massiven, durch die Coronakrise verursachten Einbruch im Jahr 2020 abgesehen, seit Mitte 2022 im negativen Bereich.
Tanzende Rotstifte in den Investitionsbudgets 2025
Da die Steuereinnahmen aber nachlaufend sind, wähnte man sich lange auf der sicheren Seite. Doch der von der Politik zur Verteilung ausgemachte Steuerkuchen wird nicht weiter aufgehen. Es fehlt halt die Wachstumshefe einer gesunden Wirtschaft. Die derzeitige Rotstiftorgie in den Budgets der Länder und des Bundes für die 2025er-Investitionen in die marode Infrastruktur dieses Landes sind ein Fanal, dass es auch im Gesundheitswesen finanziell deutlich angespannter werden wird.
Politische Verteilungsparty im Gesundheitswesen geht munter weiter
Dennoch geht die politische Verteilungsparty munter weiter. Und allen voran unser Gesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach, dessen Reformrevolutionen und unerwartete Gesetzesvorschläge die GKV-Ausgaben in den nächsten Jahren in neue Höhen treiben werden, statt diese wenigstens stabil zu halten. Selbst wenn es, wie vom Minister permanent wiederholt, gelingen wird, „die Versorgung effizienter zu gestalten, die Versorgungsqualität zu erhöhen und unnötige Ausgaben zu vermeiden“, bedeutet das nicht, dass die für die Versorgung der Versicherten aufzuwendenden Kosten auch tatsächlich stabil bleiben werden. Auch in Anbetracht der in Rente gehenden „Groß“-Generation der Babyboomer darf man getrost vom Gegenteil ausgehen.
Dr. Uwe Axel Richter zu Gast bei „Dental Minds“
Die Gesundheitspolitik begleitet den Mediziner und Fachjournalisten schon seit Jahrzehnten, auch in der ärztlichen und zahnärztlichen Standespolitik ist er zuhause: Dr. Uwe Axel Richter. Für „Quintessence News“ nimmt er in seiner Kolumne alle 14 Tage aktuelle politische Themen kritisch unter die Lupe. Jetzt ist er zu Gast bei „Dental Minds“ und schaut mit Dr. Marion Marschall und Dr. Karl-Heinz Schnieder auf das, was sich in Gesundheits- und Standespolitik bewegt – oder auch nicht.
Vom gesundheitsreformerischen Dauerfeuer des amtierenden Bundesgesundheitsministers mit Krankenhausreform und mehr über die Möglichkeiten und Grenzen der zahnärztlichen Standespolitik bis zur AS Akademie, der Akademie für freiberufliche Selbstverwaltung und Praxismanagement in Berlin, erklärt und beleuchtet Richter im Gespräch die aktuellen Themen. Hier geht es zum Podcast.
Gesetzesstau im Bundestag
Nur zur Erinnerung: Im ersten Quartal 2024 war bei den GKV-Kassen bereits ein Defizit von 776 Millionen Euro aufgelaufen. Und zwar ohne all die kostentreibenden Versprechen der Lauterbach‘schen Reformen und Gesetze, die im Juli noch vor der parlamentarischen Sommerpause der Beratung und Abstimmung harren. Hausärzte, Kliniken, Notfalldienst, Apotheken, Prävention und Forschung – der Betroffenen sind viele, die Sachlagen komplex und die Kontroversen groß. Ob Absicht oder „Rainer Zufall“: In Anbetracht der schieren Menge des zu bewältigenden Lauterbach‘schen Gesetzesœuvres und des herrschenden Zeitdrucks kann man ohne böswillig sein zu wollen davon ausgehen, dass die Mehrheit der weiblichen, männlichen und diversen Parlamentarier bei den speziellen Themen meist überfordert sein werden.
Ein weiteres Gesetz geht immer
Angesichts des engen Zeitplans aus dem BMG bleibt für die Abgeordneten wenig Zeit, sich in die Materie einzuarbeiten. Und die schlechte Angewohnheit des hyperaktiven Gesundheitsökonomen, bereits das nächste wie das „Gesunde-Herz-Gesetz“ hinterherzuwerfen, kaum dass ein Gesetzesentwurf das BMG verlassen hat, erhöht die Komplexität des bereits hyperkomplexen SGB V Regelungskonvoluts immer weiter.
Wichtiges Scharniergesetz fehlt
Bis Mitte Juli, so der Wunsch(traum) von Gesundheitsminister Lauterbach, sollen folgende Gesetze im Parlament bearbeitet worden sein: Das Medizinforschungsgesetz, Stichwort Geheimpreise, wurde mit erheblichen Abstrichen in der ersten Juliwoche bereits beschlossen. Nun stehen die deutlich komplexeren Gesetze auf der Tagesordnung: das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) und das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KVHHG). Es fehlt jedoch das enorm wichtige „Verbindungs- oder Scharniergesetz“ zwischen GVSG und KHVVG, die Notdienstreform. Obwohl im Kontext extrem wichtig, ist dieses über heftig kritisierte Referentenentwürfe noch nicht herausgekommen.
Lauterbach, der Zeitvertändelungsminister
Und als ob das noch nicht genug wäre, steckt das Apothekenreformgesetz immer noch im Stadium des Referentenentwurfs. Gleiches gilt für das Gesunde-Herz-Gesetz des von Evidenz zu Eminenz gewechselten Gesundheitsökonomie-Professors. Für ernstzunehmende parlamentarische Beratung von Gesetzesentwürfen ist das ein Desaster, aber leider typisch für Lauterbach. Zwischen der Ankündigung von Gesetzesinitiativen, deren Terminierung und ihrer tatsächlichen Einspeisung in das parlamentarische Verfahren bleibt neben Inhalten und sauber mit der bestehenden Gesetzeslage abgestimmten Entwürfen zu viel Zeit auf der Strecke.
Es muss teurer werden, um eventuell billiger werden zu können
Doch egal, ob die Gesetze im parlamentarischen Verfahren oder als Referentenentwürfe kurz davor sind – alle gesetzgeberischen Maßnahmen werden zusätzliche Finanzmittel benötigen. Und zwar kurzfristig! Der für den im Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) vorgesehenen Strukturumbau der Krankenhauslandschaft notwendige „Krankenhaustransformationsfonds“ geht mit einem Preisschild von 25 Milliarden Euro in das Rennen, der nach derzeitigem Planungsstand voll zu Lasten der GKV-Beitragszahler gehen soll. Das ist schlichtweg ordnungspolitischer Unsinn. Aber Ordnungspolitik von dieser Regierung zu erwarten, fällt eh in die Kategorie des „wishful thinking“, handelt es sich doch bei dieser gemäß „bwl-lexikon.de“ um einen Teilbereich der Wirtschaftspolitik, mit der der Ordnungsrahmen für das Funktionieren einer sozialen Marktwirtschaft geschaffen wird.
Eminenz statt Evidenz
Einsparungen, besser Stabilisierung der Kosten, werden im Krankenhaussektor, wenn überhaupt, nur mit einer (sehr) langfristigen Perspektive eintreten können. Und auch Kleinvieh macht Mist. Denn die bis dato evidenzfreie prophylaktische Verabreichung von Statinen, wie im Gesundes-Herz-Gesetz vorgesehen, ist ja auch nicht für umsonst zu haben. Aber es passt in das Erscheinungsbild des ins Eminenzlager gewechselten Gesundheitsökonomen Lauterbach.
Fast 50 Prozent Gesamtbelastung für Beitragszahler schon 2035
Die Frage ist also: Was passiert bis die Reformen greifen? Dafür braucht es nur ein Wort: Beitragssatzsteigerungen! In der eingangs erwähnten Pressemeldung der DAK von Ende Juni spricht Storm gar von einem „Beitrags-Tsunami“. Gemäß der von der DAK beim IGES-Institut in Auftrag gegebenen Projektion drohen weitere happige Beitragssatzsteigerungen. 2030 würden in der GKV 18,1 Prozent und 2035 gar 19,3 Prozent erreicht werden, was einem Gesamtanstieg um 3,0 Beitragspunkte entsprechen würde.
Dynamische Ausgabendeckelung in der GKV
Und so wundert die Forderung von DAK-Vorstandschef Andreas Strom nach einem zweistufigen Stabilitätspakt für GKV nicht. Einerseits müsse die Politik die drastische Unterfinanzierung der Krankenkassen beenden (jedes Jahr ein Minus von rund zehn Milliarden Euro zu Lasten der Betragszahler) und andererseits die Ausgabendynamik durch neue Vorgaben begrenzen. Letzteres soll laut DAK mit einer dynamischen Ausgabendeckelung erreicht werden, in dem die Ausgaben der GKV sich an der durchschnittlichen Entwicklung der beitragspflichtigen Einnahmen orientieren.
Noch spielt das Orchester
Das wird Lauterbach in seinem Eminenzturm wenig bis nicht interessieren – fallen für ihn doch Selbstverwaltungspartner in die Gruppe der Lobbyisten. Und leider verhalten sich viele Selbstverwalter genau wie die Lobbyisten – oder wie soll man die einfallslosen, unkreativen und stereotypen Forderungen aus dem Lager der Leitungserbringer, insbesondere der Ärzte und Apotheker, nach mehr Geld bei gleichzeitigem Erhalt des Status quo sonst nennen? Stimmen der finanziellen Vernunft und vernünftige, weil untereinander abgestimmte Verbesserungs- und Lösungsvorschläge, sind von den Selbstverwaltungspartnern öffentlichkeitswirksam kaum zu vernehmen, ganz gleich, ob Krankenkassen oder Leistungserbringer. Nun gut, auf der Titanic soll das achtköpfige Orchester auch bis zum Untergang gespielt haben.
Gestalten muss man wollen
Ich weiß, dass ich mich wiederhole, aber es ist heute genauso wichtig wie in den vergangenen 22 Jahren, dass die zahnärztliche Versorgung von der zahnärztlichen Professionspolitik initiativ gestaltet wird. Und zwar zum allseitigen Vorteil. Hier fällt die Zahnärzteschaft positiv aus dem üblichen Rollenmuster heraus, da es ihr mit konstruktiven Konzepten gelungen ist, neue, an der sich verändernden Morbidität orientierte Leistungsbereiche zu erschließen.
Umso wichtiger ist es, nicht in die gleichen Rollenmuster zu verfallen und sich kommunikativ derselben einseitigen Wortwahl zu bedienen. Nur nach mehr Geld zu rufen, reicht nicht. Lösungsorientierung mit den Selbstverwaltungspartnern „zu leben“, wird das Gebot der Stunde. Motto: „Ich gebe Dir, Du gibst mir zum Vorteil (besser: Erhalt einer qualitativen Versorgung) der Patienten.“
Auch beim Untergang der Titanic gab es Rettungsboote, man musste allerdings rechtzeitig „eingestiegen“ sein.
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.