Präklinische und klinische Untersuchungen haben gezeigt, dass extrahierte Zähne beziehungsweise Zahnwurzeln strukturell und biologisch dazu geeignet sind, als alternative Autotransplantate für die lokalisierte Kieferkammaugmentation zu dienen. Der Beitrag von Prof. Dr. med. dent. Frank Schwarz et al. bewertet das biologische Potenzial und mögliche klinische Indikationen für diesen neuen Therapieansatz (Schwarz F, Hazar D, Golubovic V, Mihatovic I, Becker K. Lokalisierte Kieferkammaugmentationen unter Verwendung autogener Zahnwurzeln. Quintessenz 2017;68(12):1393–1398).
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Einleitung
In Deutschland werden jährlich ca. 13 Millionen Zähne extrahiert (laut Angaben der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung) und verworfen. Zur Vorbereitung eines defizitären Alveolarkamms für eine geplante Implantatversorgung kommen dann vornehmlich autogene Knochentransplantate oder Knochenersatzmaterialien unterschiedlichster Herkunft zum Einsatz. Dabei würde sich die Verwendung eines extrahierten Zahnes durchaus als mögliche Alternative anbieten, denn die strukturelle Beschaffenheit von Dentin ist grundsätzlich mit der von Knochengewebe vergleichbar7,17. Diese Ähnlichkeit zeigt sich sowohl bei der Gegenüberstellung der anorganischen (Knochen: ca. 62 Prozent; Dentin: ca. 69,3 Prozent) und der organischen (Knochen: ca. 25 Prozent; Dentin: ca. 17,5 Prozent) Komponenten als auch beim Wassergehalt (Knochen: ca. 13 Prozent; Dentin: ca. 13,2 Prozent). Große Unterschiede existieren jedoch beim Vergleich zum Zahnschmelz, der mit 96 Prozent eine überwiegend anorganische Matrix aufweist (anorganische Substanz: 1,7 Prozent; Wasser: 2,3 Prozent)16.
Wie beim Knochen wird die organische Struktur von Dentin ebenfalls von Kollagenfasern des Typs I dominiert, aber sie zeigt auch nicht kollagene Proteine wie Phosphoproteine, Osteocalcin, Proteoglykane und Glykoproteine17. Diese strukturellen Eigenschaften verleihen beiden Matrizes eine vergleichbare Elastizität und Härte. Eine ähnliche strukturelle Zusammensetzung wurde auch für das Wurzelzement beschrieben, welches mit einem anorganischen Gehalt von ca. 65 Prozent grundsätzlich dem Aufbau von schwach mineralisiertem Geflechtknochen entspricht16 (Abb. 1).
Die Verwendung von autotransplantierten Zähnen ist ein in der klinischen Praxis bewährtes und seit vielen Jahren gut dokumentiertes Alternativverfahren für den Ersatz fehlender Zähne10. Aktuelle Literaturdaten bestätigen für Autotransplantate mit abgeschlossenem Wurzelwachstum eine kumulative Überlebensrate von 100 Prozent nach fünf Jahren und von immerhin 72,7 % nach zehn Jahren32.
Die oben genannten strukturbiologischen Ähnlichkeiten zum autogenen Knochen führten in den vergangenen Jahren vermehrt dazu, die Verwendung von Zahnhartsubstanz als potenzielle Matrix für die Augmentation und Regeneration ossärer Defekte zu untersuchen1,2,4,6,9,22. Zum Einsatz kamen hierbei Zahnmatrizes in partikulärer und Blockform, welche grundsätzlich sowohl osteokonduktive als auch osteoinduktive Eigenschaften aufzeigten und in den natürlichen Remodellationsvorgang des ortsständigen Knochenlagers eingebunden wurden1,2,4,6,18,22.
Zahnwurzelaugmentate für die laterale Kieferkammaugmentation
Präklinische Untersuchungen
Auf der oben dargestellten wissenschaftlichen Datengrundlage führte unsere Arbeitsgruppe eine Serie präklinischer Untersuchungen im Tiermodell durch, um die Wirksamkeit autogener Zahnwurzeltransplantate zur lokalisierten Kieferkammaugmentation und zweizeitigen Osseointegration von Titanimplantaten weiter zu überprüfen5,25,26. Hierfür wurde das chirurgische Prinzip der etablierten Zahntransplantation innerhalb der knöchernen Kontur zugunsten der Transpositionierung von Zahnwurzelaugmentaten außerhalb des physiologischen Envelopes – im Sinne einer Auflagerungsosteoplastik – modifiziert. In einem standardisierten und etablierten Tiermodell wurden unterschiedlich konditionierte Prämolaren aus dem Oberkiefer entnommen und randomisiert auf laterale chronische Kieferkammdefekte im Unterkiefer verteilt. Hierzu gehörten
- gesunde Zahnwurzeln mit intakter Zahnpulpa,
- gesunde Zahnwurzeln ohne Zahnpulpa (nach Pulpaexstirpation und medikamentöser Einlage von Calciumhydroxid) sowie
- Zahnwurzeln mit einer ligaturinduzierten parodontalen Infektion.
Als Kontrollgruppe dienten zudem überwiegend kortikale autogene Knochenblöcke, die aus der retromolaren Region des Unterkiefers entnommen wurden5,25,26.
Unmittelbar nach der Zahnextraktion erfolgten eine horizontale Separation der Krone im Bereich der Schmelz-Zement-Grenze und eine vertikale Trennung beider Zahnwurzeln in der Furkation der Prämolaren. Bei den gesunden und den parodontal infizierten Zähnen wurde die Zahnpulpa im Bereich der Wurzel erhalten, wohingegen sie in der Gruppe der endodontisch therapierten Zähne bereits initial entfernt wurde. Beim Vergleich der Gruppen 1 (d. h. gesund) und 2 (d. h. endodontisch behandelt) sollte insbesondere der Einfluss einer intakten Wurzelpulpa auf das biologische Potenzial der Augmentate untersucht werden.
Ein primäres Ziel des chirurgischen Protokolls bestand in der Förderung einer Ankylose der Zahnwurzel am knöchernen Defektboden3, was durch eine vollständige Abtragung des Wurzelzements und eine Dentinexposition an den basalen Kontaktzonen unter Zuhilfenahme einer Kugelfräse erreicht wurde. Im Vergleich hierzu blieb die Augmentatoberfläche an der dem Weichgewebe zugewandten Seite unverändert, da ein intaktes Wurzelzement weniger anfällig für eine Ersatzresorption ist und somit die Volumenbeständigkeit der augmentierten Kontur sicherstellen sollte19. Bei den parodontal infizierten Zähnen konnte kein vollständiger Erhalt des Wurzelzements an der dem Weichgewebe zugewandten Seite erreicht werden, weil sowohl vor als auch nach der Extraktion ein intensives Scaling und Wurzelglätten zur restlosen Entfernung aller bakteriellen Auflagerungen erforderlich war.
Für die laterale Fixierung der Zahnwurzel- und Knochenblöcke im Bereich der 0-wandig konfigurierten Kieferkammdefekte wurden konventionelle Osteosyntheseschrauben verwendet, wodurch die Lagestabilität sichergestellt werden konnte. Auf den zusätzlichen Einsatz eines Knochenersatzmaterials oder einer Barrieremembran wurde in allen Gruppen verzichtet5,25,26. Abschließend erfolgte die primäre plastische Deckung sämtlicher Augmentate unter Einsatz eines modifizierten Mukoperiostlappens23.
Nach einer ungestörten Wundheilungsphase von zwölf Wochen zeigte die chirurgische Wiedereröffnung im Bereich aller Test- und Kontrolldefekte eine makroskopisch klar erkennbare homogene Integration und knöcherne Remodellation der jeweiligen Zahn- beziehungsweise Knochenblockaugmentate im ehemaligen Defektbereich. Die klinische Zunahme der Kieferkammbreite erlaubte eine regelrechte Präparation und die Insertion konventioneller schraubenförmiger Titanimplantate. Die Gruppe der endodontisch behandelten Zähne schien jedoch eine geringfügig höhere Expositionsrate aufzuweisen5,25,26.
Bei der histologischen Analyse konnten in allen Gruppen vergleichbare, statistisch nicht signifikant unterschiedliche mediane Kieferkammbreiten (KB) und knöchern organisierte Augmentationsflächen (AF) gemessen werden. Diese variierten bei den Zahnaugmentaten zwischen 2,70 und 2,96 mm (KB) beziehungsweise zwischen 7,55 und 11,20 mm2 (AF). In der Kontrollgruppe (d. h. Knochenblöcke) reichten die Werte von 3,30 bis 3,35 mm (KB) beziehungsweise von 6,60 bis 8,56 mm2 (AF). Die größte Kieferkammverbreiterung wurde in der Gruppe der parodontal infizierten Zahnwurzeln beobachtet (KB: 3,83 mm; AF: 10,18 mm2)26. Die histologische Auswertung verdeutlichte zudem, dass die frühe Osseo- beziehungsweise Dentointegration der eingebrachten Titanimplantate nach drei Wochen sowohl durch die Zahnwurzelaugmentation (medianer Knochen-Implantat-Kontakt: 36,96 bis 50,79 Prozent) als auch durch die autogenen Knochenblöcke (medianer Knochen-Implantat-Kontakt: 32,53 bis 64,10 Prozent) unterstützt wurde. Die gemessenen prozentualen Knochen-Implantat-Kontakte waren überdies mit den Werten (58,8 bis 59,3 Prozent) vergleichbar, welche nach einer Heilungsphase von zwei Wochen im Bereich nativer Knochenlager (d. h. ohne Augmentation) an identischen Titanimplantaten ermittelt wurden24,27.
Weitergehende Untersuchungen fokussierten auf immunhistochemische Charakteristika und volumetrische Analysen der Augmentationsareale. Hierbei zeigten die Zahnwurzelaugmentate verglichen mit den autogenen Knochenblöcken ähnliche oder sogar leicht erhöhte Osteocalcin-Antigen-Reaktivitäten (6,71 versus 2,73 Prozent) und Knochenvolumina pro bewertetem Gewebevolumen (0,34 versus 0,21) (Abb. 2). In separaten Ausdrehversuchen wurde außerdem bestätigt, dass beide Augmentationsgruppen vergleichbare biomechanische Werte (61,97 versus 44,8 Ncm) aufwiesen5.
Klinische Untersuchungen
Das in den oben genanten präklinischen Untersuchungen validierte chirurgische Vorgehen ermöglichte schließlich einen initialen Pilotversuch am Menschen29. Hierbei diente ein oberer retinierter Weisheitszahn als Quelle für das Wurzelaugmentat, das gemäß dem beschriebenen chirurgischen Vorgehen vorbereitet und zur lateralen Kieferkammverbreiterung im Bereich einer Schaltlücke im Unterkiefer eingesetzt wurde. Die postoperative Wundheilungsphase verlief über den gesamten Zeitraum von 24 Wochen problemlos, d. h., es gab keinerlei Anzeichen für primäre beziehungsweise sekundäre Dehiszenzen, Wundheilungsstörungen oder Wundinfektionen. Bei der chirurgischen Wiedereröffnung zeigte sich eine fast vollständige Ersatzresorption und Substitution der transplantierten Zahnwurzel durch ein neu gebildetes Hartgewebe. Die Zunahme der Kieferkammbreite in Höhe von 4,5 mm ermöglichte die regelrechte Insertion eines schraubenförmigen Titanimplantats bei guter Primärstabilität. Die achtMonate später durchgeführte klinische und radiologische Nachuntersuchung ergab gesunde periimplantäre Weichgewebsverhältnisse und ein stabiles interproximales Knochenniveau29. Diese Ergebnisse werden derzeit in einer prospektiven klinischen Studie validiert. Hierbei wird zudem die simultane Transpositionierung extrahierter Zahnwurzeln zur lateralen Augmentation im Bereich der entstandenen defizitären Extraktionsalveole untersucht (Abb. 3a bis d).
Ein vergleichbares chirurgisches Konzept wurde kürzlich in einer offenen Longitudinalstudie über zwei Jahre dokumentiert20. Hierbei kam sowohl blockförmiges als auch partikuliertes Zahnmaterial für die laterale Kieferkammaugmentation zum Einsatz. Die Wundheilungsphase betrug zwischen drei und sechs Monaten, und die im augmentierten Bereich inserierten Implantate zeichneten sich nach zwei Jahren durch stabile klinische und radiologische Ergebnisse aus20.
Zahnwurzelaugmentate für die Sinusbodenelevation
In einer ersten prospektiven Fallstudie wurden partikulierte Zahnwurzelaugmentate auch für die externe Sinusbodenelevation untersucht21. Bei insgesamt sechs Probanden erfolgte die Gewinnung der partikulären Zahnmatrix (Schmelz und Dentin) aus impaktierten Weisheitszähnen, die ohne das Beimischen von autogenem Knochen oder Knochenersatzmaterialien zum Einsatz kamen. Die Implantatinsertion wurde bei einem Probanden simultan und bei fünf Patienten nach einer mittleren Wundheilungsphase von 5,5 Monaten durchgeführt. Die histologische Analyse entnommener Trepanbioptate bestätigte die osteokonduktiven und osteogenetischen Eigenschaften der Zahnwurzelaugmentate, welche zudem einer partiellen Ersatzresorption unterlagen. Im Rahmen der Nachkontrolle nach bis zu fünf Jahren zeigte sich kein Implantatverlust, und es wurden stabile klinische sowie radiologische periimplantäre Verhältnisse festgestellt21.
Von der Osseointegration zur Dentointegration
Präklinische Studien im Tiermodell haben ergeben, dass eine erfolgreiche Implantatintegration auch in Anwesenheit intentionell belassener Zahnwurzelfragmente erfolgen kann. Die Integration zeigte sich durch die Ablagerung von neu entstandenem Wurzelzement und die Ausbildung von Parodontalfasern im Bereich der Implantatoberfläche8,15,31. Darüber hinaus konnte auch eine direkte Ausbildung von Hartgewebe im Kontaktbereich zwischen Wurzel- und Implantatoberfläche beobachtet werden28. Eine dünne Schicht mineralisierten Gewebes, das der Wurzeloberfläche entsprang, überzog die peripheren Anteile der Implantatoberfläche. Auch die immunhistochemische Analyse war durch eine hohe Osteocalcinaktivität im gesamten Kontaktbereich zwischen Zahnwurzel und Titanimplantat charakterisiert28. Die Ausbildung von mineralisiertem Gewebe könnte durch eine direkte oder indirekte Differenzierung von „osteoblast-like cells“ zustande gekommen sein30. Der mittlere prozentuale Kontakt (Tiermodell) zwischen der Implantatoberfläche und dem Osteodentin beziehungsweise Osteozement betrug 67,4 Prozent und war mit dem Knochen-Implantat-Kontakt im Bereich des gegenüberliegenden vestibulären Aspekts (63,5 Prozent) vergleichbar. Auf dieser Grundlage wurde der Begriff der Dentointegration geprägt, welcher analog zu Osseointegration die direkte strukturelle Verbindung zwischen der Implantatoberfläche und der Matrix der Zahnwurzel beschreibt28. Bei der Dentointegration folgt im Zuge der Ersatzresorption dem primären Zahn-Implantat-Kontakt die Ausbildung eines sekundären Knochen-Implantat- Kontaktes.
Die beschriebenen präklinischen Ergebnisse wurden grundlegend auch in klinischen Fallberichten verifiziert. Hierbei erfolgte die Implantatinsertion in Kieferkammbereiche, in denen ankylosierte Zahnwurzeln zur Vermeidung augmentativer Verfahren intentionell belassen worden waren. Die Implantate wurden demnach entweder in oder unmittelbar angrenzend an die belassenen Zahnwurzelreste inseriert. Über eine Beobachtungszeitraum von bis zu acht Jahren konnten keinerlei klinische oder radiologische Auffälligkeiten an den untersuchten Implantaten festgestellt werden11-14.
Zusammenfassende Bewertung
- Allein in Deutschland werden jährlich ca. 13 Millionen Zähne extrahiert und verworfen.
- Zahlreiche tierexperimentelle Untersuchungen belegen, dass partikuläre oder blockförmige Zahnwurzelaugmentate eine alternative osteokonduktive und osteogenetische biologische Matrix für die laterale Kieferkammaugmentation und die Sinusbodenelevation darstellen können. Diese unterliegen – analog zu autogenen Knochentransplantaten – vornehmlich einer Ersatzresorption (d. h. Substitution durch neu gebildeten Knochen).
- Die augmentierten Bereiche förderten die regelrechte Osseointegration inserierter Titanimplantate. Die gemessenen histologischen und biomechanischen Ergebnisse waren mit denen von Implantaten vergleichbar, welche im Bereich autogener Knochenblöcke oder im nativen Knochenlager eingesetzt wurden.
- Der klinische Zustand der Zahnwurzel (d. h. gesund, endodontisch behandelt oder parodontal infiziert nach Scaling und Wurzelglättung) hatte keinen messbaren Einfluss auf ihre biologische Aktivität.
- Erste klinische Studien zur lateralen Kieferkammaugmentation und Sinusbodenelevation belegen die Sicherheit und Wirksamkeit partikulärer beziehungsweise blockförmiger Zahnaugmentate und bestätigen die Ergebnisse tierexperimenteller Untersuchungen.
- Als mögliche Quellen für die zukünftige Gewinnung von Zahnaugmentaten kommen primär retinierte, impaktierte, verlagerte oder überzählige Zähne in Frage.
- Die Verwendung endodontisch behandelter und parodontal geschädigter Zähne ist derzeit Gegenstand klinischer Untersuchungen.
Ein Beitrag von Prof. Dr. med. dent. Frank Schwarz, Didem Hazar, Dr. med. dent. Vladimir Golubovic, Dr. med. dent. Ilja Mihatovic und Dr. med. dent. MSc. Katrhin Becker, alle Düsseldorf
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