Die diesjährige Jahrestagung des Arbeitskreises für forensische Odontostomatologie (AKFOS) fand am 26. Oktober 2019 traditionell in Mainz statt. Und wieder gab sie einen spannenden Einblick in dieses besondere Fachgebiet im Dienst der Lebenden – und der Toten.
Der 1. Vorsitzende des AKFOS, Prof. Dr. Rüdiger Lessig aus Halle (Saale), begrüßte erneut zahlreiche Teilnehmer und Referenten aus dem In- und Ausland. Den diesjährigen Eröffnungsvortrag hielt Prof. Dr. Thomas Riepert aus Mainz zum Thema: „Zähne von Lebenden und Toten – Sicht eines Rechtsmediziners‟. Riepert beleuchtete eigene Identifizierungsfälle, unter anderem einen Hausbrand, der sich im Jahr 2008 in Ludwigshafen ereignete und insgesamt neun Todesopfer und 60 teilweise Schwerverletzte zur Folge hatte. Der Brand wurde zum Politikum, weil es sich bei den Toten, vier Frauen und fünf Kinder, ausschließlich um Türken beziehungsweise türkischstämmige Deutsche handelte.
Ein weiterer interessanter Fall war ein Tötungsdelikt an einer jungen Frau, die erstochen aufgefunden wurde. Die Straftat wurde juristisch als minder schwerer Fall des Totschlags bewertet und führte im Nachgang zu einer Verschärfung des Strafrahmens auf bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe in der deutschen Rechtsprechung. Im Sektionsgut selten, aber umso zeitsparender, war die Identifizierung eines Mannes, der sich seine Initialen auf einer Goldkrone hatte anbringen lassen.
Menschen ihre Identität zurückgeben – Bus- und Flugzeugunglücke
Themenschwerpunkte des diesjährigen Vortrages der Identifizierungskommission (IDKO) des Bundeskriminalamtes (BKA) von Kriminaloberkommissar Thorsten Seppel waren die Einsätze im Rahmen des Busunglücks auf Madeira und bei dem Flugzeugabsturz eines Flugzeugs der Ethiopian-Airlines vom Typ Boeing 737-8 Max. Am 17. April 2019 verunglückte auf der portugiesischen Ferieninsel Madeira ein Reisebus mit einer deutschen Reisegruppe an Bord. Der Bus war eine Böschung hinabgestürzt, nachdem er in einer Kurve von der Straße abgekommen war. Von den 56 Personen im Bus kamen 29 ums Leben. Die Zusammenarbeit mit den portugiesischen Behörden und Rechtsmedizinern habe sehr gut funktioniert. Lediglich das AM-Team in Wiesbaden hatte damit zu kämpfen, dass die jeweils zuletzt behandelnden Zahnärzte entweder schwer zu erreichen waren (der Unfall hatte sich kurz vor dem anstehenden Osterwochenende ereignet) oder – aufgrund der Berufung auf die zahnärztliche Schweigepflicht – Behandlungsunterlagen erst verspätet zur Verfügung standen.
Der Absturz eines äthiopischen Linienflugs ereignete sich am 10. März 2019 auf dem Weg von Addis Abeba nach Nairobi. Dabei kamen alle 149 Passagiere, darunter fünf Deutsche und 8 Besatzungsmitglieder ums Leben. Die größte Herausforderung für die eingesetzten Mitglieder der IDKO waren die desolaten hygienischen Zustände vor Ort.
Zahnmedizin vor Gericht
Prof. Dr. Christian Gernhardt aus Halle (Saale) hielt einen viel beachteten Vortrag unter dem Titel „Zahnmedizin vor Gericht – was ist aus gutachterlicher Sicht zu berichten?“. Früher beschäftigten vor allem chirurgisch-implantologische Fälle die zahnmedizinischen Gutachter, wobei hauptsächlich Nervverletzungen oder nicht passende prothetische Versorgungen im Vordergrund standen. Heutzutage sind es auch zunehmend endodontische Behandlungsfälle mit Fragestellungen, die in Zusammenhang mit abgebrochenen oder frakturierten Zähnen stehen, wie Zahnerhaltung, Beurteilung des Extraktionszeitpunkts oder der Vermeidbarkeit von Rezidiven. Typische endodontische Gutachtenfälle sind immer wieder Spülunfälle, die zu massiven Weichteilemphysemen führen können, wobei hier laut Gernhardt hohe Unsicherheiten in der Nachbetreuung der Patienten bestehen würden.
Eine häufige Fehlerquelle bei endodontischen Behandlungen stellen verbliebene, abgebrochene, Wurzelkanalinstrumente dar, wobei es sich aber um ein „eingriffsimmanentes“ Risiko handelt, was allerdings kein Problem darstelle, solange der Patient darüber regelhaft aufgeklärt wurde. Bei Behandlungsfehlergutachten muss immer der fachlich anerkannte Standard zum jeweiligen Behandlungszeitpunkt berücksichtigt werden. Beispielsweise war es bis vor wenigen Jahren ausreichend einen Wurzelkanal bis in das apikale Drittel zu verschließen. Aktuell muss eine Wurzelkanalfüllung bis zum apikalen Endpunkt reichen.
Konsequenzen aus schweren Unfällen
Dr. Dr. Jean-Marc Hutt aus Straßburg hielt ein Übersichtsreferat über „Autobusunfälle in Frankreich aus forensisch odontologischer Sicht“. Am 31. Juli 1982 waren beim Busunglück von Beaune zwei Schulbusse unterwegs nach Savoyen. Bei regnerischem Wetter und verengter Fahrbahn überholten zwei Autos in riskantem Überholmanöver die Busse. Durch ein Bremsmanöver des vorderen Buses kam es zu einer Massenkarambolage, die 53 Todesopfer forderte. Als Folge des Unfalls wurden die Sicherheitsbestimmungen für Busse verschärft und bis heute gilt auf französischen Autobahnen bei regnerischem Wetter eine Höchstgeschwindigkeit von 110 Kilometern pro Stunde.
Ein weiteres Fallbeispiel war das Busunglück von Vizille vom 22. Juli 2007. Ein mit polnischen Pilgern besetzter Bus passiert einen kurvenreichen für den Busverkehr gesperrten Streckenabschnitt durch die französischen Alpen. Dieser spezielle Streckenabschnitt ist berühmt und berüchtigt in Frankreich, weil es hier schon über Jahrzehnte wiederholt zu tödlichen Busunglücken gekommen ist. Auf dem letzten Streckenabschnitt versagten die Bremsen des Buses, er durchbrach eine Leitplanke und stürzte in eine Schlucht. 26 Menschen starben, 24 wurden verletzt. Dieser Fall gestaltete sich besonders schwierig für das französische Identifizierungsteam, weil die antemortalen Zahnbefunde in der „Haderup-Nomenklatur“ erfasst waren und die polnischen Behandlungsunterlagen zunächst übersetzt werden mussten.
Qualitätssicherung im Fokus
Prof. Dr. Tore Solheim aus Oslo hielt einen Vortrag mit dem Titel „Qualitätssicherung im forensisch odontologischen Auftrag und Bericht“ worin es um Qualitätsstandards bei stomatologischen Gutachten in der Forensik ging. Solheim gab – neben persönlichen Ratschlägen aus seiner langjährigen Erfahrung als forensisch tätiger Zahnarzt und Mitglied des norwegischen DVI-Teams – einen guten Überblick über die aktuelle Literatur zu dem Thema, wobei er vor allem auf die Empfehlungen gemäß der Internationalen Gesellschaft für Forensische Odontostomatologie (IOFOS) und die gängigen Interpolstandards einging. Er empfahl weiterhin, sich an rechtsmedizinischen Gutachten zu orientieren, da diese für ihn gewissermaßen ideale Berichte darstellten, angefangen von der ausführlichen Aufnahme und Dokumentation bezüglich allgemeiner Angaben und der Vorgeschichte bis hin zum detailgetreuen Bericht mit abschließender Quellenangabe der verwendeten Literatur. Er zeigte Fallbeispiele aus dem Tsunamieinsatz in Thailand aus dem Jahr 2004/5, um gute und schlechte Beispiele forensisch-stomatologischer Dokumentation zu veranschaulichen.
Auszeichnung für das Lebenswerk
Im Anschluss an seinen Vortrag wurde Prof. Solheim vom AKFOS-Vorstand für sein Lebenswerk ausgezeichnet, nachdem er bereits im Jahr 2017 zum Ehrenmitglied des AKFOS ernannt wurde. Der gebürtige Norweger der übrigens selbst fließend Deutsch spricht, ist schon seit vielen Jahren eng mit der Deutschen Gesellschaft für forensische Odontostomatologie verbunden, wobei er mit zahlreichen fundierten Vorträgen aus dem Fachbereich der forensischen Odontostomatologie immer wieder einen wertvollen wissenschaftlichen Beitrag zu den AKFOS-Jahrestagungen geleistet hat.
Die Schriftführerin des AKFOS, Dr. Rebecca Wagner aus Jena, berichtete von ihrer Kursteilnahme am 4. Internationalen IOFOS-Kurs auf Longyearbyen, Spitzbergen vom 27. Februar bis 6. März 2019. Der Kurs wurde von Prof. Solheim aus Norwegen zusammen mit Prof. Håkan Mörnstad aus Schweden und Assoc. Prof. Svend Richter aus Island organisiert. Innerhalb des Programmes wurden zwei Workshop-Module angeboten. Ein fünftägiger Disaster Victim Identification (DVI) Trainingskurs und ein zweitägiger Trainingskurs für Forensische Altersdiagnostik.
Die Durchführung und der vermittelte Inhalt der Workshops waren ausgezeichnet und haben sie tief beeindruckt. In einem bilderreichen Vortrag vermittelte sie, was es bedeutet, sich an die arktische Witterung mit Temperaturen zwischen minus 22 und minus 26 Grad Celsius anzupassen und sich auf Eisenbärenterritorium zu bewegen. Highlights des Kurses waren eine ganztägige Schneemobiltour, eine Schlittenhundefahrt und die Sichtung von Polarlichtern.
Individuelle Inlaybrücke hilft bei der Identifizierung
Die Sekretärin des AKFOS, Dr. Monika Bjelopavlovic aus Mainz, präsentierte zusammen mit Kriminalhauptkommissarin Susanne Franke-Schmitgen einen Identifizierungsfall aus der Mainzer Rechtsmedizin. Im August 2016 wurde ein skelettierter weiblicher Leichnam samt Unterkiefer aufgefunden. Der Unterkiefer wies keine stomatologischen Besonderheiten auf. Die durchgeführte Obduktion an den vorhandenen Teilen des Leichnams ergab zunächst keine Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden. Erst im April 2019 konnte der zugehörige Schädelknochen in der Nähe eines Fuchsbaus geborgen werden. Der Oberkiefer lieferte dann die entscheidenden Hinweise zur Identitätssicherung mit individuellen Merkmalen in Form von Goldkronen, einem charakteristischen Lückenschluss der Oberkieferfront bei beidseitig fehlenden Zweiern und einer aus zahnmedizinischer Sicht eher selten verwendeten und daher höchst individuellen Inlaybrücke im Seitenzahngebiet. Nach Feststellung der Identität gingen die anschließenden Ermittlungsarbeiten von einem Suizidgeschehen aus.
Von Identifizierung und häuslicher Gewalt bis Behandlungsfehler
Zum Abschluss des wissenschaftlichen Programms referierte der zweite Vorsitzende des AKFOS, Dr. Dr. Claus Grundmann aus Moers, zum Thema „Forensische Zahnmedizin – was ist das“, wobei er spannende Einblicke in das weite Tätigkeitsfeld der forensischen Zahnmedizin gab; angefangen bei zahnärztliche Identifizierungen, über stomatologische Expertisen im Rahmen der forensischen Altersdiagnostik, Interpretation von Bissspuren, häusliche Gewalt sowie odontologische Unfallrekonstruktionen bis hin zur Begutachtung zahnärztlicher Behandlungsfehler. Außerdem berichtete er über eigene Einsätze im Rahmen seiner langjährigen Tätigkeit als ständiges Mitglied des deutschen Identifizierungsteams.
Bei der anschließenden Mitgliederversammlung berichtete Prof. Dr. Rüdiger Lessig im Bericht des Vorstands über folgende Themenschwerpunkte: Interpol DVI-Konferenz in Singapur, 11. Lehrgang Forensische Odontostomatologie mit Schwerpunkt zahnärztliche Identifizierung im Katastrophenfall, Gremienarbeit in DGZMK, DGRM und IOFOS. Bei den diesjährigen Vorstandswahlen der Interpol DVI Subworkinggroups Arbeitsgruppen von Interpol wurde der 1. Vorsitzende des AKFOS, Prof. Dr. Rüdiger Lessig, erneut zum stellvertretenden Vorsitzenden der Forensic Odontology Subworkinggroup für die nächsten zwei Jahre gewählt. Von 2021 bis 2023 übernimmt er dann den Posten als Vorsitzender. Der erste Teil des zahnärztlichen Identifizierungskurses 2019 in Halle konnte aufgrund der doppelten Einsatzlage (siehe Vortrag des Bundeskriminalamtes) der Identifizierungskommission (IDKO) dieses Jahr nicht realisiert werden, der zweite Ausbildungsteil in Wiesbaden bei der IDKO fand wie geplant statt.
Dr. Florian Nippe (Köln), Webmaster des AKFOS, informierte die Mitglieder darüber, dass er aufgrund von Modernisierungsbestrebungen der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund-, und Kieferheilkunde (DGZMK) an einem neuen Webauftritt arbeite.
Als kulturellen Einstieg in die Tagung hatte Dr. Dr. Claus Grundmann am Vortag der Tagung eine Turmführung durch die katholische Pfarrkirche St. Stephan organisiert. Berühmt ist die Kirche für ihre neun von Marc Chagall gestalteten Fenster, in denen Szenen aus dem Alten Testament porträtiert werden. Ein eindrückliches Erlebnis war der Anblick der durch die Kirchenfenster scheinenden Abenddämmerung untermalt von Orgelmusik.
Die 44. AKFOS-Jahrestagung, zu der bereits an dieser Stelle herzlich eingeladen wird, findet am 24.Oktober 2020 im Universitätsklinikum Mainz statt.
Dr. med. Rebecca Wagner, Universitätsklinikum Jena