In der Mitte des 19. Jahrhunderts entstand die Subdisziplin der Sozialmedizin. Industrialisierung und Bevölkerungswachstum hatten massenhaft ähnliche Arbeits- und Lebensbedingungen geschaffen. Unter den Menschen, die unter diesen Voraussetzungen arbeiteten und lebten, grassierten (Volks-)Krankheiten. Es ist das Verdienst der Sozialmedizin, eben diese Lebens- und Arbeitsbedingungen für das ätiopathogenetische Verständnis vieler Erkrankungen verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt zu haben. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Erkenntnisse verdichtet, dass unzureichende hygienische Lebensbedingungen und belastende Arbeitsbedingungen zu den beeinflussenden Faktoren einer eingeschränkten Lebensqualität und sogar Lebensdauer zählen. Vor dem Hintergrund dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse und dem Diskurs über (soziale) Hygiene und (Volks-)Gesundheit wurde der Begriff der „Krankheitsprävention“ eingeführt, heute meist verkürzt Prävention genannt.
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Der Begriff Prävention leitet sich vom Lateinischen (praevenire = zuvorkommen) ab. Aus dem Griechischen konkurriert der Begriff der Prophylaxe (prophylaxis = von vornherein ausschließen). Vor allem in der Zahnmedizin wird der Begriff der Prävention vornehmlich für das Fachgebiet benutzt, während der Begriff Prophylaxe meist für konkrete, diesbezügliche Tätigkeiten (zum Beispiel Individualprophylaxe) verwendet wird.
Dieser Aufsatz hat zum Ziel, auf Probleme bei der Verwendung des Präventionsbegriffs hinzuweisen und ihn für die Anwendung in der Parodontologie zu schärfen. Dies erfolgt in den drei folgenden Abschnitten: Der erste Abschnitt untersucht den Begriff der Prävention grundlegend und geht auf seine unterschiedlichen Implikationen ein. Der folgende Abschnitt thematisiert gängige Probleme, die allgemein im Umfeld von Präventionsmaßnahmen auftreten. Der letzte Abschnitt widmet sich der Anwendung des Präventionsbegriffs eingedenk seiner Probleme auf die Parodontologie.
Der Begriff der Prävention
Begriffliche Klärungen sind unersetzlich für konzeptuelles Arbeiten. Nichtsdestoweniger ist das Definieren und Analysieren von Begriffen kein Selbstzweck und erscheint nur dann gerechtfertigt, wenn damit ein Erkenntnisgewinn verbunden ist. Bevor jedoch auf ihre Probleme eingegangen werden kann, sind die Begriffe zunächst einzuführen. Der Abschnitt beginnt mit der wohl bekanntesten Einteilung von Präventionsmaßnahmen.
Primär- bis Quartärprävention
Aufgrund der historischen Entwicklung im Zusammenhang mit der Industrialisierung orientierte sich Prävention lange Zeit am biomedizinisch-naturwissenschaftlichen Krankheitsmodell mit der Ausrichtung an Risikofaktoren und der Pathogenese, auf deren Vermeidung Prävention ursprünglich fokussierte. Das Ziel der Reduktion von Neuerkrankungen (Inzidenzen) fassen wir heute unter Primärprävention beziehungsweise im Falle der Vermeidung von Risikofaktoren als Primordialprävention zusammen.
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass sich viele Krankheiten meist nicht einfach mechanistisch durch eine Elimination bekannter Risikofaktoren verhindern lassen und Risikofaktoren oft nicht paternalistisch eliminierbar sind. Daraufhin erfolgte eine Ausdifferenzierung der Präventionsidee entlang der Progredienz beziehungsweise der Zeitachse der Erkrankungen1. Damit wurde Prävention auch in Richtung biopsychosoziales Krankheitsmodell und Salutogenese geöffnet2. In diesem Zusammenhang fand auch der Begriff der Gesundheitsförderung Eingang in den Public-Health-Diskurs (vergleiche die Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation, WHO3). Auch wenn die Differenzierung zwischen Prävention und Gesundheitsförderung auch im hiesigen Kontext ihre Berechtigung hat, so werden beide Begriffe beispielsweise im angelsächsischen Sprachraum oft synonym verwendet oder zumindest ohne Abgrenzung im gleichen Atemzug genannt4,5. Aus Platzgründen beschränken wir uns hier auf den Begriff der Prävention und müssen eine umfassendere Berücksichtigung von salutogenetischen Einsichten vorerst schuldig bleiben.
Um die verschiedenen Stufen von Prävention besser nachvollziehen zu können, kann es hilfreich sein, zwischen der subjektiven Wahrnehmung der präventionsadressierten Person mit ihrer wahrgenommenen Gesundheitsstörung auf der einen Seite und der professionellen Diagnostik einer Krankheit auf der anderen Seite zu unterscheiden. Das Englische bietet hierfür zwei Begriffe: den
der „disease“ für eine Krankheit gemäß schulmedizinischer Definition mit festgelegten Diagnosekriterien und den der „illness“ für eine Krankheit gemäß dem subjektiven Empfinden des Betroffenen. Fühlt sich ein Mensch krank und geht daraufhin zum Arzt, ließe sich dies vereinfacht umschreiben als „a patient enters the clinic with an illness and leaves with a disease“6. Die gängige Klassifikation kann so folgendermaßen charakterisiert werden:
Primäre Prävention (Vorsorge)
Ziel: Verringerung der Inzidenz von Krankheiten
Bedingung:
- subjektiv: keine wahrgenommene Gesundheitsstörung vorhanden (no illness)
- professionell: keine Krankheit (Diagnose) vorhanden (no disease)
Zeitpunkt: vor Eintritt einer KrankheitAdressaten: Gesunde
Einfaches Beispiel: Impfung (Abb. 1)
Als Sonderfall der Primärprävention kann die primordiale Prävention angesehen werden, in der es speziell darum geht, dem Auftreten von Risikofaktoren vorzubeugen.
Sekundäre Prävention (Früherkennung und Frühbehandlung)
Ziel: Senkung der Prävalenz von Krankheiten
Bedingung:
- subjektiv: keine wahrgenommene Gesundheitsstörung vorhanden (no illness)
- professionell: Krankheit wird (durch Diagnose) entdeckt (disease)
Zeitpunkt: im (zunächst unbemerkten) Frühstadium einer Krankheit
Adressaten: Klienten, (die sich zwar gesund/symptomlos fühlen) die durch diagnostische Maßnahmen (zum Beispiel Früherkennung durch Screening) zu Patienten werden
Einfaches Beispiel: Screening (Abb. 2)
Problematisch im Sinne einer überschneidungsfreien Abgrenzung wird die Idee der tertiären Prävention, die erst dann einsetzt, wenn die Krankheit bereits manifest ist, und der man insofern nicht mehr zuvorkommen (praevenire) kann. Eine exakte Differenzierung zwischen tertiärer Prävention, Therapie und Palliation erscheint nicht immer trennscharf möglich und damit ist auch der Nutzen des Begriffs an sich fraglich7. Dies gilt auch für die Abgrenzung zur Sekundärprävention (siehe unten das Beispiel der unterstützenden Parodontitis-Therapie [UPT] unter dem Abschnitt „Der parodontale Präventionsweg“). Bei Differenzierung der Bedingungen für die einzelnen Präventionsstufen zwischen subjektiver Krankheitswahrnehmung und professioneller Krankheitsdiagnose fällt die Abgrenzung – zumindest in Richtung Sekundärprävention – jedoch leichter.
Tertiäre Prävention (Nachsorge)
Ziel: Verhinderung von Folgeschäden von Krankheiten oder des Wiederauftretens von Krankheiten
Bedingung:
- subjektiv: wahrgenommene Gesundheitsstörung vorhanden (illness)
- professionell: Krankheit manifest (bereits diagnostiziert und therapiert; disease)
Zeitpunkt: nach Manifestation und/oder (Akut-)Therapie der Krankheit
Adressaten: Patienten
Einfaches Beispiel: Rehabilitation (Abb. 3)
Die Entwicklung der Versorgungsforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts widmet sich schließlich den tatsächlichen Zuständen und (Therapie-)Ergebnissen in der Patientenversorgung und löst sich von dem Gedanken, aus in der Realität nicht vorkommenden Forschungssettings auf den Versorgungsalltag zu schließen. Damit kamen zwangsläufig auch Fragen der Über-, Unter- und Fehlversorgung aufs kritische Tableau der Wissenschaft. In diesem Sinne kann der Gedanke der quartären Prävention verstanden werden8, der sich auf das grundlegende hippokratische Prinzip des „primum nil nocere“ rückbesinnt: Denkt man die Unterscheidung von „illness“ und „disease“ konsequent weiter, komplettiert die quartäre Prävention eine Präventions-Vierfeldertafel (Abb. 4): Die quartäre Prävention ist auf der Zeitachse nach der tertiären Prävention zu verorten und besteht in der Verhinderung von medizinisch unnötigen Maßnahmen als Ergebnis einer übertriebenen Behandlung oder Nachsorge. Wird bei der medizinischen Versorgung einer Erkrankung über das Ziel hinausgeschossen, handelt es sich um Überversorgung – Beispiele wären entweder eine Therapie mit erheblichen Nebenwirkungen und fragwürdigem Nutzen oder auch eine den Bedarf übertreffende Arztdichte in einer Region. Dehnt sich die medizinische Versorgung hingegen auf einen Bereich aus, auf den sie sich vormals nicht erstreckte, spricht man von Medikalisierung – als Beispiel kann hier die immer umfassendere medizinische Betreuung von Schwangeren dienen. Auch in der Zahnmedizin lassen sich hierfür Beispiele finden: Wurzelkaries, ästhetische zahnärztliche Dienstleistungen wie Zahnaufhellung, Lückenschluss durch Brücke bei stabilem Zahnstand, angesichts der klinischen Situation in der Mundhöhle zu hohe Frequenz an Zahnarztbesuchen. Maßnahmen, die die Vermeidung dieser Formen von Überdiagnostik und -therapie zum Ziel haben und somit der quartären Prävention zugeordnet werden könnten, sind bislang ungleich schwerer zu finden. Im weiteren Sinne könnten zahnmedizinische Leitlinien als solche Maßnahmen aufgefasst werden: Sie geben vor, welche Behandlungsschritte bei einer gegebenen Erkrankung aus wissenschaftlich-medizinischer Sicht angemessen sind – und lassen unangemessene Maßnahmen außen vor.
Quartäre Prävention (Folgenvorsorge)
Ziel: Vermeidung von Überdiagnostik und Übertherapie von Krankheiten
Bedingung:
- subjektiv: wahrgenommene Gesundheitsstörung vorhanden (illness)
- professionell: keine rechtfertigende Indikation vorhanden bzw. keine Folgeerkrankung vorhanden (no disease)
Zeitpunkt: vor Eintritt einer Folgeerkrankung
Adressaten: Patienten
Einfaches Beispiel: eine Leitlinie, die Übertherapie zumindest erschwert
Weitere Gliederungsmöglichkeiten von Präventionsmaßnahmen
Prävention kann auch entlang von Zielgruppen klassifiziert werden:
- universale Prävention richtet sich auf die Gesamtbevölkerung mit dem Ziel allgemeiner Prophylaxe;
- selektive Prävention richtet sich auf Risikogruppen mit speziellen Risikofaktoren;
- indizierte Prävention richtet sich an Hochrisikogruppen, die bereits Vorstufen der Erkrankung aufweisen.
Es sind zwei grundsätzliche Ansätze zu unterscheiden: Maßnahmen der Verhaltensprävention und Maßnahmen der Verhältnisprävention. Die Verhaltensprävention bezieht sich unmittelbar auf den einzelnen Menschen und dessen individuelles Gesundheitsverhalten. Die Verhältnisprävention hingegen berücksichtigt unter anderem die Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Dazu zählen beispielsweise die Wohnumgebung und auch andere Faktoren, welche die Gesundheit beeinflussen können, so etwa das Einkommen und die Bildung. Die Einführung der Anschnallpflicht für Autofahrer in Deutschland im Jahr 1984 ist ein Beispiel für Verhaltensprävention, wohingegen die Ausstattung eines Autos mit Airbags eine Maßnahme der Verhältnisprävention darstellt: In einem Fall wird der Anwender zu einem konkreten Verhalten angehalten, im anderen Fall verändern sich die Umgebungsverhältnisse des Autofahrers ohne sein eigenes Zutun.
Methodisch kann man unterschiedliche Wege beschreiten, eine Präventionsmaßnahme auszugestalten. Entsprechend ihrer Vorgehensweise lassen sich unterscheiden9:
- edukative Verfahren – hierbei können psycho-edukative Verfahren, die eine Änderung des Verhaltens bewirken sollen, unterschieden werden von sozio-edukativen Verfahren, die auf Änderungen der (Lebens-)Verhältnisse abzielen;
- normativ-regulatorische Maßnahmen zielen durch Gebote und Verbote auf eine individuelle Verhaltensänderung ab und sollen dadurch gleichzeitig die gesellschaftlichen Verhältnisse beeinflussen;
- ökonomische Anreiz- und Bestrafungssysteme mit ähnlicher Ausrichtung wie normativ-regulatorische Maßnahmen.
Probleme im Zusammenhang mit Prävention
Komplexe Konzepte wie das der Prävention bringen es mit sich, dass sie an sich verändernde Umstände angepasst werden müssen. Zudem kann ihre praktische Umsetzung unerwünschte Folgen zeitigen, die zu berücksichtigen sind. Oder die Anwendung auf einen neuen Kontext wirft Widersprüche auf, die für eine reibungslose Implementierung der Maßnahmen aufgelöst werden sollten.
„Den Risikofaktoren flussaufwärts das Wasser abgraben“
Aus der aktuellen Fünften Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS V) ist bekannt, dass die beiden chronischen Haupterkrankungen in der Zahnmedizin, Karies und Parodontitis, einem generellen Trend der Morbiditätskompression unterliegen10,11. Seit mehreren Jahrzehnten verschiebt sich die Initiation parodontaler Erkrankungsfälle im Lebensbogen weiter nach hinten12 (Abb. 5). Bedingt durch den demografischen Wandel, der mit einer weiter steigenden Lebenserwartung genauso verbunden ist wie mit der Zunahme multimorbider Menschen, die länger krank sind, ist mit einer weiteren Verstärkung der Morbiditätskompression in der Zahnmedizin zu rechnen, sodass sich die Therapiebedarfe auch zukünftig zeitlich weiter nach hinten verschieben werden und die Präventionsspanne entsprechend länger wird. Durch den erheblichen medizinischen Fortschritt kommt es außerdem zu einem grundlegenden Krankheitswandel, der durch weniger vermeidbare beziehungsweise heilbare Infektionskrankheiten charakterisiert ist und stattdessen mehr chronisch-degenerative Erkrankungen mit sich bringt13. Sie sind zwar häufig nicht heilbar, dafür aber oftmals verhaltensbedingt und beeinflusst über Ernährung (Übergewicht), Lebensstil (Sport, Alkohol, Rauchen) und Arbeitsbedingungen (langes Sitzen, schwere körperliche Tätigkeit). Diese Voraussetzungen prädestinieren für sogenannte Upstream-Präventionsmaßnahmen, die hier versprechen, effizienter zu sein, weil sie früher einsetzen und weniger aufwändige Maßnahmen umfassen als die zu einem späteren Zeitpunkt ansetzenden Kurations- und Therapiemaßnahmen oder gar Palliationsmaßnahmen mit deutlich höherem Ressourcenaufwand.
„Wer hat, dem wird gegeben“
Allerdings unterliegt Prävention häufig auch sogenannten Matthäus-Effekten (angelehnt an „Wer hat, dem wird gegeben“ Mt 25,29). Im Allgemeinen bezeichnet man eine Wirkung dann als Matthäus-Effekt, wenn eine bereits privilegierte Personengruppe durch eine Intervention noch mehr begünstigt wird, während die weniger Privilegierten von der Intervention auch weniger profitieren. Zum einen liegt ein Matthäus-Effekt vor, wenn die Konzentration auf Kuration und Therapie vor allem denjenigen mit leichtem Zugang zum Versorgungssystem hilft. Dies liegt darin begründet, dass es strukturell eher re-aktiv aufgebaut ist und weniger pro-aktiv: Das Versorgungssystem geht eher auf den Adressaten ein (Komm-Struktur des Gesundheitssystems) und es geht weniger auf den Adressaten zu. Zum anderen kommt es zu Matthäus-Effekten, wenn Menschen mit höherem sozioökonomischem Status im Allgemeinen am meisten von Präventionsmaßnahmen profitieren. Letzterer Umstand wird auch als Präventionsdilemma bezeichnet14. Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Präventionsmaßnahmen können aber auch bereits auf begrifflicher Ebene beginnen.
Eine Frage der Perspektive I: Bluthochdruck
Die Beurteilung einer Maßnahme als Primär-, Sekundär- oder Tertiärprävention ist nicht immer zweifelsfrei möglich und die Zuordnung sorgt regelmäßig für Diskussionen, denn sie ist stets abhängig von der (willkürlich) gewählten Perspektive auf die gegebene Maßnahme. Besondere Schwierigkeiten bereitet die Abgrenzung sekundärer Präventionsmaßnahmen von Maßnahmen sowohl der primären Prävention als auch der tertiären Prävention15. Das Problem beginnt allerdings bereits früher, nämlich in der Unterscheidung von Risikofaktoren und Krankheiten: So muss für jede Fragestellung gesondert definiert werden, ob Bluthochdruck (bei ansonsten gesunden Personen) als Risikofaktor anzusehen ist (zum Beispiel für koronare Herzkrankheit) oder bereits eine eigene Erkrankung darstellt. Erst danach können Maßnahmen zur Eindämmung des Bluthochdrucks als primäre oder sekundäre Prävention klassifiziert werden. Interessiert man sich für die koronare Herzkrankheit und geht davon aus, dass Bluthochdruck bei ansonsten gesunden Personen lediglich einen Risikofaktor für diese Zielerkrankung darstellt, wären entsprechende Präventionsmaßnahmen primärer oder sogar primordialer Natur. Gelangt man hingegen zu der Einschätzung, dass Bluthochdruck im Rahmen einer anderen Fragestellung bereits eine eigene Erkrankung darstellt, und man beabsichtigt, mit Hilfe der Präventionsmaßnahme eine Verschlimmerung der Erkrankung zu vermeiden, wären dieselben Maßnahmen eher der sekundären Prävention zuzuordnen.
Eine Frage der Perspektive II: Rauchen
Ein Beispiel großen weltweiten Erfolgs von Prävention ist das Rauchverbot in öffentlich zugänglichen Gebäuden. Handelt es sich dabei um Verhältnis- oder Verhaltensprävention? Es ist erneut eine Frage der Perspektive, ausgehend von den Nutznießern der Maßnahme: Aus der Sicht aller Anwesenden im Gebäude handelt es sich um eine universale Verhältnisprävention; universal, weil sie sich an alle Personen im Gebäude mit dem Ziel der allgemeinen Gesundheitsfürsorge richtet; Verhältnisprävention, da Umgebungsverhältnisse geschaffen werden, von denen jeder Gebäudenutzer grundsätzlich ohne eigenes Zutun profitiert. Aus der Perspektive eines rauchenden Büroangestellten dieses Gebäudes ließe sich auch eine Einordnung als selektive Verhaltensprävention rechtfertigen: Verhaltensprävention, sofern das Rauchverbot beim rauchenden Büroangestellten eine Verhaltensänderung bewirkt, nämlich zum Rauchen das Gebäude verlassen zu müssen; selektiv, weil das Rauchverbot nur rauchende Personen trifft. Nikotinabstinenz lässt sich zudem als tertiäre Präventionsmaßnahme konstruieren – beispielsweise aus der Perspektive der Tuberkuloseprävention: Im europäischen Lebensraum zählen vernünftige Wohnverhältnisse, Ernährung und Hygiene zur Primärprävention, Röntgen-Reihenuntersuchungen, Tuberkulintests und Untersuchungen im Umfeld von Patienten zur Sekundärprävention, Antituberkulotika, Behandlung von resistenzmindernden Begleiterkrankungen sowie Alkohol- und Nikotinabstinenz zu den tertiärpräventiven Maßnahmen16.
Der Präventionsbegriff in der Parodontologie
Mit der parodontalen Gesundheitskompetenz in Deutschland ist es nicht weit her
Laut einer aktuellen Umfrage in Deutschland ist etwa 1 Prozent der Bevölkerung in der Lage, die Krankheit Parodontitis richtig zu definieren17: Auf offen gestellte Fragen nach den Folgen von Parodontitis nannten 0,4 Prozent persistierende Schäden am Kieferknochen und 3 Prozent Zahnverlust. Bezüglich der Risikofaktoren für Parodontitis nannte nur knapp ein Viertel der Befragten von sich aus Faktoren, die mit der Mundhygiene zusammenhängen. Zwei Drittel der Befragten waren fälschlicherweise der Meinung, dass das Bürsten von Kauflächen für die Prävention von Parodontitis am wichtigsten sei. Mit der parodontalen Gesundheitskompetenz in Deutschland ist es also nicht weit her und eine bessere Aufklärung über Parodontitis auf Bevölkerungsebene wäre angesichts der hohen Prävalenz wünschenswert. Auch hierbei ist a priori die Frage zu beantworten, ob eine solche Präventionskampagne universal oder zielgruppenspezifisch ausgerichtet sein sollte.
Eine universale Strategie würde sich an die allgemeine Bevölkerung richten. Sie wäre zwar für viele Adressaten nicht angemessen, weil sie sich als Unbetroffene nicht angesprochen fühlten; gesamtgesellschaftlich dürfte sie jedoch den größten Nutzen bringen, weil bei einer universal ausgerichteten Präventionsstrategie gegen Parodontitis mit einer hohen Effektivität der Maßnahme gerechnet werden kann. Effektivität geht der Frage nach, ob die Maßnahme geeignet ist, das definierte Ziel zu erreichen (Hilfsfrage: Bringt uns die Maßnahme dem Ziel näher?).
Wenn die Präventionskampagne hingegen effizient in ihrer Wirkung sein soll, erscheint eine zielgruppenspezifische Ausrichtung vielversprechender (Hilfsfrage: Gehen wir den Weg des geringsten Aufwands, um unser Ziel zu erreichen?). Zur Effizienzsteigerung würde man sich nicht an die allgemeine Bevölkerung wenden, sondern an Personen, die bereits Vorstufen der Erkrankung zeigen wie zum Beispiel Zahnfleischbluten. Eine solchermaßen ausgestaltete Präventionskampagne wäre individuell für all diejenigen tatsächlich Betroffenen angemessen, die mit dieser Erkrankung noch nicht adäquat umgehen.
Eine universale Strategie ist prädestiniert, primär- präventiv wirksam zu sein (Inzidenzsenkung), wohingegen eine zielgruppenspezifische respektive indizierte Strategie besonders sekundär-präventiv wirkt mit dem Ziel der Früherkennung und Frühbehandlung (Prävalenzsenkung). Beide Ziele, die Prävalenz und die Inzidenz, mit einer Maßnahme zu senken, ist in der Regel nicht erfolgversprechend; dieses Dilemma bezeichnet man auch als Präventionsparadox18.
Das Ziel der Stärkung von Gesundheitskompetenz (health literacy) und der Eigenverantwortung führt auch zu einer Verringerung des medizinischen Paternalismus, was vor allem bei chronisch- degenerativen Erkrankungen erstrebenswert ist, wo Patienten zu Experten ihrer eigenen Erkrankung werden sollen. Allerdings kann die damit verbundene Verlagerung der Verantwortung auf das Individuum auch zu einer Überforderung führen an einer Stelle, wo eigentlich die Politik, die Gesundheitsakteure oder die Betriebe in der Verantwortung stehen. Dies birgt die Gefahr einer Täter-Opfer-Umkehrung in sich.
Gerade parodontale Erkrankungen sind ein exzellentes Beispiel, gemeinsame Risikofaktoren in der Präventionsarbeit zusammen mit anderen medizinischen Disziplinen zu adressieren und so durch Fokussierung auf gemeinsame Risikofaktoren gleich mehrere Präventionsziele zu verfolgen. Vorherrschende Ansätze zur Förderung von Gesundheit waren bis vor Kurzem auf einzelne und spezifische Krankheiten gerichtet und haben die Mundgesundheit von der Allgemeingesundheit getrennt.
Ein alternativer Ansatz, der der Upstream-Prävention zuzuordnen ist, ist der gemeinsame Risikofaktorenansatz, der Common Risk Factor Approach (CRFA). Hierbei werden die wichtigsten Risikofaktoren in Angriff genommen, die einer Vielzahl bedeutender chronischer Krankheiten gemein sind, einschließlich Krankheiten des Mundes und der Zähne. Der CRFA konzentriert sich auf die gemeinsamen zugrunde liegenden Determinanten für Gesundheit mit dem Ziel, die allgemeine Gesundheit von Bevölkerungen zu verbessern und auf diese Weise soziale Ungleichheiten zu reduzieren. Die Hauptimplikation des CRFA hinsichtlich der Formulierung von Strategien zur Förderung der Mundgesundheit besteht daher in der Zusammenarbeit mit einer Reihe anderer Sektoren und Disziplinen. Belange der Mundgesundheit sollten in die Empfehlungen zur Verbesserung der Allgemeingesundheit integriert werden. Verbesserungen in der Mundgesundheit und eine Reduzierung der Ungleichheiten in der Mundgesundheit werden wahrscheinlicher durch eine sektoren- und disziplinübergreifende Zusammenarbeit erreicht sowie über Strategien, die sich auf die vorgelagerten, zugrundeliegenden Determinanten von Munderkrankungen konzentrieren19.
Der parodontale Präventionsweg
Die European Federation of Periodontology (EFP) hat in einem Präventions-Workshop 2014 einen „Leitfaden für die effektive Prävention von Parodontalerkrankungen erarbeitet. Zu diesen allgemeinen Empfehlungen gehören (nach eigenen Angaben) als primärpräventive Maßnahme das Management von Gingivitis (und periimplantärer Mukositis) und als sekundärpräventive Maßnahme die Rückfallprophylaxe nach Parodontitistherapie20. Demnach ist die unterstützende Parodontitistherapie (UPT) als Sekundärprävention zu verstehen. Nach unserer Auffassung ist die unterstützende Parodontitistherapie allerdings eine Maßnahme der tertiären Prävention, weil sekundäre Prävention zu einem Zeitpunkt ansetzt, wo der Betroffene seine eigene Gesundheitsstörung noch gar nicht wahrnimmt, aber die Erkrankung bereits diagnostizierbar ist. Im Sinne der Früherkennung betrachten wir also beispielsweise die Erhebung des parodontalen Screening-Index (PSI; Abb. 6) als sekundärpräventive Maßnahme. Wie kommt es aber dazu, dass Tonetti et al.20 die unterstützende Parodontitistherapie als Sekundärprävention ansehen? Wie bereits erwähnt, ist es erforderlich, explizit eine bestimmte Perspektive einzunehmen, um die Klassifikation von Prävention sinnvoll mit Bedeutung füllen und eine Maßnahme widerspruchsfrei einordnen zu können. Tonetti et al. scheinen eine Zielerkrankung in den Blick zu nehmen, die der Parodontitis zeitlich und kausal nachgelagert sein muss. Es spricht viel dafür, dass sie den Zahnverlust als ultimatives Ereignis am Lebensende eines Zahns im Sinn hatten, welches es zu vermeiden gilt. Unseres Erachtens ist dies insofern nicht zielführend, als wir Prävention immer im Hinblick auf eine konkrete Erkrankung definieren würden, nicht hinsichtlich des letztmöglichen Ereignisses. Anderenfalls ergäben manche übrigen Präventionsbegriffe keinen Sinn mehr: Aus Patientensicht scheint zwar der Zahnverlust das relevanteste Ereignis im Zusammenhang mit der Parodontitis zu sein21; wählte man jedoch dieses letztmögliche Geschehnis als Zielerkrankung, dann wären alle vorgelagerten Präventionsmaßnahmen zwangsläufig als Primär- oder Sekundärprävention einzuordnen und parodontitisbezogene tertiärpräventive Maßnahmen würden erst nach dem Zahnverlust einsetzen, was diesen Begriff unseres Erachtens ad absurdum führen würde.
Nach unserer Perspektive können die parodontalpräventiven Maßnahmen der EFP folgendermaßen klassifiziert werden:
Primäre parodontale Prävention
- häusliche Plaquekontrolle, auch interdental (Abb. 7)
- professionelle mechanische Plaqueentfernung (PMPR/PZR)
- Gingivitiskontrolle
Sekundäre parodontale Prävention
- Screening, frühe Diagnose und Therapie
Tertiäre parodontale Prävention
- unterstützende Parodontitistherapie (UPT)
Quartäre parodontale Prävention
- Vermeidung unnötiger parodontalchirurgischer Maßnahmen
Abschließend bedarf die Einordnung der unterstützenden Parodontitistherapie (UPT) als Maßnahme der tertiären parodontalen Prävention einer weiteren Erläuterung: Es ließe sich einwenden, dass nach einer aktiven Parodontitistherapie (AIT) bei einem nun parodontal stabilen Patienten gingivale Gesundheit vorliegen kann; in einem solchen Fall erscheint es zunächst plausibel, dass eine zeitlich nachgelagerte unterstützende Parodontitistherapie der Sekundärprävention zuzuordnen wäre, da gemäß Abbildung 4 zwar eine zahnärztliche Diagnose vorhanden wäre, aber keine Gesundheitsstörung aus Patientensicht. Eine unterstützende Parodontitistherapie ließe sich aber ebenso gut als Tertiärprävention auffassen: Lägen zusätzlich eine Zahnhalsüberempfindlichkeit oder ästhetische Verbesserungswünsche vor, wäre eine Gesundheitsstörung aus Patientensicht gegeben und die unterstützende Parodontitistherapie müsste entsprechend der Tertiärprävention zugerechnet werden. Diese terminologischen Verwirrungen entstehen durch die Tatsache, dass hier implizit die Zielerkrankung gewechselt wird, und lässt sich folglich vermeiden, wenn konsequent die Parodontitis in den Blick genommen wird: Nach einer aktiven Parodontitistherapie dürfte sich der Patient seiner Parodontitis bewusst sein, auch wenn er keine Krankheitszeichen oder Symptome mehr wahrnimmt. Analog dazu wird ein eingestellter Diabetes-Patient ebenfalls nicht der Auffassung sein, dass er nicht mehr an Diabetes leidet. Eine nachgelagerte unterstützende Parodontitistherapie wäre dann widerspruchsfrei als Nachsorge und somit als Tertiärprävention zu zählen. Entscheidend für die Einstufung einer Präventionsmaßnahme als tertiär ist, dass sie nach der Therapie einsetzt (Nachsorge).
„In jedem Fall bleibt der Versuch, einen komplexen kontinuierlichen Prozess wie die Ätiologie (chronischer) Krankheiten in diskrete Kategorien zu zerlegen, letztlich eine Hilfskonstruktion, die Ordnungszwecken dienen kann, aber bis zu einem gewissen Grad auch immer arbiträr ist“ 9.
Ein Beitrag von Prof. Dr. A. Rainer Jordan und Dr. Nicolas Frenzel Baudisch, beide Köln
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