Im medizinischen Alltag sind alle Mitarbeiter einer KFO-Praxis dem Risiko einer Nadelstichverletzung ausgesetzt. Die Gefährdung dieser Personengruppe entsteht sowohl durch den direkten Kontakt zum Patienten als auch durch das Arbeiten mit spitzen beziehungsweise scharfkantigen und gleichzeitig kontaminierten Instrumenten. Dabei besteht ein ernstzunehmendes Risiko einer Infektion mit blutübertragbaren Erregern wie zum Beispiel Hepatitis-B-Virus (HBV), Hepatitis-C-Virus (HCV) oder Humanem Immundefizienz-Virus (HIV). Vor diesem Hintergrund erläutern die Autoren Kataryna Strzyż und Robert Fuhrmann in ihrem Beitrag für die Kieferorthopädie 4/19 die Wahrscheinlichkeit einer Infektionsgefahr und die Notwendigkeit der zügigen und sorgfältigen Versorgung nach einer Stichverletzung erläutert. Von größter Bedeutung sind die Sofortmaßnahmen, die direkt nach einer Exposition eines kieferorthopädischen Mitarbeiters stattfinden. Darüber hinaus soll eine schnellstmögliche Postexpositionsprophylaxe (PEP) und anschließend die Weiterbehandlung beim D-Arzt bzw. Betriebsarzt durchgeführt werden. Eine Nadelstichverletzung kann sowohl für den Behandler als auch für den Patienten erhebliche gesundheitliche Auswirkungen haben und zu langfristigen medizinischen Komplikationen beziehungsweise beruflichen Einschränkungen führen.
Die „Kieferorthopädie“ informiert viermal im Jahr über die neuesten Erkenntnisse und Entwicklungen aus Praxis und Wissenschaft. Die Beiträge befassen sich mit allen Sachgebieten der modernen Kieferorthopädie. Praxisnahe Patientenberichte und Übersichtsartikel bilden das Herzstück jeder Ausgabe. Kongressberichte, Buchbesprechungen, Praxistipps, Interviews und eine ausführliche Übersicht über kieferorthopädische Fortbildungsveranstaltungen runden das redaktionelle Spektrum ab. Eine Vielzahl von anschaulichen, zum größten Teil farbigen Abbildungen in optimaler Reproduktionsqualität illustriert die einzelnen Beiträge. Mit kostenlosem Zugang zur Online-Version recherchieren Abonnenten komfortabel online – auch rückwirkend ab 2003 im Archiv. Kostenloser Zugang zur App-Version für Abonnenten. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenlosen Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.
Einleitung
Der folgende Artikel ist der erste Teil einer Ausarbeitung zum Thema „Nadelstichverletzung“. Zunächst werden die grundlegenden Informationen und Vorgehensweisen nach einer Verletzung beschrieben, die allen medizinischen Mitarbeitern zur Sensibilisierung und als Hinweis für ihre zukünftige Arbeit am Patienten dienen sollen.
Darauf aufbauend soll in der Fortsetzung „Arbeitsrechtliche Risiken von Stichverletzungen – Teil II“ auf arbeitsrechtliche Umstände, wie Ursachen, Vorbeugung, Dokumentation und Meldung der Nadelstichverletzung, eingegangen werden. Außerdem werden die arbeitsbedingten Schutzmaßnahmen sowie die Pflichten und Risiken für Praxisinhaber aufgezeigt.
Stichverletzungen durch Drahtligaturen, Drahtbögen oder scharfkantige Materialien sind potenzielle Verletzungsrisiken im intraoralen kieferorthopädischen Behandlungsverlauf. Jede Stichverletzung im Mund eines Patienten führt zu einem Kontakt mit Speichel und/oder Blut des Patienten, der eine lokale und/oder systemische Infektion des Behandlers auslösen kann.
Die mögliche Invasivität und die langfristigen Infektionsrisiken durch abstehende verdrillte Kobayashi-Drahtligaturen zur Fixation von herausnehmbaren Gummizügen werden selten thematisiert. Scheinbare Bagatellverletzungen passieren in der klinischen Routine manchmal unbemerkt. Viele junge Ärzte und Assistenten lassen sich gar nichts anmerken, um einer Diskussion über die manuelle Ungeschicklichkeit oder mangelhafte Aufmerksamkeit beim Arbeiten im Mund aus dem Wege zu gehen. Man verschweigt die geringfügige Stichverletzung, steckt das minimale Trauma kommentarlos weg und will sich im Team nicht als „Sensibelchen“ offenbaren.
Der persönliche Schutz, die Aufklärung und die Vorsorge bezüglich intraoraler Stichverletzungen stellt Praxisinhaber und jeden „Mundarbeiter“ vor komplexe medizinische und arbeitsschutzrechtliche Anforderungen.
Definition der Nadelstichverletzung
Nadelstichverletzungen sind alle Arten von Stich-, Schnitt- und Kratzverletzungen an der Haut bzw. der Schleimhaut (Mund, Nase und Augen), die durch Patientenmaterial (Blut, Speichel oder andere Körperflüssigkeiten) kontaminiert beziehungsweise verunreinigt werden. Diese Verletzungen entstehen in den meisten Fällen durch die Tätigkeit mit spitzen bwziehungsweise scharfen Gegenständen, welche bei der ärztlichen Behandlung im medizinischen Alltag verwendet werden1–5,7–9. Diese Arten von Verletzungen gehören zu den häufigsten Übertragungswegen für durch Blut übertragbare Infektionen beim medizinischen Personal10,11.
Infektionsgefahren
Das Infektionsrisiko von Stichverletzungen steigt, wenn sich im Patientenblut oder dessen Speichel Krankheitserreger befinden. Die hierdurch entstehenden Infektionen können sich bei den Betroffenen zu einer langwierigen chronischen Erkrankung mit hohem Schweregrad entwickeln2,12. Bei jedem zweiten Arbeitsunfall im Gesundheitsbereich waren kontaminierte Instrumente die Auslöser13. Die größte Infektionsgefährdung liegt im Blut von Patienten. Das Risiko durch die Kontaminierung mit Speichel wird als deutlich geringer eingestuft14,15.
Die Wahrscheinlichkeit einer Infektionsgefahr infolge einer Stichverletzung ist von folgenden Faktoren abhängig3,6,8–10,14,16–18:
- Immunstatus des betroffenen Mitarbeiters,
- Anwendung von prophylaktischen Schutzmaßnahmen (zum Beispiel Impfung),
- Art der Verletzung (zum Beispiel Verletzungstiefe),
- Menge des übertragenen Bluts,
- Prävalenz der blutübertragbaren Erreger,
- Virulenz des Erregers,
- Infektionsstatus des Patienten,
- Übertragungswahrscheinlichkeit,
- Zeitdauer zwischen Verletzung und Wundreinigung,
- Verfügbarkeit von Impfstoffen oder PEP,
- Zeitintervall zwischen Stichverletzung und PEP.
Infektionsrisiken
Statistisch gesehen sind Ärzte die Personengruppe, die das höchste Risiko einer Stichverletzung trägt. Nach empirischen Untersuchungen haben sich durchschnittlich 49,9–55,8 Prozent der befragten Ärzte mindestens einmal im Jahr durch einen Stich beziehungsweise Schnitt verletzt2,7,10,19. Bei der Befragung aller medizinischen Mitarbeiter gaben dagegen nur 31,4 Prozent an, derartige Verletzungen erlitten zu haben19.
Das Risiko, eine Infektion im Rahmen einer Stichverletzung zu erleiden, ist unterschiedlich hoch. In diesem Zusammenhang erweisen sich vor allem die Erreger von HBV, HCV und HIV als die größten viralen Gefährder. Dabei ist das prozentuale Risiko einer Infektionsübertragung infolge einer Stichverletzung unterschiedlich2,4,8,10,13–15,17,20:
- bei HBV – ca. 30 Prozent,
- bei HCV – ca. 3 Prozent,
- bei HIV – ca. 0,3 Prozent.
Neben Viren können weitere Erreger während einer Stichverletzung übertragen werden (Tab. 1), wobei das Infektionsrisiko bei Mikroben als „niedrig“ einzustufen ist10,21.
Darüber hinaus wird die Infektionsgefahr durch die Schnitttiefe der erfolgten Verletzung (beispielsweise die Eindringtiefe eines kontaminierten Drahts) erhöht. Das Infektionsrisiko wird weiter erhöht, wenn der verletzende Gegenstand blutverschmiert ist2,3,10,14. Daher ist die regelmäßige makroskopische Säuberung der Instrumente im Verlauf einer zeitaufwendigen Behandlung anzuraten.
Infektionsrisiko für Patienten
Die Infektionsgefahr besteht für Patienten gleichermaßen, wenn diese durch infizierte Behandler oder mit unzureichend sterilisiertem Instrumentarium behandelt werden15. Die Wiederverwendung von unvollständig gesäuberten, desinfizierten und sterilisiertem Behandlungsmaterial an unterschiedlichen Patienten birgt ein erhöhtes Gefährdungspotenzial. In der Kieferorthopädie ist der wiederholte Einsatz von Strippingmaterialien und Bohrern an unterschiedlichen Patienten als Risikofaktor für Infektionsübertragungen hervorzuheben. Das sogenannte „Single Use“-Gebot der Hersteller von Dentalmaterialien, insbesondere von Brackets und Bändern, ist zu beachten.
Prophylaxe nach Stichverletzung
Direkt nach einer Stichverletzung sollte der Verletzte eine Reinigung seiner Wunde noch in der KFO-Praxis vornehmen lassen. Die Versorgung kann entweder durch ihn selbst oder einen Kollegen erfolgen. Der initiale Versorgungsablauf nach einer Stichverletzung oder einer Kontamination der Haut beziehungsweise Schleimhaut ist unverzüglich nach dem Arbeitsunfall vorzunehmen (Tab. 2). Nach dieser Erstversorgung ist es ratsam, sich zeitnah beim Betriebsarzt, Facharzt für Arbeitsmedizin eziehungsweise dem D-Arzt vorzustellen und die PEP entsprechend dem Infektionsrisiko einzuleiten2,9,17,22. Unter dem Begriff D-Arzt (Durchgangsarzt) ist der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie mit Zusatzbezeichnung „Spezielle Unfallchirurgie“ oder Facharzt für Chirurgie mit der deutschen Schwerpunktbezeichnung „Unfallchirurgie“ zu verstehen4,23,24.
Die unverzügliche PEP ist anzuraten, da ein effektiver Therapiebeginn beispielsweise gegen HIV innerhalb der ersten zwei Stunden nach der Exposition erfolgen sollte und nur maximal bis 72 Stunden nach der Infektion medizinisch sinnvoll ist (Tab. 3)2–5,14. Wissenschaftlich nachgewiesen ist, dass Postexpositionsprophylaxen nach Stichverletzungen durchschnittlich innerhalb von 1¼ bis 2½ Stunden durchgeführt werden1,11. Dabei hat sich gezeigt, dass die Behandlung von Verletzungen, bei denen bekannt ist, dass der Patient an einer infektiösen Krankheit leidet, nicht schneller eingeleitet werden als bei Patienten mit unbekanntem Infektionsstatus1.
Nach der Erstbehandlung eines durch eine Stichverletzung infizierten Kieferorthopäden, seines Mitarbeiters oder des Patienten, ist es unerlässlich, Folgeuntersuchungen vorzunehmen, um einer Ausbreitung der Infektionenbeziehungsweise nachträglichen Infektionsübertragungen frühestmöglich vorzubeugen. Das frühzeitige Erkennen einer möglichen Infektion ist wichtig für die Einleitung von nachfolgenden Behandlungen, sodass eine vollständige Genesung des Verunfallten zu erwarten ist1,23. Nicht nur für den verletzten Kieferorthopäden (exponierte Person), sondern auch für einen potenziell infizierten Patienten gelten diese Maßnahmen3,14.
Häufigste und schwerwiegendste Infektionsrisiken
Hepatitis B
Wenn die verunfallte Person vorbeugend gegen HBV geimpft wurde und einen aktuellen Impfschutz (= Titerwert) besitzt – ist keine PEP notwendig. Bei unklarem Impfschutz sollte der Verletzte schnellstmöglich (innerhalb von 48 Stunden2,15) mittels aktiver und passiver Immunisierung geschützt werden2,11,14,15,25.
Hepatitis C
Bei diesen Arbeitsunfällen ist keine PEP möglich2,3,13. Damit eine HCV-Übertragung festgestellt werden kann, sollte ein HCV-RNA-Test (Polymerase-Kettenreaktion, PCR) zunächst zwei bis vier Wochen nach der Exposition erfolgen und zur diagnostischen Sicherheit nach sechs bis acht Wochen wiederholt werden. Diese Untersuchung ermöglicht eine frühzeitige Infektionserkennung und führt zu einer umgehenden
Therapie2,3,11,14,17,25.
Sofern eine Infektion durch die oben erwähnte Vorgehensweise festgestellt wird und entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden, kann eine Chronifizierung durch die rechtzeitige antivirale Therapie in mindestens 90 Prozent der Fälle verhindern werden4,10,14,17.
HIV-Infektion
Hierbei sollte die PEP innerhalb von zwei Stunden erfolgen2–4,26. Die Forschung zeigt, dass sich HIV binnen zwei Stunden an die Wirtszelle anlagern und sich die virale Nukleinsäure innerhalb von zwölf Stunden in das zelluläre Genom integriert. Danach können sich während der nächsten zwölf Stunden die ersten neuen Viruspartikel bilden3.
Klinische Komplikationen nach Stichverletzungen
Durch eine Verletzung mit verunreinigten beziehungsweise kontaminierten kieferorthopädischen Instrumenten wie zum Beispiel Drahtbögen und -ligaturen besteht nicht nur ein Infektionsrisiko mit den oben erwähnten viralen und bakteriellen Krankheiten. Darüber hinaus können sich derartige Verletzungen in unmittelbar eintretenden klinischen Symptomen äußern. Besonders bei Patienten mit langfristig unzureichender Mundhygiene oder bei Patienten, die an chronischer Gingivitis beziehungsweise Parodontitis leiden, sind derartige Risiken ernst zu nehmen. In diesem Zusammenhang können innerhalb der ersten Stunden bis Tage nach der Stichverletzung folgende Symptome und Beschwerden auftreten:
- lokale Überwärmung und Hautrötung,
- ödematöse Schwellung und Schmerz,
- Einschränkungen der Beweglichkeit (zum Beispiel des Fingers),
- aufsteigende Beweglichkeitseinschränkung (zum Beispiel Sehnenscheidenentzündungen),
- Phlegmone, sich ausbreitende Entzündung (zum Beispiel. Abszess, Paronychie, Panaritium).
Derartige Symptome führen, je nach Verlauf, zu einer chirurgischen Revision, gegebenenfalls können dabei antibiotische und antiphlogistische Medikationsmaßnahmen erforderlich werden22.
Langfristige medizinische Risiken für Verunfallte
Außer den lokalen und zeitnahen Konsequenzen der Stichverletzung sind langfristige Folgen derartiger Arbeitsunfälle zu bedenken. Hierbei können sich nachstehende Krankheiten auf das alltägliche Leben des medizinischen Personals bezeihungsweise der Patienten auswirken2,4,8,22,27,28:
- langfristige Physiotherapie (zum Beispiel Finger, Hand),
- dauerhafte Bewegungseinschränkungen,
- ausgeprägte Gelenk- und Kopfschmerzen,
- Unfähigkeit zur Schwangerschaft durch Dauermedikation,
- Einschränkung der Arbeitsfähigkeit,
- Depression durch Berufsunfähigkeit,
- Leberzirrhose und Leberzellkarzinom nach chronischer Hepatitis,
- Aids, Sepsis und Folgeerkrankungen.
Schlussfolgerung
Stichverletzungen an den Fingern durch kieferorthopädische Apparaturen gehören zu den häufigsten berufsbedingten Unfällen in KFO-Praxen. Die Verletzungsgefahr durch scharfkantige Materialien im Patientenmund ist hoch und kann durch die üblichen persönlichen Schutzeinrichtungen wie Handschuhe und Mundschutz nicht vollständig vermieden werden. Alle Stichverletzungen sollten daher zeitnah direkt in der KFO-Praxis gereinigt, versorgt und dokumentiert werden. Der Verunfallte und der versorgte Patient sollten eingehend bezüglich bestehender Infektionen (insbesondere Infektionen mit Hepatitis- und HI-Viren), Impfschutz, Blutungsneigung, aktueller Medikation etc. befragt werden. Die langfristigen medizinischen Komplikationen von Stichverletzungen können zu erheblichen gesundheitlichen und beruflichen Einschränkungen führen.
Ein Beitrag von Katarzyna Strzyz und Prof. Dr. Robert A. W. Fuhrmann, beide Halle (Saale)
Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de