Forscher am Biozentrum der Universität Basel und aus Österreich haben ein neues Modell entwickelt, das einen ganzheitlichen Blick darauf wirft, wie unser Gehirn lernt und bleibende Erinnerungen schafft. Die Studie beleuchtet, wie sich benachbarte Kontaktstellen von Nervenzellen gegenseitig beeinflussen. Dies ist für die Anpassungsfähigkeit des Gehirns an neue Erfahrungen entscheidend.
Im Jahr 1949 beschrieb der kanadische Psychologe Donald O. Hebb, dass die Verbindungen zwischen Nervenzellen im Gehirn stärker werden, wenn die Zellen zur gleichen Zeit aktiv sind. Die verstärkten Verbindungen (Synapsen) wiederum erleichtern die Signalübertragung. Lernen und Erinnern beruhen auf ebenjener Fähigkeit des Gehirns, die Verbindungen zwischen den Nervenzellen je nach Nutzung anzupassen.
Gegenseitigen Abhängigkeit der Synapsen
„Lange Zeit ging man davon aus, dass sich vor allem nur die Nervenverbindungen anpassen, die in direktem Kontakt miteinander sind“, erklärt Dr. Everton Agnes vom Biozentrum, Universität Basel. „Interessanterweise beeinflussen Synapsen, die sich verändern, auch die Synapsen in ihrer Nachbarschaft.“ Dieses Zusammenspiel lässt sich aufgrund seiner Komplexität nur schwer experimentell untersuchen. Gemeinsam mit Prof. Dr. Tim Vogels vom Institute of Science and Technology Austria hat Agnes ein theoretisches Modell entwickelt, um dieser gegenseitigen Abhängigkeit auf den Grund zu gehen. Die Arbeit erschien nun in Nature Neuroscience.
Synaptische Plastizität: Die Lernmethode unseres Gehirns
Jeder kennt es vom Sprachen lernen: Wenn wir uns neue Vokabeln immer wieder anschauen, können wir sie uns besser merken. Das liegt daran, dass die Nervenzellen, die diese Informationen verarbeiten, sich mit der Zeit stärker verdrahten. Die Anpassung an die Nutzung, sei es eine Stärkung oder Schwächung der Verbindungen zwischen Neuronen, nennt man synaptische Plastizität. Indem sich die Nervenzell-Netzwerke ständig verändern, können neue Informationen gespeichert und unwichtige wieder gelöscht werden. Dies ist die Grundlage allen Lernens.
Benachbarte Synapsen beeinflussen sich gegenseitig
Die Neuronen kommunizieren über anregende und hemmende Synapsen miteinander. So leiten erregende Synapsen ein Signal weiter, hemmendende dagegen blockieren die Signalübertragung. „Die beiden Synapsen-Typen agieren jedoch nicht unabhängig voneinander, vielmehr beeinflussen sich benachbarte Synapsen gegenseitig und passen die Stärke und Stabilität ihrer Verbindungen an“, sagt Agnes. „Mit unserem Modell konnten wir beispielsweise zeigen, dass Interaktionen zwischen benachbarten erregenden Synapsen bestimmen, wie stark die Verbindung ist. Dies steuert, wie Erinnerungen abgespeichert werden.“
Außerdem sorgen die hemmenden Synapsen dafür, dass die Veränderungen der erregenden Synapsen über die Zeit stabil bleiben. Dadurch können wir neue Informationen schnell verarbeiten und bereits aus Erfahrungen, die wir zum ersten Mal machen, lernen.
Ganzheitlicher Blick auf Dynamik neuronaler Netzwerke
Die Feinabstimmung zwischen benachbarten Synapsen ist sowohl für schnelles Lernen wichtig als auch für die Schaffung bleibender Erinnerungen. „Wir haben in unserem Modell eine Vielzahl von Regeln in Bezug auf den gegenseitigen Einfluss der Synapsen berücksichtigt“, betont Agnes. „Damit erhalten wir eine ganzheitliche Sicht auf die Mechanismen, die der Gehirn-Plastizität zugrunde liegen. Die Studie verdeutlicht den Einfluss nachbarschaftlicher Beziehungen und gibt neue Einblicke in die Dynamik und Optimierung von neuronalen Netzwerken im Gehirn.
Originalpublikation
Everton J. Agnes and Tim P. Vogels. Co-dependent excitatory and inhibitory plasticity accounts for quick, stable and long-lasting memories in biological networks. Nature Neuroscience (2024), doi: 10.1038/s41593-024-01597-4