Es ist gekommen, wie es zu erwarten war – alles andere hätte nach den hierzulande gemachten Erfahrungen mit dem parteipolitischen Betrieb die Bezeichnung Wunder verdient: Das GKV-Finanzstabilisierungs-Gesetz hat vergangene Woche die letzte parlamentarische Hürde genommen. Wobei Hürde eine sehr relative Bezeichnung für die seit Jahren choreographierten Pseudodiskussionen im höchsten deutschen Parlament ist.
Ein weiterer politischer Offenbarungseid
Was von außen wie ein politischer Erfolg für Gesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach und sein Ministerium wirkt, ist bei näherer Betrachtung die erneute Offenbarung für das Fehlen selbst eines Mindestmaßes an Problemlösungskompetenz. Erneut zeigt sich, dass die sogenannten Experten – selbst dann, wenn sie auf einen mehr oder minder veritablen wissenschaftlichen „track record“ blicken können – nicht fähig sind, erkannte Probleme nachvollziehbar zu definieren, zu bewerten und Lösungen im real existierenden Umfeld zu entwickeln. Von deren Umsetzung ganz zu schweigen.
Doch für jeden politischen „Erfolg“ ist ein Preis zu zahlen. Nur dieses Mal wird dieser für die Politik allem Anschein nicht mehr lautlos zu haben sein. Das liegt zum einen an der gesamtwirtschaftlichen Situation, die bei Verbrauchern wie Wirtschaft den finanziellen Manövrierraum bereits drastisch beschränkt. 10 Prozent Inflation, massive steigende Energiekosten etc. pp. bei angekündigten oder bereits erlebten Leistungseinschränkungen kommen da gar nicht gut.
Die Imbalancen im GKV-System steigen
Auf der anderen Seite ist die Imbalance im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu groß geworden, die Schere zwischen den von Politik und Kassen vorgesehenen Finanzmittel und den Anforderungen und steigenden Kosten bei den Leistungserbringer geht massiv auseinander. Wobei abseits der üblichen Schubladen unter Leistungserbringern nicht nur Ärzte, Zahnärzte und Apotheker zu verstehen sind, sondern auch Hebammen, Physiotherapeuten, Pflegende… Die Geringschätzung, die die Politik diesen Gruppen – jenseits von Balkonklatschen und erratisch verteilten Coronaprämien – offensichtlich entgegenbringt, wird ein Übriges tun.
Nomen est omen: die Defizitliste
Ja, auch Patienten sind unmittelbar betroffen. Dazu drei praktische Beispiele: Die Apotheker bezeichnen nicht lieferbare Arzneimittel als „defekt“, die entsprechenden Arzneimittel werden in einer sogenannten Defektliste geführt. Waren Lieferengpässe bis vor wenigen Jahren weitestgehend unbekannt, sind sie in diesem Jahr mit rund 500 derzeit nicht lieferbaren Arzneimitteln so hoch wie noch nie. Wir reden hier nicht von Spezialitäten, sondern von der Basisversorgung wie dem Schmerzmittel Ibuprofen oder Paracetamol-haltigen Fiebersäften für Kinder. Für manche der betroffenen Arzneimittel gibt es oft nur noch einen einzigen Anbieter. Viele der Hersteller, so ist mittlerweile ganz offen zu hören, wollen sich die in Deutschland extrem herunterregulierten Preise „nicht mehr antun“. Hier reden wir auch über kleine mittelständische pharmazeutische Unternehmen, bei denen es im Gegensatz zu den international aufgestellten pharmazeutischen Großkonzernen um Sein oder nicht Sein geht.
Angesichts erheblich steigender Kosten und unverändertem Leistungsumfang, aber gleichzeitig sinkenden Einnahmen spricht die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) ganz offen von Einschränkungen des Leistungsumfangs. Angesichts des Szenarios wäre jede andere Reaktion auch ökonomischer Selbstmord. Der von den Kassen vermutete wirtschaftliche Speck – O-Ton Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes „Den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten geht es finanziell noch nie so gut wie heute – trotz Pandemie“ – wird schneller abgeschmolzen sein, als diese glauben. Allzumal die Zusatzumsätze in der Pandemie nicht vom Himmel gefallen sind, sondern nur mit zusätzlichen Arbeitsaufwänden erreicht wurden.
Neupatientenregelung weg, aber Freigabe fürs Kiffen
Ob es wirklich zum Vorteil der Patienten sein wird, dass der Gesundheitsminister im Kampf gegen die Zwei-Klassen-Medizin die mit dem GKV-FinStG wieder entfallende Neupatientenregelung nun durch Zuschläge für schnellere Termine ersetzt, wird sich zeigen. Aus meiner Sicht ist mehr als fraglich, dass dieser „work around“ (ein Hilfsverfahren, das das eigentliche Problem nicht behebt, sondern mit zusätzlichem Aufwand seine Symptome umgeht) des Ministers wirklich zielführend ist. Wenn ja, war die bisherige Diagnose und Therapie der von Lauterbach detektierten Zwei-Klassen-Medizin schlichtweg falsch. Aber wen kümmerts, denn für vermehrte Glücksgefühle arbeitet der Gesundheitsminister(!) ja gleichzeitig hingebungsvoll an der Legalisierung von Cannabis.
Die KZBV sieht einen schwarzen Tag für die Prävention
Und auch für die Zahnmedizin geht das GKV-FinStG nicht ohne heftige Bremspuren ab. Dr. Wolfgang Eßer, Vorstandsvorsitzender der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), spricht angesichts der für 2023 und 2024 vorgesehenen strikten Budgetierung gar von einem schwarzen Tag für die Mund- und Allgemeingesundheit. Denn damit werden der präventionsorientierten Parodontitis-Therapie die zugesagten Mittel wieder entzogen. Auch wenn sozusagen in letzter Minute die Finanzmittel für die PAR-Behandlung von Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderung gerettet werden konnten – das Signal der Ampel hinsichtlich der präventiven Patientenversorgung ist eindeutig.
Für digitales Pannenchaos ist immer Geld vorhanden
Das waren nur drei Beispiele, in denen sich die Konzeptionslosigkeit der Gesundheitspolitik zu Lasten der Leistungserbringer und der Patientinnen und Patienten mal wieder offenbart. Doch für den Digitalisierungsunsinn ist immer Geld vorhanden. Um nicht missverstanden zu werden: Nicht die Digitalisierung ist Unsinn, sondern wie diese in Deutschland betrieben wird. Neueste Pointe in der unendlichen Geschichte der Pleiten, Pech und Pannen-Veranstaltung ist der anstehende Austausch der Konnektoren, für die geschätzte 400 Millionen Euro aufzuwenden wären. Während der Chaos Computer Club (CCC) nachweisen konnte, dass die existierenden Konnektoren sehr wohl ohne Austausch technisch aktualisiert werden könnten, sehen das Ministerium, die Gematik und der Hersteller/Vertreiber anders. Mit einer klitzekleinen Einschränkung: Die Gematik sagt nämlich, dass alle Lösungsmöglichkeiten, also auch die vom CCC aufgezeigte, den Gesellschaftern vorgestellt wurde. Diese hätten aber für den Austausch optiert.
Wie war das nochmal? Bei der Gematik ist das Bundesgesundheitsministerium Mehrheitsgesellschafter und damit letztlich Alleinentscheider. Und so ballert die Gematik in dieser für alle Beteiligten extrem schwierigen Situation mal eben 400 Millionen Euro Beitragsgelder raus. Immerhin kann sich die IT-Industrie die Lobbyisten sparen …
Die Kassenbeiträge könnten sinken, wenn …
Angesichts des finanziellen Desasters sollte das Gesundheitsministerium aufhören, von Sparen zu reden und ein vorhandenes Sparschwein zu suggerieren. Um das Leistungsgeschehen mit Einnahmen und Ausgaben in Deckung zu bringen, sollte der zuständige Minister endlich laut und öffentlich hörbar für Kostensenkungen und sinnvolle Einnahmenerhöhungen kämpfen. Jawohl: Kämpfen!
Und das beginnt auf der Kostenseite damit, die tiefe Hand von Bund und Ländern aus der Tasche der GKV zu zerren. Ob volle Mehrwertsteuer auf Arznei- und Hilfsmittel, die sich auf mehr als 30 Milliarden Euro summierenden versicherungsfremden Leistungen, die entgegen der gesetzlichen Regelung bundesweit unzureichenden oder fehlenden Krankenhausfinanzierungen (die Aufzählung ist nicht vollständig) – es mutet gegenüber den Beitragszahlenden angesichts der Probleme unverschämt an, wie die Politik wider besseres Wissen dem GKV System in die Tasche greift, um das Füllhorn politischer Sozialversprechungen oder „neuer“ Anspruchsgruppen zu bezahlen.
Auf der Seite der Einnahmeverbesserungen wäre eine Partizipation an den Steuereinnahmen für Tabak und Alkohol sinnvoll – im Übrigen eine Forderung der Kassen. Denn die Folgekosten fallen nun mal im Gesundheitssystem an. Bei dem geplanten Cannabislegalsierungsgesetz sollte der Gesundheitsökonom Lauterbach die Besteuerung jedenfalls gleich mit „einplanen“. Wenigstens hätte er dann ein verhandlungstechnisches Pfund gegenüber dem Finanzminister. Denn auch eine lange Bank ist endlich.
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.