Bürokratie soll ja auch gute Seiten haben. „Tatsächlich aber haben unsere klar geregelten Verwaltungsvorgaben mehr Vorteile, als wir ihnen gemeinhin zugestehen möchten. Denn Bürokratie gibt Sicherheit, sorgt für Gerechtigkeit, schafft – auch wenn Sie es vielleicht nicht wahrhaben wollen – Effizienz.“ (Capital).
Aber wie immer im wirklichen Leben verkehrt sich bei der politischen Suche nach mehr Gerechtigkeit und potenziellen Regelungslücken ein Zuviel des gut gemeinten (wirklich?) mehr oder minder schnell in das Gegenteil von Effizienz. Dieses kann man insbesondere im – an unterschiedlichen Interessenssphären und Handlungsfeldern reichen – deutschen Gesundheitswesen seit Jahren „bewundern“.
Der neue Klassenkampf: Gesetze als Populismuspflaster
Mittlerweile jagt ein neues Gesetz das nächste und ein jedes dieser unausgegorenen Machwerke zieht neue Vorschriften und Regelungen samt deren Auslegungen nach sich. Und noch mehr sollen folgen. Während somit die Vielzahl und Unübersichtlichkeit der Regelungen steigt und steigt, will die deutsche Politik parteiübergreifend das Zuviel tatsächlich auch mal wieder abbauen. Das geschieht – typisch Deutschland – natürlich nicht nur in Gestalt diverser Kommissionen und Räte, sondern in Form von Bürokratieentlastungsgesetzen, derer drei bereits 2015, 2017, 2020 vom Stapel gelassen wurden. „Finde den Fehler“, kann man da nur resignierend feststellen.
Karl Lauterbach, der bessere Daniel Düsentrieb
Wie man ein funktionierendes Gemeinwesen nach dem Empfinden vieler Heilberufler endgültig an den „tipping point“ – gleichbedeutend mit dem deutschen und derzeit sehr populären Drei-P-Wort „Kipppunkt“, also dem Moment, an dem Entwicklungen auch durch Gegenmaßnahmen nicht mehr aufgehalten werden können – bringen kann, macht derzeit Karl Lauterbach als Gesundheitsminister vor. Von der Suche nach substanziellen Einsparungen im GKV-System getrieben, spannt sich sein Handlungsfeld von der Entkriminalisierung bestimmter Drogen, einer ihren Namen auch verdienenden Digitalisierung bis hin zur Krankenhausreform. Zwischendurch noch schnell ein ideologisches Highlight setzen und die Gesundheitskioske als neue „Below the line“-Versorgungsebene einführen und die Arzneimittelversorgungssicherheit verbessern. Und so weiter und so fort.
Fristen und Sanktionen, um Schuldige präsentieren zu können
Bereits die mit den jeweiligen Gesetzen verbundenen Fristen und Sanktionen sind fern von jeder realistischen Umsetzung. Warum auch, sind sie doch auch vor allem dazu da, die handwerklichen Fehler der vielfach ideologisch getriebenen Gesetzeskompositionen zu kaschieren, und um Schuldige öffentlichkeitswirksam präsentieren zu können. Was sehr viel, wenn nicht alles über den Umgang mit denen aussagt, die den ganzen Laden am Laufen halten. Wertschätzung ist es jedenfalls nicht.
Digitalisierung keine Lösung für unausgegorene Gesetze
Überregulierung zeichnet sich dadurch aus, dass die Vielzahl der Regeln die Fehlertoleranz minimiert, während die Aufwände zum Erreichen des Ziels maximiert werden. Der vielbeschworenen Effizienz und Effektivität sind solche Systeme abhold. Diese werden in schöner Regelmäßigkeit mit dem Ruf nach mehr Digitalisierung herbeiphantasiert. Der Stand der Digitalisierung im Gesundheitswesen beweist jeden Tag aufs Neue, dass sie kein Heilmittel für unausgegorene Gesetze sein kann.
ALBVVG ein regelungstechnischer Super-Gau?
Das gilt auch für Lauterbachs neueste Kreation aus der Gesetzesküche des BMG mit dem vielsagenden Akronym namens ALBVVG. Es handelt sich hier nicht um ein neues Versicherungsvertragsgesetz (VVG), sondern um das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG), welches am 26. Juli 2023 in Kraft getreten ist. Das Deutsche Apothekenportal (DAP) beschreibt es so: „Das neue Gesetz bringt viele Änderungen in diversen Gesetzestexten mit sich, die sich nur schwer nachvollziehen lassen“. Unter anderem weil die Änderungen in die Regelkreise des Arzneimittelgesetzes, SGB V, die Apothekenbetriebsordnung, Arzneimittelpreisverordnung und das Heilmittelwerbegesetz eingreifen. Und zudem noch zu unterschiedlichen Zeitpunkten in Kraft treten.
Apotheken im Retaxierungsschwitzkasten
„Viel Spaß beim Programmieren“ kann man da den betroffenen Apotheken und Softwaredienstleistern nur zurufen – und das Softwareupdate bitte bis Ende nächster Woche einspielen. Sonst bricht bei den Krankenkassen nicht nur das Überwachungschaos, sondern auch endgültig die Panik aus, dass sich die Apotheken aus dem jahrelang bewährten Schwitzkasten namens Retaxierung entwinden könnten. Und für diesen sinnbildlichen Schwitzkasten halten sich die GKV-Kassen spezialisierte Dienstleister (Tochterunternehmen und privatwirtschaftliche Dienstleister), die nichts anderes tun, als das jährliche Volumen von rund 470 Millionen Rezeptblättern mit ca. 820 Millionen einzelnen Verordnungen (Der GKV-Arzneimittelmarkt: Klassifikation, Methodik und Ergebnisse 2021; Wissenschaftliches Institut der Ortskrankenkassen – WidO) auf mögliche Regelabweichungen zu flöhen. Und der Fehlerquellen gibt es viele. Die häufigsten Gründe für Retaxierungen sind Missachtungen der Rabattverträge, fehlende Arztunterschriften oder Gültigkeitsüberschreitungen. Näheres zu diesen Finessen findet man beim Deutschen Apothekenportal.
Retaxationen als Einnahmequelle der Kassen?
Nun ist Retaxierung im Prinzip nichts anderes als der Regress bei Ärzten oder Zahnärzten, nur noch ein wenig absurder. Denn die Apotheker haften sogar für Fehler Dritter, nämlich die der Rezeptausteller – bis hin zur sogenannten Nullretaxierung. Will heißen: Die Krankenkasse fordert nicht nur das Honorar zurück, sondern erstattet auch nicht das an den Patienten abgegebene Präparat. In der „Deutschen Apotheker Zeitung“ 26/2023 hieß es dazu: „Den Verdacht, dass die Kassen es als lukratives Geschäftsmodell betrachten, die ordnungsgemäße Versorgung ihrer Versicherten, indem sie auf Null retaxieren, einfach nicht bezahlen, haben Apotheken schon lange“.
Ein „Nein“ statt Versorgung ist ökonomischer
Dieser Verdacht liegt durchaus nahe. Oder wie soll es sonst verstanden werden, wenn in Zeiten der Lieferengpässe der Apotheker das tut, wofür er da ist – nämlich den Patienten auch dann mit den vom Arzt verordneten Wirkstoffen zu versorgen, wenn das verordnete Medikament nicht lieferbar ist – und dafür mit Nullretaxierungen belohnt wird? Weil zum Beispiel auf dem Rezept die Dosierung fehlte. Wofür dann der erhebliche Mehraufwand für das Rezepturarzneimittel? Die Antwort eines Heilberuflers lautet: Um den Patienten, immerhin Versicherte einer Krankenkasse, mit einem verschriebenen Arzneimittel zu versorgen. Ein „Nein“ gegenüber dem Versicherten wäre ökonomischer gewesen. Auch weil Lieferengpässe, wie wir sie in der nahen Vergangenheit erlebt haben, in den Abrechnungssystemen nicht vorgesehen sind.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Kassen in jedem Arzt, Zahnarzt und Apotheker zunächst einmal einen potenziellen Betrüger sehen. Früher nannte man das „Klassenfeind“. Wenn selbst in öffentlich bekannten und im Parlament diskutierten Notsituationen die situationsgerechte und zielorientierte Flexibilität Monate später mit Nullretaxierungen oder Honorarabzügen „belohnt“ wird, liegt der Schluss nahe, dass (frei nach Shakespeare) „etwas faul ist im Staate Dänemark“.
Rabattsparen statt Arzneimittelsicherheit
Halten wir fest: Gegen das Aufweichen der Retaxierungsregeln im Sinne der Versorgungssicherheit der Bevölkerung sind die Kassen Sturm gelaufen – mit dem Argument, dass vier Milliarden Euro Einsparpotential aus den Rabattverträgen gefährdet seien. Der Vorstandschef des BKK-Dachverbands, Franz Knieps, sah in dem Entgegenkommen Lauterbachs gegenüber den Apothekern gar den heiligen Gral des Wirtschaftlichkeitsgebots gefährdet. Ob es so weit kommt, soll eine Evaluierung der Neuregelung bis Ende 2024 zeigen. Wer evaluiert? Natürlich der GKV-Spitzenverband – wer sonst.
PS: Wenn das Cannabisgesetz dereinst in Kraft treten sollte, werden in den Kassenzentralen die Sektkorken knallen. Denn dann würde auch die BtM-Verschreibungspflicht für Cannabisblüten fallen und damit die erhöhte Rezeptvergütung der Apotheker in Höhe von immerhin 4,32 Euro. Und zack – wieder Geld gespart! Also der Lauterbach ist doch ein Teufelskerl …
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.