Hätte man dieses je für möglich gehalten? „Leyck-Dieken: Lauterbach ist in love with Gematik“. Bei diesem echten Überschriften-Highlight hatte ich lauthals gelacht und mich gefragt, was den Gematik-Chef dazu bewegt haben könnte, sich in der Öffentlichkeit derartig zu äußern. Freundliche Annäherung, weil er seinem Minister bei dessen „verfügten Stopp“ für das E-Rezept verbal rüde in die Parade gefahren war?
Nichts von alledem, denn wer in der vergangenen Woche die Keynote des Bundesgesundheitsministers Prof. Dr. Karl Lauterbach anlässlich der Digitalmesse „DMEA – connecting digital health“ in Berlin gehört hat, weiß nun um die real existierenden Abhängigkeiten. Und wer hier wen führt.
Strategie-Gesetz im Sommer
In einer 18-minütigen Rede vor den Teilnehmern der DMEA, vormals conhIT, führte der Minister und Schirmherr der Veranstaltung aus, warum es seiner Meinung nach für das deutsche Gesundheitswesen keine Digitalstrategie gebe. Und dass es dafür endlich ein Strategie-Gesetz brauche, welches noch im Sommer mit sämtlichen Stakeholdern konkret diskutiert werden solle. Seine in vielerlei Hinsicht erschreckenden Ausführungen, zu sehen auf Youtube, sind die investierte Zeit allemal wert. Spätestens danach ist einem klar, warum mit dieser Politik Verbesserungen der Telematikinfrastruktur (TI) ein frommer Wunsch bleiben werden.
Erpressung per Gesetz und ritualisierte Geldverbrennung
Da werden seit fast zwei Jahrzehnten enorme Summen aus Steuer- und Versichertengelder aufgewendet, zig diesbezügliche Gesetze aufgegleist, die Leistungserbringer mit Honorarabzügen bedroht und mit erpresserischen Terminsetzungen unter enormen Druck gesetzt, um den Vorstellungen des Gesetzgebers hinsichtlich der gewünschten Digitalisierung namens Telematikinfrastruktur zu genügen – und dann das: Wir haben, so Karl Wilhelm Lauterbach, Mediziner, Gesundheitsökonom und Politiker, keine Strategie für die Digitalisierung des Gesundheitswesens! (Das ist nun aber auch nicht neu, schon die Expertenkommission Forschung und Innovation hatte dies in ihrem Jahresgutachten kürzlich kritisiert.)
Aber wenigstens ein Ziel, welches die bisherigen Aufwendungen – man könnte auch sagen ritualisierte Geldverbrennungen – rechtfertigen würde? Weil es sonst doch ein grundsätzliches Problem gäbe, überhaupt eine Strategie zu entwickeln.
Strategie ist, wenn man weitermacht wie bisher
Gemäß den Lauterbach‘schen Ausführungen ist es so, dass es neben einer Struktur auch eine neudeutsch genannt positive „Customer experience“ braucht, um eine Strategie aufsetzen zu können. Und so lernt man von Professor Lauterbach, dass es Strategie ist, wenn man so weitermacht wie bisher. Was bedeutet, all die bereits begonnenen Digitalprojekte erst einmal zu Ende zu bringen. Wie das E-Rezept, dessen Rollout im Sommer 2022 starten soll. Denn man sei sehr zuversichtlich, die bis dahin die geforderten 30.000 Transaktionen realisiert zu haben. Das entspricht zwar nicht einmal dem Output eines Vormittags ärztlicher Arbeit, aber immerhin knapp die Hälfte der deutschen Hausärzte hätte dann wenigstens ein E-Rezept ausgestellt. Breite Testung ist eh überschätzt, sei es drum.
Was fehlt noch zur Strategie? Richtig, die positive „Customer experience“. An dieser Stelle seien deshalb seine einleitenden Worte zitiert. „Es ist grundsätzlich so, das deutsche Gesundheitswesen lässt sich nicht weiterentwickeln, ohne dass wir einen strategischen Ausbau der Digitalisierung verfolgen. Das ist eine Voraussetzung dafür, dass das deutsche Gesundheitswesen moderner und auch besser wird“. Moderner und besser – was immer das heißen mag. Und: Digitalisierung müsse auch erlebbar werden. So habe seiner Ansicht nach die Pandemie auch etwas Gutes gehabt, denn viele hätten die Corona-Warn-App, Impfzertifikate oder QR-Codes zum ersten Mal genutzt. Eben erlebt.
Falsches Bild von der realen Digitalisierung in Kliniken und Praxen
Die Pandemie habe auch zu einem Digitalisierungsschub in den Krankenhäusern geführt, das KHZG (Krankenhauszukunftsgesetz) sei, so wörtlich, „so etwas wie ein Senkrechtstart in die Digitalisierung hinein und wird digitale Anwendungen wie digitale Dokumentation, Medikationsmanagement und die digitalen Patientenportale massiv nach vorne bringen“. Diese Begründungen – Argumente mag man sie nicht nennen – beschreiben mit wenigen Ausnahmen den seit Jahren existenten Standard in Deutschlands Kliniken. Oder wie glaubt er, auf dessen politischen Mist das 2003 eingeführte DRG-Fallpauschalen-System maßgeblich gedieh, konnten die Kliniken Organisation ebenso wie Abrechnung managen?
Gleiches gilt für Deutschlands Zahnärzte und Ärzte. Auch diese müssen Digitalisierung nun wirklich nicht erleben: Sie arbeiten seit Jahrzehnten jeden Tag erfolgreich mit ihrer Praxisverwaltungssoftware. Und nur am Rande sei der Minister daran erinnert, dass nahezu 100 Prozent der in der vertragsärztlichen und -zahnärztlichen Versorgung Tätigen seit Jahren digital abrechnen.
Digitalisierung im Öffentlichen Gesundheitsdienst
Aber lassen wir unserem Minister sein medial gepflegtes Faible für Corona. Und in einem Punkt hat er ja auch Recht, denn erst durch die Pandemie „wurde der öffentliche Gesundheitsdienst von der Digitalisierung erfasst“. Denn: „Wir haben die Läden gesehen und sofort reagiert. Mit den 800 Millionen, die für das digitale Gesundheitsamt zur Verfügung stehen, wird auch der öffentliche Gesundheitsdienst in eine ganz andere Phase übergehen“. Immerhin bis 2025 soll das Ganze verwirklicht werden. Da kann man sich durchaus fragen, ob dieses Desaster politische Taktik oder gar Strategie war. Oder nur politische Blindheit – allerdings auf beiden Augen.
Digitalisierung = eine andere Medizin?
Doch zurück zur fehlenden Strategie, welche ja auch die primäre Botschaft der medialen Berichterstattung nach seiner Rede war. Zitat aus der Rede des Ministers: „Wir werden bis nach der Sommerpause einen Strategieprozess ausrollen. Meine persönliche Überzeugung ist die, dass wir in der Digitalisierung viel Technik, viele Anwendungen bereits haben, auch viel Infrastruktur schon aufbauen. Aber wir hatten aus meiner Sicht keine wirkliche gute Strategie. Wo wollen wir wann sein und was sind die Anwendungen, die zuerst einmal den Nutzern das Gefühl vermitteln, wir machen ja eine andere Medizin. Dass muss die Strategie sein. Wir haben zum jetzigen Zeitpunkt viel Taktik, viel Technik, viele Innovationen, wir haben aber keine übergreifende Strategie. Und eine solche Strategie soll in diesem Jahr geschaffen werden, und zwar mit allen Beteiligten […]“
Eine andere Medizin? Ist das die Strategie? Was Lauterbach damit genau meinte, wurde in seinen weiteren Ausführungen nicht so ganz deutlich. Die Pfleger müssten an die Infrastruktur angeschlossen werde, darüber hinaus müsse die digitale Identität ausgebaut werden, die digitale Sprechstunde. Die Teilnahme an digitalen Registern müsse möglich werden. Natürlich datenschutzrechtlich abgesichert.
„Wir müssen das vom Ende her denken, diesbezüglich bin mehr Arzt und Anwender als Digitalbuff. Mich interessiert die digitale Komponente stark, aber wenn ich das nicht vermitteln kann – was ist die Anwendung, was bringt mir das, in dem Sinne –, dann ist das nicht darstellbar“, so der Minister in der ihm eigenen Diktion. Zum Beispiel die elektronische Patientenakte, für ihn die digitale Kernanwendung, die „einfach eine ganz andere Qualität des Arbeitens“ ermögliche. Schließlich seien alle Befunde verfügbar und mittels Suchfunktion auch leicht auffindbar: „Denn wenn alles zusammenspielt, kommt eine neue Medizin zustande“. Aha.
Ich fürchte, dass mit diesem „Wissen“ auch eine neue Strategie nichts verbessern wird. Vielleicht sollte man es erst einmal mit einem Ziel versuchen. Dann weiß man seitens der Politik auch, was man nicht „tun“ will. Auch daraus ergibt sich gemäß dem amerikanischen Ökonomen Michael Porter das Wesen der Strategie.
Ohne eigene Strategie Teil der Strategie eines anderen
Ansonsten gilt nach dem US-amerikanischen Zukunftsforscher Alvin Toffler noch immer: „Wenn Sie keine Strategie haben, sind Sie Teil der Strategie eines anderen.“ Der Gematik-Chef Leyck-Dieken lässt grüßen, ist doch Lauterbach „in love with Gematik“. Ob die restlichen Gesellschafter das auch so fühlen?
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.