Wohin geht die Reise für die Zahnmedizin? Das diskutieren die Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft, Praxis, Professionsforschung und Standespolitik in ihren Beiträgen im Impulspapier „Orale Medizin – Die Zukunft der Zahnmedizin“, das Anfang April 2024 veröffentlicht wurde. Sie laden damit die Zahnärztinnen und Zahnärzte und die Dentalwelt dazu ein, die Thesen zu diskutieren und eigene Impulse einzubringen.
Wir dokumentieren die bei uns und auf den Social-Media-Kanälen des Quintessenz Verlags eingegangenen und für die Veröffentlichung freigegebenen Statements und Beiträge. Diskutieren Sie mit! Welcher Aspekt/welche Aspekte des Impulspapiers sind für Sie mit Blick auf die Zukunft der Zahnmedizin besonders stark? Welcher Aspekt/welche Aspekte fehlen Ihnen? Schreiben Sie uns an news@quintessenz.de unter dem Betreff „Impulspapier“.
Das Impulspapier „Orale Medizin – Die Zukunft der Zahnmedizin“ war in gedruckter Form den „zm – Zahnärztliche Mitteilungen“ vom 1. April 2024 beigelegt und kann außerdem online und kostenfrei auf der Website des Quintessenz Verlags gelesen beziehungsweise heruntergeladen werden.
Das Ziel ist gut begründet, der Weg dorthin aber unklar
„So geben die Initiatoren des Papiers abschließend Empfehlungen, die in ihren allgemeinen Formulierungen durchaus sinnvoll sind. Um jedoch konkreter zu werden und einen echten Impuls für die Zukunft unseres Fachgebietes zu setzen, bedarf es einer Diskussion weniger aus dem „hier und jetzt“. Vielmehr sollten tradierte Vorstellungen hinterfragt, Tabus nicht ausgeklammert und unter Darstellung der Vor- und Nachteile Positionen erarbeitet werden.
Die Zielsetzung mit dem Begriff der oralen Medizin ist klar umrissen und gut begründet. Der Weg dorthin auch unter dem Aufzeigen von insbesondere soziologischem Forschungsbedarf ist aber auch nach diesem Papier unklar.“
Prof. Dr. Dietmar Oesterreich, Stavenhagen
(Das vollständige Statement lesen Sie hier: „Das Ziel ist gut begründet, der Weg dorthin aber unklar“)
„Begeben Sie sich auf den Weg zum oralen Mediziner“
Die Stellungnahme von Kollege Noack zum Impulspapier Orale Medizin enthält eine Reihe wichtiger und richtiger Punkte und erschien mir beim ersten Lesen auch als Ganzes gut nachvollziehbar. Auch die Kernbotschaft „Schuster, bleib bei deinen Leisten“ kann ich zum Teil nachvollziehen.
Ich denke aber inzwischen, dass die Argumentationskette grundlegende Fehler hat: Den zentralen Einwand, dass Patienten eine neue Berufsbezeichnung nicht akzeptieren würden, halte ich für nicht stichhaltig: Patienten hätten meines Erachtens mit einer Umbenennung und einer Integration in die Medizin kein Problem. Sie würden ihren (neu benannten) Facharzt für orale Medizin weiterhin Zahnarzt oder auch Zahnklempner nennen. Zugleich wüssten viele Patienten zu schätzen, wenn ihre Ärztin oder ihr Arzt über fundiertes medizinisches Wissen verfügt und dieses – primär – für ihre orale Gesundheit nutzt. Von Karies und Prothesendruckstellen über Parodontitis bis zu Leukoplakie (Plattenepithelkarzinom?), Schlafapnoe, Sport-Oralmedizin und CMD. Und auch für Implantatchirurgie und Implantatprothetik.
Darüber hinaus nützt der – fachlich fundierte – Blick von Kolleginnen und Kollegen über den oralen Tellerrand den Patienten auf vielen Ebenen: So würden wichtige Überweisungen für orale Mediziner einfacher, zum Beispiel beim wichtigen Themenkomplex Diabetes und Parodontitis. Weiterhin bei den vielen Erkrankungen, die sich im Mundbereich äußern und von anderen Medizinern abgeklärt werden sollten (Xerostomie, Schluckbeschwerden, Schleimhautveränderungen mit Bezug zu allgemeinen Erkrankungen, seltene und syndromale Erkrankungen usw. usw.). Bisher können „Zahn“-Ärzte nur unverbindlich empfehlen, dass Patienten mal zum Dermatologen, Internisten oder zur Raucher-Entwöhnung usw. usw. gehen sollten. Von formalen Pflichten als Mediziner zumindest gefühlt befreit, bleiben Kolleginnen und Kollegen leider häufig bei ihren Leisten (Zähnen). Zumindest ist das meine Erfahrung im eigenen Umfeld (natürlich gibt es Ausnahmen).
Richtig ist sicher der Einwand von Kollege Noack, dass der Einfluss der oralen auf die systemische Gesundheit zum Teil (interessengeleitet) überbewertet wird. In der Forschung sind die Mittel knapp und der vermutete ätiologische Zusammenhang einer weiteren Erkrankung mit Bezug zu Parodontitis kann ja vielleicht für (potenziell sogar hilfreiche) Studien genutzt werden. Natürlich müssen wir genau hinsehen, wo wirklich Evidenz ist, und sollten die Kirche im Dorf lassen. Aber: Der Sonderstatus der Zahnmedizin ist trotzdem künstlich – und scheint mir mit Verlaub primär wirtschaftlich motiviert. Interesse am Sonderstatus haben sicher Mitarbeiter und gewählte Vertreter von kassenzahnärztlichen Vereinigungen, Kammern und Bezirksverbänden, von denen es in Deutschland unüberschaubar viele gibt.
Was würde aber eine Neuordnung für die niedergelassene Zahnärzteschaft bedeuten? Tatsächlich könnte es sein, dass aus einem Gesamt-Topf Medizin viele oralmedizinische Leistungen nicht mehr von den Kassen bezahlt werden. Das ist zunehmend schon jetzt der Fall und droht angesichts der Sparpolitik schlimmer zu werden. Härtefälle müssten weiterhin sozialrechtlich geregelt werden, alle anderen versichern sich privat (am besten über Zusatzversicherungen). Vielleicht besinnen sich dann noch mehr Menschen auf Prävention (PZR-Flatrate) und gehen zu denjenigen Praxen, die Prävention auch wirklich anbieten und fachgerecht umsetzen. Schöne und gerade Zähne als Privatleistung werden weiterhin sehr gefragt sein und können privat berechnet werden (siehe Ausland).
Leider gibt es bekanntlich für eine Neustrukturierung der Zahnmedizin zahlreiche Hindernisse. Diese betreffen rechtliche und administrative Aspekte, die mit Vorgaben zur Studienstruktur bis zur EU-Ebene reichen. Um diese Widerstände zu überwinden, wird viel Energie und Geduld notwendig sein, und noch mehr davon für eine Etablierung und Konsolidierung von Reformen, die aus Gründen der fachlichen Einsicht hoffentlich bald beschlossen werden. Gerade deshalb ist es jetzt für uns an der Zeit, Ziele zu formulieren und entsprechende Vorschläge zu machen, auch mit klaren Forderungen an Politik und „humanmedizinische“ Schwester-Organisationen. Wenn wir dies nicht konsequent tun – und über vorsichtig formulierte Wünsche für eine unbestimmte Zukunft hinausgehen – werden bis zu einer Integration möglicherweise noch einmal viele Jahrzehnte vergehen.
Abschließen möchte ich mit einem Appell an alle bisherigen „Zahn“-Ärzte und „Zahn“-Ärztinnen: Gehen Sie mit der Zeit und verstehen Sie sich als vollwertige orale Mediziner. Oder begeben Sie sich durch entsprechende Fortbildung auf den Weg dorthin. Darin liegt die Zukunft unseres Berufs.
Dr. med. dent. Jan H. Koch, Freising, zum Beitrag „Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler“ von Prof. Dr. Michael J. Noack
„Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler“
„Seit geraumer Zeit beschäftigt mich die Frage, in welche Richtung sich unser Berufsstand entwickeln sollte und welche Bezeichnung für uns angemessen und zukunftsfähig ist. Denn wir sind mehr als nur Zahnreparateure. Es ist jedoch nicht entscheidend, ob der Begriff uns oder anderen Medizinern gefällt, sondern ob er unseren Patienten gerecht wird. […]
Wir haben die zentralen Patientenbedürfnisse in der Forschung in den vergangenen Jahren vernachlässigt und uns stattdessen darauf konzentriert, unsere Relevanz innerhalb der medizinischen Disziplinen zu betonen. Dabei erfahren wir im praktischen Alltag alle, wie viel Anerkennung wir erhalten, wenn wir „Zahnschäden“ rekonstruieren – wobei auch die parodontale Gesundheit eine entscheidende Rolle für die Zahnerhaltung spielt.
Wird der Begriff „Orale Medizin“ dazu führen, dass wir die von unseren Patientinnen und Patienten gewünschte Kernkompetenz „Zahnerhaltung“ in Verbindung mit Maßnahmen zur Förderung des Wohlbefindens endlich wieder in den Mittelpunkt stellen? Leider ist es sehr fraglich, ob dies zu einer optimierten, intuitiv erfassbaren Arzt-Patienten-Kommunikation führen wird.
Oder einfach gesagt: Wir brauchen kein zusätzliches Marketing, das suggeriert, dass das Herz nach einer PAR-Behandlung besser schlägt. Die Patienten sind bereits hochzufrieden, wenn sie weiterhin im selben Raum wie ihre Zähne schlafen können – im Idealfall bis zum Lebensende.“
Prof. Dr. med. dent. Michael Noack, Köln
(Das vollständige Statement lesen Sie hier: „Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler“.)
Die Wahrnehmung der Patienten zur Zahnmedizin nicht vergessen
Mit großem Interesse habe ich das Impulspapier rund um die Mundgesundheit gelesen. Seit Gründung meiner Praxis vor 30 Jahren sind nun mehr als 14.000 Menschen zwischen drei und 103 Jahren von mir behandelt worden. Interfamiliär spielt die Zahnheilkunde seit 1895 eine generationsübergreifende Rolle.
Vor diesem Hintergrund erlaube ich mir die Feststellung, dass in keinem der Beiträge auf die aktuelle Wahrnehmung der Patienten zur Zahnmedizin eingegangen wird. Wir betrachten das Munduniversum immer durch die akademische Brille. Wie viele Kollegen holen die Menschen bei ihren Emotionen ab? Gibt es eine standardisierte Kommunikation „Zahnarzt-Deutsch/Deutsch-Zahnarzt“? Wer hat sich nicht schon beim Anblick eines multimorbiden Befundes gefragt, was in einem Menschen vorgeht, der offensichtlich so wenig Eigenwahrnehmung hat?
Das Bild der KI bringt es auf den Punkt. Im klassischen Lätzchen-Style hoffnungslos reizüberflutet. Seit Herr Blüm Zahn- und Ärzte als Leistungserbringer einstuft, ist in der öffentlichen Wahrnehmung nicht viel passiert. Andererseits hat die Prävention wohl kaum eine medizinische Fachrichtung so konsequent implementiert.
Was ist also meine Anregung? Eine radikale Neuausrichtung würde ich am ehesten so umschreiben: Vom Zahnarzt zum Mundgesundheits-Coach. Wir haben es in der Hand, das Körperbewusstsein neu zu definieren. Der Patient hat eine Mannschaft von 28 Spielern plus im besten Fall vier auf der Reservebank. Er trägt die Verantwortung, nicht die zahnärztliche Praxis. Wir bieten im Gegenzug alters- und risikoabhängige Trainingsprogramme an, die natürlich auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. So kommen wir aus dem Dilemma raus, unsere Leistungen nach den Budgets auszurichten. Natürlich gibt es leistungsbezogen das Sponsoring durch GKV und PKV. Nicht Einzelleistungshonorierung, sondern Zielhonorierung. Mundgesundheit individuell definiert.
Es gibt einen zeitlosen Spruch, der auch in der Medizin gilt: „Der Köder muss dem Fisch schmecken“. Was nutzen im Alltag die fundierten Therapiekonzepte, wenn die Patienten kein „Warum“ für ihre Verhaltensänderung erkennen und in alte Gewohnheiten zurückfallen.
Hand auf‘s Herz: In den sozialen Medien machen es uns einige Protagonisten vor. Aufklärung und Patientenselektion finden heute schon durch geschickte Marketingkonzepte statt. Als Arzt ist man aber in meiner Wahrnehmung nicht nur den interessierten, kaufkräftigen Zielgruppen verpflichtet.
Heute gilt nicht „Entweder-oder“, sondern „sowohl als auch“. Wenn es uns aufgrund unserer physischen Nähe zum Menschen gelingt, Herz und Zahn zu berühren, kann eine neue Qualität der oralen Medizin gelingen. Für weitere konzeptionelle Fragen stehe ich gerne zur Verfügung.
Dr. med. dent. Detlef Schulz, Essen, Zahnheilkunst.de
Langfristige Vision kann nur vollständige Integration in die Medizin sein
„Das Impulspapier, oder besser die einzelnen Beiträge, beschreiben sehr gut aktuelle, zum Teil positive Entwicklungen in unserem Fachgebiet. Diese könnten tatsächlich zu einer ‚Neubeschreibung‘ führen, diesmal in Richtung mehr Medizin. Ich sehe allerdings nach wie vor die Gefahr, dass wir – zumindest in der Außenwirkung – irgendwo zwischen ‚Humanmedizinern‘ und Physiotherapeuten stehenbleiben werden.
In dem Dokument fehlt mir trotz vieler wegweisender Statements die konkrete langfristige Vision, die nur eine vollständige Integration in die Medizin sein kann. Diese muss alle akademischen und berufspolitischen Bereiche umfassen. Die EU ist da natürlich ein mächtiger Bremsschuh. Aber in der restlichen Welt sieht der strukturelle Rahmen ähnlich aus und bei ausreichend Willen auf beiden Seiten (orale und restliche Mediziner und Medizinerinnen) könnte perspektivisch sicher etwas geändert werden. Die letzte Bereitschaft, auch unter möglichen Kompromissen etwas zu bewegen, sehe ich allerdings in unserem Berufsstand auch mit dem neuen Impulspapier nicht.“
Statement von Dr. med. dent. Jan H. Koch, Freising