Die Verbreitung und auch der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) sind in den vergangenen Jahren sicherlich die wichtigsten Innovationstreiber im Gesundheitswesen. Die medizinische sowie die dentomaxillofaziale Radiologie (DMFR) sind in der Medizin beziehungsweise Zahnmedizin momentan die Fächer, in welchen KI-Möglichkeiten wohl am häufigsten erprobt und auch bereits im Einsatz sind. In der DMFR fokussieren die KI-basierten Algorithmen gegenwärtig auf vier Hauptanwendungen:
- die allgemeine Verbesserung der radiologischen Bildqualität,
- die automatische Erkennung von Zähnen und Implantaten einschließlich des rekonstruktiven Versorgungsgrads,
- die Diagnose dentaler und oraler Pathologien sowie
- die Lokalisierung anatomischer Orientierungspunkte für die kieferorthopädische Behandlungsplanung.
KI ist auch ein Promotor für klinisch-technische, das heißt vor allem rekonstruktive Arbeitsabläufe in der Zahnmedizin. Die derzeit prominentesten Bereiche sind dabei das „Rapid prototyping“ (RP) in Kombination mit „Intraoral optical scanning“ (IOS) und „Augmented reality“/„Virtual reality“ (AR/VR). Basierend auf einer wachsenden Menge von digitalen Gesundheitsdaten hat KI das Potenzial, die Routine-Workflows aller zahnärztlichen Disziplinen zu vereinfachen. Insgesamt kann die KI als Türöffner und treibende Kraft für die Entwicklung von der rein evidenzbasierten hin zur personalisierten Zahnmedizin gesehen werden. Eine Einordnung von Prof. Dr. Michael M. Bornstein und Prof. Dr. Tim Joda für die Quintessenz Zahnmedizin 9/2022.
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Einleitung und Begriffsbestimmung
Die Verbreitung und auch der Einsatz von künstlicher In-telligenz (KI bzw. im Englischen „Artificial intelligence“, AI) hat in den letzten Jahren im Gesundheitswesen deutlich zugenommen, was unter anderem auch in der breiten Öffentlichkeit durch eine konstante Medienpräsenz dieser Thematik wahrgenommen wird. KI umfasst dabei Technologien, welche es dem Computer bzw. Softwareprogrammen erlauben, auf der Basis von Algorithmen die Umgebung zu analysieren, menschliches Verhalten nachzuahmen und Aufgaben selbstständig zu lösen. Als einer der Pioniere in der KI gilt heute der britische Mathematiker Alan Turing (1912–1954), der schon in den frühen 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts die These aufstellte, dass Computer in der Zukunft wie Menschen denken könnten. Der sogenannte Turing-Test sollte dabei prüfen, ob ein Computer zu einem dem Menschen ebenbürtigen Denkvermögen fähig beziehungsweise auch die Maschine von einem menschlichen Wesen zu unterscheiden ist18.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und auch zu Beginn der 2000er-Jahre konnte die KI nicht wirklich in der Medizin Fuß fassen. Trotz einiger Höhnflüge kam es in der dieser Zeitperiode immer wieder zu Ernüchterungen und Enttäuschungen. Dies änderte sich erst grundlegend vor etwas mehr als einer Dekade mit der Einführung des „Deep learning“. Über den Zugang von Computern zu großen Daten-sätzen wurde hier mithilfe bestimmter Algorithmen auf der Basis von künstlichen neuronalen Netzwerken eine Erkennung von Mustern möglich, besonders auch zur Strukturidentifikation von Bilddateien20. Diese Technologie kann nun in der Medizin zur Diagnosefindung, Therapieentscheidung oder auch bei Verlaufsuntersuchungen eingesetzt werden.
Einsatz der KI in der Medizin
Der Einsatz von KI im Gesundheitswesen soll zum einen sicherlich die stetig steigenden Kosten senken, da Computer im Vergleich zum Menschen in der Regel schneller, genauer bzw. mit geringerer Variabilität und auch effizienter große Datenmengen verarbeiten können. Zum anderen sollen auch die Patientenversorgung und -sicherheit verbessert werden. Durch die zunehmende Verfügbarkeit von medizinischen Daten können Muster erkannt werden, was auch das Personal im Gesundheitswesen bei komplexen Entscheidungsfindungsprozessen unterstützt16. Ebenso von Vorteil scheint zu sein, dass die diagnostische Genauigkeit verbessert werden kann, dass also keine individuelle Variabilität etwa durch unterschiedliche menschliche Erfahrung und Expertise mehr vorhanden ist. Dies hilft, Fehldiagnosen zu vermeiden bzw. zu verringern24.
Eine Frage, welche in diesem Zusammenhang wiederholt gestellt wird, lautet: Werden KI-basierte Algorithmen bzw. Programme in Zukunft den Kliniker ersetzen? Im Prinzip kann dies mit einem klaren „Nein“ beantwortet werden. Moderne KI-Systeme – sofern überhaupt schon im ärztlichen Alltag implementiert – sollen den Kliniker primär unterstützen, da heißt sie machen beispielsweise anhand radiologischer Bilder auf potenzielle Pathologien aufmerksam und überlassen die relevanten, daraus resultierenden Entscheidungsprozesse dem Spezialisten. In der Pathologie könnten so Routineuntersuchungen durch eine automatische Bildauswertung unterstützt werden, was im Alltag zu einer Effizienzsteigerung führt sowie dem Pathologen Freiräume schafft, sich auf schwierige Fälle zu fokussieren23. Interessant wird es da, wo KI-Systeme es den Nichtspe-zialisten ermöglichen, mithilfe des Algorithmus komplexe Entscheidungen bzw. Untersuchungen selber, also ohne initialen Austausch mit oder Hilfe von einem Facharzt durchzuführen. Beispielsweise können KI-basierte Systeme beim Hausarzt, das heißt in der Grundversorgung, unterstützende diagnostische Informationen bei Hautver-änderungen zur Verfügung stellen. Bilder können in einer Hausarztpraxis gemacht und umgehend über ein Dermatologie-KI-System ausgewertet werden. So können rasch harmlose von Risikoläsionen der Haut unterschieden und nur noch Patienten mit auffälligen Befunden dem Der-matologen zugewiesen werden20.
Die medizinische und auch die dentomaxillofaziale Radio-logie (DMFR) sind in der Medizin bzw. Zahnmedizin momentan die Fächer, in welchen KI-Möglichkeiten wohl am meisten erprobt und auch bereits im Einsatz sind2. Die Radiologie als jene Disziplin, die ja primär auf Bildgebung und der Interpretation dieser Daten basiert, wird in den nächsten Jahren und auch Jahrzehnten eine Schlüsselrolle in der Erforschung und Implementierung der KI-Technologie in der Allgemein- und Zahnmedizin einnehmen1. Um auch für das Fach Radiologie die bereits aufgeworfene Frage zu beantworten, ob KI-Entwicklungen nicht den Radio-logen arbeitslos machen, sei hier folgendes zitiert:
„AI won‘t replace radio-logist, but radiologists who use AI will replace radio-logists who don‘t.“21
Einsatz der KI in der Zahnmedizin am Beispiel der dentomaxillofazialen Radiologie (DMFR)
Die KI in der DMFR wird erst Mitte der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts richtig zum Einsatz gebracht. Zu Beginn dominierten hier zweidimensionale (2-D) radiologische Techniken, vor allem die Panoramaschichtaufnahme (PSA) und das Fernröntgenseitenbild (FRS). Hier werden vor allem Möglichkeiten zur diagnostischen Unterstützung bei der Kephalometrie über eine automatisierte Erkennung der kephalometrischen Bezugspunkte des Schädels, zur Unterstützung bei der Knochenqualitätsanalyse (Osteoporose) oder auch zur Erkennung von parodontalen bzw. periapikalen Pathologien genutzt8. Der zunehmende Einsatz von dreidimensionalen (3-D) Bildgebungsverfahren in der Zahnmedizin hat auch die Entwicklung und den Einsatz von KI-Systemen für verschiedene klinische Probleme vorangetrieben. Die digitale Volumentomografie (DVT) und intraorale/faziale Scans sind hier aktuelle Quellen im Bereich von 3-D-Bild-basierten KI-Systemen9.
KI kann in der zahnärztlichen Diagnostik ganz allgemein eingesetzt werden, um erstens die Bildqualität zu verbessern und zweitens die dentale Befunderhebung zu erleichtern. Eine Verbesserung kann einerseits durch die gezielte Reduktion der Strahlendosis, andererseits auch durch die automatische Optimierung des Röntgenbilds mithilfe von KI-Software erreicht werden, die eine Verminderung des Bildrauschens oder die Elimination von Artefakten durch prothetische Rekonstruktion vornimmt15. Eine wesentliche Arbeitserleichterung stellt die Option zur automatischen Befunderstellung dar. Anhand von radiologischen Aufnahmen, beispielsweise einer PSA, kann die automatische Zahn- und Implantaterkennung basierend auf der Klassifikation der FDI World Dental Federation erfolgen, sodass ein kompletter dentaler Befund generiert werden kann14,26. Hierbei sei hervorgehoben, dass der KI-generierte Befund nochmals von zahnärztlicher Seite kontrolliert und verifiziert werden muss.
Neben dieser eher administrativen Vereinfachung zur Identifikation von vorhandenen respektive fehlenden Zähnen und ihrem restaurativen Status können aber auch dentale und orale Pathologien durch KI-Systeme automatisch im Röntgenbild erkannt werden. Orhan et al.17 überprüften die Effizienz und Leistung eines „Deep learning“-Algorithmus anhand von DVT-Aufnahmen zur Erkennung und volumetrischen Vermessung periapikaler Läsionen. In dieser Studie lag die Erkennungsrate bei 92,8 Prozent. In einer weiteren klinischen Studie untersuchten Johari et al.13 das Potenzial von „Deep learning“-Algorithmen zur Identifikation vertikaler Wurzelfrakturen im DVT und im intraoralen 2-D-Röntgenbild. Hierbei zeigten die Ergebnisse, dass das eingesetzte KI-Modell für 3-D-Aufnahmen eine höhere diagnostische Leistung erbrachte als für die 2-D-Einzelröntgenbilder. Auch zur Diagnostik und Erkennung von Veränderungen der Mukosa in der Kieferhöhle unter Zuhilfenahme von DVT-Aufnahmen haben KI-basierte Algorithmen vielversprechende Ergebnisse gezeigt7.
Die korrekte Analyse der anatomischen Verhältnisse und Gesichtsproportionen ist die Grundlage für eine erfolgreiche kieferorthopädische Behandlung. Die herkömmliche kieferorthopädische Analyse wird in der Regel anhand von kephalometrischen 2-D-Röntgenbildern durchgeführt, die aufgrund der Bildvergrößerung, der Überlagerung von Strukturen, des ungeeigneten Röntgenprojektionswinkels und der Patientenposition teils ungenau sein können. Seit der Einführung des DVT in der Kieferorthopädie wird die virtuelle Behandlungsplanung als mögliche Alternative bewertet22, wobei hier aber die Strahlendosis noch problematisch ist. Cheng et al.4 haben einen ersten Algorithmus auf der Basis des maschinellen Lernens zur automatischen Lokalisierung eines wichtigen kephalometrischen Orien-tierungspunkts im DVT vorgestellt. In der Folge wurden mehrere KI-Algorithmen zur automatischen Lokalisierung diverser anatomischer Orientierungspunkte entwickelt. Diese Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen und in Zukunft werden hier sicherlich noch einige weitere Fortschritte zu verzeichnen sein8.
Es kann zusammenfassend festgehalten werden, dass sich in der DMFR die KI-basierten Algorithmen gegenwärtig auf vier Hauptanwendungen konzentrieren:
- die allgemeine Verbesserung der radiologischen Bildqualität,
- die automatische Erkennung von Zähnen und Implan-taten einschließlich des rekonstruktiven Versorgungsgrads,
- die Diagnose dentaler und oraler/kraniofazialen Pathologien sowie
- die Lokalisierung anatomischer Orientierungspunkte für die kieferorthopädische Behandlungsplanung.
Einsatz der KI in der Zahnmedizin am Beispiel des digitalen Workflows
KI ist auch der Promotor für klinische und technische Arbeits-abläufe in der Zahnmedizin. Die derzeit prominentesten Bereiche sind dabei das „Rapid prototyping“ (RP) in Kombination mit „Intraoral optical scanning“ (IOS) und „Augmented reality“/„Virtual reality“ (AR/VR; Abb. 1).
RP ermöglicht die additive Fertigung mithilfe von 3-D-Druckern zur automatisierten Verarbeitung und kostengünstigen Herstellung beliebiger Geometrien aus unterschiedlichen Materialien19. In der Zahnmedizin bietet RP durch die Nutzung digitaler Arbeitsabläufe mit IOS und die anschließende Herstellung von Zahnmodellen für die weitere Bearbeitung komplexer prothetischer Rekonstruktionen ein beachtliches Potenzial. Hierbei unterstützen KI-Algorithmen, die verwendeten Materialien effizient zu nutzen. Aber auch im Bereich des Designs von prothetischen Rekonstruktionen lassen sie sich für die automatische Optimierung des okklusalen Reliefs und zur Überprüfung der Verbinderstärke bei Brücken einsetzen. Erste Ergebnisse wurden für die Behandlung mit 3-D-gedrucktem festsitzendem Zahnersatz aus Zirkoniumdioxid (ZrO2) bereits publiziert5. Das bahnbrechende Potenzial der RP liegt in der Möglichkeit des 3-D-Bioprinting, sodass individuelle Geometrien nach Bedarf hergestellt werden können. Dies gelingt durch die Verwendung verschiedener Zellen, Wachstumsfaktoren und anderer Biomaterialien zur Schaffung und Nachahmung natürlicher Gewebemerkmale, die auf patientenspezifische Bedürfnisse zugeschnitten sind3.
AR ist eine interaktive Technologie, die eine reale Situation mit Computeranimationen anreichert, um die Realität mit virtuellen Inhalten zu erweitern. Im Gegensatz dazu verwendet VR nur simulierte computerisierte Umgebungen, ohne die Realität einzubeziehen25. Dabei können – je nach verwendeter Technik – visuelle, auditive und haptische Sinnesqualitäten integriert werden. AR/VR-Technologien gewinnen in allen Disziplinen der Zahnmedizin zunehmend an Bedeutung und bieten interessante Möglichkeiten sowohl zum Nutzen des Patienten als auch zur Unterstützung der Leistungserbringer bei ihren Behandlungsstrategien. Ein wesentliches Merkmal von AR/VR ist die Möglichkeit, virtuelle Visualisierungen mit Aufnahmen des Patienten in physischer Bewegung abzugleichen. Dies eignet sich insbesondere für die Behandlung in komplexen oralen und maxillofazialen Rehabilitationen mit interdisziplinärer Beteiligung. Das ideale Behandlungsergebnis kann bereits im Vorfeld in das individuelle Patientenszenario eingearbeitet werden. So können zum Beispiel verschiedene prothetische virtuelle Set-ups in Echtzeit auf eine vollständig nichtinvasive Weise getestet und bewertet werden. AR/VR kann helfen, dem Patienten die Auswirkungen verschiedener Therapieoptionen zu erklären und komplexe Behandlungen zu entmys-tifizieren. Gleichzeitig wird der Austausch zwischen den Zahnärzten vereinfacht und effizienter gestaltet, was zu besser vorhersehbarenn Behandlungsergebnissen führt10.
Schlussfolgerungen und Ausblick
In naher Zukunft wird KI mit ziemlicher Sicherheit die dia-gnostische Genauigkeit erhöhen, die Behandlungsplanung vereinfachen und somit zur Entwicklung personalisierter Arbeitsabläufe in der Zahnmedizin beitragen11. Momentan sind aber KI-basierte Programme in der Zahnmedizin lediglich schwache bzw. „narrow“ KI-Anwendungen, was bedeutet, dass sie nur für ganz spezifische Anwendungen programmiert wurden und dort Leistungen erbringen, die mit dem Menschen vergleichbar sind. Vernetztes Denken bzw. ein menschenähnlicher Prozess der Entscheidungsfindung und auch ein solches Verhalten ist (noch) nicht Realität6,18. Basierend auf einer wachsenden Menge von digitalen Gesundheitsdaten hat KI aber das Potenzial, die Routine-Workflows aller zahnärztlichen Disziplinen zu vereinfachen. Nicht nur die Krankenversorgung, auch die zahnmedizinische Ausbildung wird von KI-Systemen für personalisierte Curricula profitieren, die die Fähigkeiten der einzelnen Studenten berücksichtigen. AR wird die Kommunikation mit Patienten erleichtern und die klinischen Arbeitsabläufe durch den Einsatz visuell geführter Protokolle verbessern. In diesem Kontext wird die Telezahnmedizin Möglichkeiten für den Fernkontakt zwischen Zahnärzten und Zahntechnikern schaffen und virtuelle Konsultationen von Patienten sowie die Nachsorge nach der Behandlung mit digitalen Applikationen erleichtern. Schließlich könnte ein personalisierter digitaler Zahnpass die individuelle Rehabilitation mit 3-D-gedruckten zahnmedizinischen Biomaterialien ermöglichen. Insgesamt kann die KI als Türöffner und treibende Kraft für die Entwicklung von der rein evidenzbasierten hin zur personalisierten Zahnmedizin gesehen werden12. Dennoch müssen ethische Bedenken diskutiert, ausgeräumt und internationale Richtlinien für das Datenmanagement und die Rechenleistung festgelegt werden, bevor eine breite Routineimplementierung erfolgen kann.
Ein Beitrag von Prof. Dr. Michael M. Bornstein und Prof. Dr. Tim Joda, beide Basel
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