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Kulturgeschichte des Zahnschmerzes – Teil 2


Prof. Cengiz Koçkapan

Holunder galt wegen seiner Heilkraft als vollständige Hausapotheke des Landmanns. Die Blüten, die Blätter, die Beeren, die Rinde und die Wurzel wurden als Allheilmittel in der Volksmedizin seit Jahrhunderten zur Behandlung aller möglichen Krankheiten genutzt: von Albträumen bis Zahnschmerzen.

Der Holunder gehört zu den am frühesten genutzten Heilpflanzen der Menschheit. Schon in prähistorischer Zeit schätzte man den genügsamen und verlässlichen fruchttragenden Strauch als Nahrungsspender und Medizinalpflanze. Kaum eine andere Pflanze wurde von unseren Vorfahren so hochgeschätzt wie der Holunder. Das zeigt auch die Fülle von Namen, wie  Alhorn, Bachholder, deutscher Flieder, Dolder, Elderbaum, Fliederbeer, Gramille, Hausholder, Holderbeere, Johannisflieder, Kochholder, Lausholler, Massholder, Pfropfenholz, Rechholder, Püsseke, Quackeln, schwarzer Flieder, Teeholunder, Teufelsbeere, Tintenbeere, Tutenholz, Vogelflieder, Zetschken1 (Abb. 1). 

Die Geschichte des Zahnschmerzes ist so alt wie die Geschichte der Menschheit. Und es ist einiges besonders an diesem Schmerz – seine alles andere in den Hintergrund drängende Intensität, sein Status als Symptom für eine der häufigsten Todesursachen im Mittelalter und seine einfache, aber brachiale Behandlung durch Extraktion mehrten die Faszination für die „Auslöser“ Zähne und führten zu einer stattlichen Sammlung von Mythen und Fakten. Diese hat unser Autor Prof. Cengiz Koçkapan in einer mehrteiligen Serie für die Zeitschrift Endodontie aufbereitet, die wir in lockerer Folge auf Quintessenz News veröffentlichen. Im zweiten Teil geht es um die Beziehung von Holunder und Zahnschmerzen.


Weitere Teile


Teil 1: Bart und Zahnschmerz


Holunder lieferte nicht nur wohlschmeckende, gesunde Nahrung, sondern galt auch wegen seiner Heilkraft als lebende Apotheke und war aus der bäuerlichen Volksmedizin nicht wegzudenken. Die Menschen nutzten die Blüten (Abb. 2), die Beeren, das Mark, die Rinde, den Splint, das Holz und die Wurzel. Schälte man den Splint nach aufwärts, so diente dieser nach Volksaberglauben als Brechmittel, zog man ihn nach abwärts vom Holz, so wirkte er abführend1–5. Hollerbeermus (Abb. 3) galt für Mutter und Kind als Universalmittel6. In einem Gedicht wurde Holundermus gelobt7: „Wenn d’Jubelgreis studiere witt, denn eß vil Holdermuoß!“ Als allgemeines Schmerzstillungs- und Beruhigungsmittel fand Holundersaft Anwendung beispielsweise bei Neuritiden, Spasmus glottidis, Ohren- und Zahnschmerzen, Alpdrücken, Gicht, Rheuma und Herzbeschwerden8,9. Die Blüten und Beeren haben eine schweißtreibende Kraft, die sich nach der Meinung der Landleute als sehr heilsam erweist, nach Volksaberglauben besonders, wenn die Blüten am Johannistag vor 12 Uhr beziehungsweise vor Sonnenaufgang geschnitten werden6,10. In den Ortschaften um Weener (Ostfriesland) hielt man die Holunderpflanzen für besonders heilkräftig, die über Bienenstöcken (op bjintjekoven) oder in ihrer nächsten Nähe wuchsen11,12. Höfler erzählte13: „Der Hollerbaum war für meinen Vater zu allem gut; bei jeder Krankheit im Haus ist er zum Hollerbaum gegangen, und fast jedesmal hat er etwas dort eingegraben, blutige Schäuferln (Schulterblatt eines Rindes) oder bei Rosskrankheiten auch ein oder zwei Rosseisen.“ 

Fast jede zahnärztliche Maßnahme tangiert das endodontische System, und jährlich ca. zehn Millionen in Deutschland durchgeführte Wurzelkanalbehandlungen belegen den Stellenwert der Endodontie in der Zahnmedizin. Die Zeitschrift „Endodontie“ hält ihre Leser dazu „up to date“. Sie erscheint vier Mal im Jahr und bietet praxisrelevante Themen in Übersichtsartikeln, klinischen Fallschilderungen und wissenschaftlichen Studien. Auch neue Techniken und Materialien werden vorgestellt. Schwerpunkthefte zu praxisrelevanten Themen informieren detailliert über aktuelle Trends und ermöglichen eine umfassende Fortbildung. Die „Endodontie“ ist offizielle Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Endodontologie und zahnärztliche Traumatologie (DGET), des Verbandes Deutscher Zertifizierter Endodontologen (VDZE) und der Österreichischen Gesellschaft für Endodontie (ÖGE). Abonnenten erhalten kostenlosen Zugang zur Online-Version (rückwirkend ab 2003 im Archiv) und zur App-Version. Mehr Informationen zur Zeitschrift, zum Abonnement und kostenlosen Probeexemplaren im Quintessenz-Shop.


Übertragen von Zahnschmerzen auf Holunder

Im Mittelalter war das Übertragen einer Krankheit auf Tiere, Bäume, Wasser, Steine, Wände, Türen, Ameisenhaufen und Gräber eine häufig ausgeübte Praxis14. Die als Einpflöcken, Verpfropfen, Verheilen, Gesundbohren, Verpflanzen, Transplantation oder Vernageln genannten Heilmethoden haben trotz aller Verschiedenheiten in den Details gemeinsam, dass man glaubte, die Krankheit zum Beispiel auf einen Baum übertragen zu können, indem man Aussonderungen des kranken Körpers oder sonstige mit dem Patienten in enger Beziehung stehende Gegenstände in einen Baumstamm einfügte und die entstandene Öffnung durch einen Keil wieder dicht verschloss15,16. In begleitenden Beschwörungen wurde deutlich die Übertragung der Krankheit ausgedrückt17. Die Krankheiten, gegen die das Einpflöcken vorzugsweise angewandt wurde, waren hauptsächlich Zahnschmerzen und Brüche, aber auch Gelbsucht, Ohnmacht, Blattern, Pest, Gliederreißen, Abzehrung, Warzen, Fieber, Kopfschmerzen und anderes4,15. 


Abb. 4 Titelblatt zum Buch „Artzney Kunst/vndt Wunderbüch/Darinnen neben allerley Alchymistischen/ vnnd/andern Kunststücken/wunderbarlichen sachen/ vnd Historien/ angezeiget wird/ Wie beyde den krancken Menschen ...“ von Michael Babst von Rochlitz, 1592.

Die Übertragung der Krankheiten auf Baumarten wie Weide, Nussbaum, Eiche, Holunder und Obstbäume konnte durch Haar, Urin, Blut und auch mit Finger- und Zehennägeln als Krankheitsträgern geschehen17. Bei Zahnschmerzen empfahl von Rochlitz18, in den Holunder ein Loch zu bohren und die abgeschnittenen Hand- und Fußnägel sowie Haare in das Loch zu stecken und dieses anschließend dicht zu verschließen (Abb. 4): „Für die Wehtagung der Zeene. Wenn man etwas von den Nägeln an henden vnd füssen/deßgleichen auch etwas von Haaren abschneidet/vnd dasselbige zusammen in ein Holunderbaum vermachet/vnd das Loch fein sauber wider zumachet/so solle die wehtagung nachlassen.“

Das Neustettiner Zauberbuch riet folgendes Mittel gegen Zahnweh an11: „Im Frühling, wenn der Saft in die Bäume tritt, löse man an einem jungen Hollunder oder Weidenbaum von kaum Armsdicke auf der Abendseite oder mit nach Morgen gerichtetem Gesicht von oben nach unten ein Stück Rinde los, welche dann hängen bleiben muß. Mit einem Spänchen, das man so aus dem Stamm herausschneidet, daß man es wieder genau an seine Stelle einsetzen kann, steche man in den bösen Zahn, daß er blutet. Das blutige Spänchen stecke man dann wieder an seinen Ort, drücke die abgelöste Rinde wieder darüber und verbinde sie oben und unten mit einem zusammengedrehten roten Faden. Wächst die Rinde wieder fest, so wird der Zahn nie wieder schmerzen.“ 

Das beliebte Krankheitsübertragen auf die Bäume wurde bei Zahnschmerzen in verschiedenen Formen ausgeübt, eine besonders intensive Verbindung wurde dabei durch Beißen in den Baum hergestellt20, wobei neben dem Holunder gern ein durch Blitzschlag geheiligter Baum gewählt wurde9,14,21. Schon im Altertum wurde von Plinius empfohlen, bei Zahnschmerzen mit den Händen auf dem Rücken ein Stück vom blitzgetroffenen Holz abzubeißen und an den Zahn zu bringen22. Manchmal brauchte der Leidende einen Helfer beziehungsweise einen Dorfzauberer. Im Prinzip identisch war ein Verfahren, über welches ein Dorfzauberer, der dies schon in „hunderten von Fällen“ mit Erfolg angewendet zu haben behauptete, folgende sehr genaue Vorschrift gab23: „Mit einem spitzen Messer schneidet man, und zwar im schwindenden Mond, an einem Hollunderbaumstamm, der aber nicht dicker als 9 bis 12 cm sein soll, von oben herab nach unten die Rinde an, und zwar so, dass dieselbe etwa 10 cm oder in der Länge der Hand losgelöst wird und herabhängt. Dabei soll aber das Gesicht des Operateurs, sowie die Seite des Hollunderstammes, wo man die Wunde anlegt, gegen Sonnenaufgang gerichtet sein, denn nach der Seite des Sonnenuntergangs hin darf die Operation nicht vorgenommen werden. Dann schneidet man an der von der Rinde entblössten Stelle ein Spänchen heraus, das man mit sich nimmt. Wenn nun jemand von Zahnweh befallen wird, so reicht man ihm diesen Hollundersplitter und lässt ihn damit in den kranken Zahn stochern, so dass der Splitter etwas blutig wird. Sobald sich dann der Patient aus der Stube entfernt hat, eilt man mit dem blutigen Splitter zu dem Hollunderbaum, legt das Spänchen in die Lücke hinein, aus der es genommen war, drückt die losgelöste Rinde wieder darauf und umwickelt dann die verletzte Stelle von oben nach unten fest mit starkem, rotem Baumwollgarn, so dass alles wieder gut verwachsen kann. Sein Lebtag wird dann der Patient an jenem Zahn keine Schmerzen mehr bekommen.“

Holunder wurde auch als Leitmedium benutzt. In Esens (Ostfriesland) musste der Leidende schweigend einen Zweig in die Erde stecken, nachdem man ihm die schmerzende Gesichtshälfte oder, wenn es sich um Fieber handelte, mit diesem Zweig den ganzen Körper gerieben oder bestrichen hatte. Durch den Zweig wurde die Krankheit in die Erde geleitet11,12.

„Ubi, ropy, porpy“

In der Pfalz wurde mit einem im Frühjahr oder am Morgen losgelösten Spänchen von einem Holunder- oder Weidenbaum im Zahn herumgestochert bis er blutete, sodann wurde der blutige Span wieder an seinen Ort zurückgelegt und die abgelöste Rinde darüber gebunden; doch durfte man, so lautet die besondere Vorschrift, niemals zu diesem Ort zurückkehren4. In Westfalen vermochte der Beschwörer den Leidenden von Zahnschmerz zu befreien, indem er rücklings zu einem Holunderbaum ging, aus dessen bloßgelegtem Holz einen Splitter schnitt, den er rücklings gehend dem Leidenden brachte. Dieser ritzte mit dem Splitter sein Zahnfleisch bis der Splitter blutig wurde und so der Krankheitsgeist auf ihn überging, dann brachte der Beschwörer den Splitter, rückwärtsgehend, wieder zum Holunder, drückte ihn in den Spalt, legte die aufgeschnittene Rinde wieder fest darauf und verband diese Stelle mit einem Faden, wodurch der Krankheitsgeist an den Baum gefesselt war24. Die Pennsylvania-Deutschen mussten bis Freitag warten, wenn sie Zahnschmerzen hatten9: „Gehe früh vor Sonnenaufgang an einem Freitag ohne zu sprechen zu einem Holunder und an der Seite gegen Osten löse etwas an der Rinde auf, und schneide vom Stamm einen Splitter heraus, stochere damit in den Zahn bis der Splitter blutig wird, lege ihn blutig wieder an seinen alten Ort im Stamm, gehe drei Schritte zurück und sage nach dem ersten Schritt ubi, nach dem zweiten ropy und nach dem dritten porpy. Dann drehe dich linkswärts zurück und gehe unbesehen und unberedet nach Hause. Danach wirst du lebenslang keine Zahnschmerzen mehr haben.“

In Preußen, Masuren und auch in Böhmen schnitt man einen Splitter unter der Holunderrinde aus, mit dem man das Zahnfleisch so lange „stöckert“ bis es blutete, dann „spündet, man ihn wieder in seinen vorigen Ort ein und lasset ihn verwachsen.“25–27. In Westböhmen wurde Zahnweh gestillt, wenn man den kranken Zahn mit einem Stückchen aus Holunder- oder Haselnußholz, von einem Sargbrett oder von einem Kreuz an einem Kreuzweg abgeschnitzt, „ausschtirlt“ bis er blutete, und dann dieses „Spänchen“ unter der Dachtraufe einscharrte, dasselbe in den Stamm der Staude „verbohrt“, oder an seiner Wurzel „vergrabt“ und dabei fünf Vaterunser betete4. Wer sich in Ennstal (Steiermark) mit dem Schiefer einer „Hollerwurz’n“ den kranken Zahn „ausstrittet“ und sodann den Schiefer dorthin legte, woher er ihn genommen, so dass er mit der Wurzel wieder verwuchs, bekam kein Zahnweh mehr4. Ähnlich wird das Vorgehen in der Schweiz beschrieben: „Men miess en Nagel nën. Und denn heig Nagel im chranken Zand d’s Bluet g’macht chon dermit, und denn der Nagel in en Holdrenbaum ing’schlagen, d’s Zandweh vernaglet.“28

Es bestand allerdings bei dieser Therapie auch die Gefahr, dass man nach Volksaberglauben ungewollt Zahnschmerzen bekommen konnte. Ein Nagel, mit dem man im schmerzenden hohlen Zahn stocherte und den man in den Holunderbaum trieb, nahm die Schmerzen fort, trug sie aber auf denjenigen über, welcher ihn vor siebenmal Mondwechsel herauszog29. Auch das Wiederanwachsen des Spans und das Weiterbestehen des Strauchs waren für den Erfolg wichtig. Wer den Span herauszog bekam Zahnweh30: „ (…) Der Strauch sollte allerdings unter dieser Prozedur nicht zugrunde gehen, aber der Zahnschmerz mit dem Verwachsen der Baumrinde verschwinden; wer den Span herauszieht, zufällig oder absichtlich, bekommt das Zahnweh.“


Abb. 5 Die erste Seite des Kapitels „Vom Zahnwehe“ in Beckherns Buch „Nützliche kleine Hauß-Apotheck“ 1665.

Aberglaube fand auch 1665 bei Beckherns31 Empfehlungen seinen Platz (Abb. 5): „Es haben ihrer viel die Meynung/daß man mit den Zahnstechern die Zähne reiben und feucht/oder blutend machen sol/und hernach des Morgens bey Auffgang der Sonnen den Zahnstecher in den Hollunderstam einverleiben/und den entblöseten Ort des Stammes mit seiner eigenen Rinden/oder auch gutem Hartz verschmieren/und also wollen sie alle Zahnwehe vertreiben.“ Warum die Zahnschmerzen durch dieses Vorgehen gelindert werden sollten, konnte Beckhern allerdings nicht richtig erklären: „Wie dieses zugehe/kann man keinen gewissen grund haben: und wird vielleicht das/der blossen Einpfropffung zugeschriebe was mit mehrerm fug dem Blut/so da dan/den Flüsse luffft giebt/zugemessen kan werden/weil ohne das nach dem Bluten der Schmertz sich zu stillen pfleget: Es mag hierin ein jeder seinem gefallen nach davon halten/was ihm geliebet (…)“.

„Frau Hölter“ und der Zahnschmerz

Im Volksglauben und der Mythologie kam es zu einer weiblichen Personifizierung des Holunders, der weiblichen Göttinnen zugeordnet wurde. Für die Germanen war Holunder ein heiliger Baum und wurde mit Holda, der Muttergöttin der Mythologie und Freya, Göttin der Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht. Zu der Zeit des Heidentums galt der Holunder als heiliger Baum, in dessen Zweigen ein göttliches Wesen, die Frau Holder, abgeleitet aus Holle (Göttin des Hauses), wohne. Nach dem Glauben der alten Preußen wohnte unter dem Holunder der Erdengott Puschkaitis, dem man Brot, Bier und andere Speisen darbot10. Aus dänischen Sagen kennt man die Hollemutter (Hyldemoer oder auch Hyldeqvind), einen den Menschen grundsätzlich wohlmeinenden Geist, der im Hollerstrauch wohnen soll5. In Schonen (Schweden) sprach man ebenso von der Hyllefroa (Holunderfrau)33. 

In den Beschwörungs- und Segensformeln, die während der Transplantation der Schmerzen gesprochen wurden, kommt wiederholt die weibliche Personifizierung des Holunders vor. Wer Zahnweh hatte, begab sich mit einem Messer zum Holunder und sprach dreimal34: „Liebe Frau Hölter, leih mir ein a Spälter (Splitter), den bring ich euch wieder.“ Dann löste man ein Stück von der Rinde ab, schnitt sich einen Span aus dem Holz, ritzte das Zahnfleisch mit dem Span bis derselbe blutig war und fügte ihn anschließend wieder in den Stamm ein, um das Weh auf den Holunder zu übertragen4,14,34. 

Mystischer Holunder

Um den Holunder ranken sich seit alters her zahlreiche Mythen. Man begegnete ihm mit Respekt und Verehrung. Wurde Holunderholz verbrannt, bekam man Zahnweh4,37. In der Bevölkerung von Bukowina in Rumänien glaubte man38: „Das Hollerholz wird nicht gebrannt, denn wer dies thun würde, müsste Backenzahnschmerzen bekommen.“ 

Dass es hauptsächlich die im Holunder innewohnende Zauberkraft sein sollte, die nach dem Volksaberglauben schmerzstillend wirkte, lässt sich aus den folgenden Zitaten erkennen20,39,40: „So genügt es, um den heftigsten Zahnschmerz zu stillen, wenn man den mittelsten Wipfel einer Holunderstaude herunterbog“. In Miedzyrzeckie (Polen) nannte man den Holunder sogar heilig, wenn diejenigen, die ihn um Heilung von Zahnschmerzen baten, vor ihm die Worte aussprachen41: „S´wiety bzie, wez´ moje bolenie pod swoje zdrowe korzenie“ (heiliger Holunder, nimm meinen Schmerz unter deine gesunden Wurzeln). Im österreichischen Schlesien brach man vor Johannis (24. Juni) vom Holunder eine Blütentraube ab, buk dieselbe in einem Pfannkuchen und verzehrte beides dann beim Johannisfeuer; das sollte gegen Zahnweh schützen20,42,43. In Dänemark nahm man bei Zahnweh einen Holunderzweig in den Mund und steckte ihn dann in die Wand mit den Worten44–46: „Wiche böser geist.“ In Irland war Holunder hoch geschätzt und man sagte, dass die Erde um die Holunderwurzel herum die Zahnschmerzen lindere47. In dem Buch „Volksglaube und Brauchtum der Ostslaven“48 heißt es: „Die Rinde dieser heiligen Bäume wirkt heilend, sie hilft gegen Zahnschmerzen. Der Saft dieser Bäume kann sich in Blut verwandeln.“ 

Zahnwurmglaube und Holunder

Einigen Handlungen liegt der ewige Aberglaube zugrunde, dass sich Würmer in den kariösen Zähnen aufhalten und die „nagenden“ Zahnschmerzen auslösen. Der Wurm (=die Pulpa) tritt auch in deutschen Segenssprüchen in schwarzer, weißer, roter, blauer, grauer Farbe auf, weil sich die Zahnpulpa je nach den in der Zahnhöhle befindlichen Speiseüberresten, „die ein kleines Würmlein bilden“, verschiedenfarbig gestaltet49. Beckhern empfahl gegen einen im Zahninnern wohnenden Zahnwurm folgende Behandlung31: „(…) so thue in die Höle ein Hollunderschwämlein: ist es nicht hohl/so fasse nur das Schwämlein mit den Zähnen. Mann konnte auch wol durch einen Trechter den Fraden vom gedachtem Wasser lassen auff den Zahn kommen.“ In dem Buch „Herrmann Gold­ackers Kunst für allerley Zahnwehe“ findet man eine ganze Reihe von Rezepten gegen Zahnweh und auch ein Mittel mit Holunder beziehungsweise Holunderschwamm (Judasohren) gegen die Würmer in Zähnen50: „Lege Holunder-Schwamme in Essig, daß er weich werde, alsdenn lege ihn auf den holen Zahn, so zeucht er die Würmer heraus, lege diesen Schwamm hernach in ein warmes Wasser, so fallen die Würmer davon, daß du sie sehen kanst, es ist bewährt.“ Man könne auch die Rinde und Blüte mit hinzugefügtem Holunderschwamm in halb Essig und Wein ebenso kochen und verwenden. In der Landschaft Billwärder ging man folgendermaßen gegen den Zahnwurm vor51: „Man ließ den Rauch von angezündeten trocknen Holunderblüten oder Kamillenblüten in die Mundhöhle eintreten. Der krankmachende Zahnwurm fiel dan heraus.“ Judasohr wächst an alten und abgestorbenen Stämmen von Holunder und sei ein gutes Mittel zum Vertreiben der Zahnwürmer36: „An den Hohlunderbäumen, unten am Stamme, pflegt, wenn sie alt werden, eine Gattung von Schwamm zu wachsen, welcher deswegen Hohlunder-Schwamm, Fliederschwamm, Fungus sambucinus, und weil er hohl und runzelig ist, und daher einige Aehnlichkeiten mit einem Menschenohre hat, Ohr-Schwamm, Agaricus auriculae forma, Fungus membranaceus auriculum referens auch, weil dafür gehalten worden, daß der Verräther Judas an einem Hohlunderbaume sich erhenkt habe, Judasöhrlein, oder Judasohr, (auch Johannisohr) Auricula Judae; Fungus Auricula Judae, (...), auch Mäuseöhrlein, oder Mäuseohr genannt wird. (…) Wo Würmer in den Zähnen vermuthet werden, kann man ein Schwämmchen in den hohlen Zahnstecken, oder es nur fest zwischen den Zähnen halten.“ Auch die folgende Holunderrezeptur wurde gegen Zahnschmerzen empfohlen36: „Bey Zahnschmerzen kocht man 2 Loth von der frischen und weichen Wurzel, nachdem man sie vorher klein geschnitten, mit 2 Loth gemeinen Essig tu einem wohl zugedeckten Gefäße, und spützlet mit diesem Decocte den Mund lauwarm aus. Auf gleiche Art kann man auch die Rinde und Blüthe, mit hinzu gethanem Holunderschwamm, kochen und gebrauchen. Den Dampf von solchem Decoct läßt man in die hohlen Zähne, wenn Würmer darin sind.“

An die Bäume sind viele deutsche Sprüche gerichtet, und natürlicherweise sind damit eigentlich die Gottheiten gemeint, welche die Bäume bewohnen54. Im Holunder tritt die Gottheit als Schutzpatron gegen Zahnwurmleiden auf. Bei folgender Behandlung handelte es sich um das Prinzip der Berührungsmagie beziehungsweise um das Übertragen der Krankheit auf einen Baum. Durch das Anfassen des Baumes machte man ihn zum eigenen Stellvertreter und übertrug durch die Berührung das Leiden auf ihn55. 

Holunder gegen Zahnschmerzen

Alle Teile des Holunderbaums, Rinde, Blätter, Blüten und Beeren wurden verwendet, um Zahnschmerzen zu stillen. Häufig bestanden diese Mittel aus vielen Ingredienzien, die der Leidende, wenn nicht vorrätig, zuerst besorgen musste.

Der berühmte Chirurg John of Arderne (1307–1380) war der Arzt von Edward III., diente im Hundertjährigen Krieg und praktizierte zwischen 1349–1370 in Newark-on-Trent (England). In seinem Werk „De Arte Phisicali et de Cirurgia of Master John Arderne“  findet man das folgende Mittel gegen Zahnschmerzen56: „Nimm die grüne Holunderrinde, dies ist Rinde zwischen weiße und graue Rinde und mische dazu Salz und Pfeffer und tue dies in ein kleines Flachstuch und tue dies an den Zahn mit der Höhlung.“

Im Jahr 1665 vertrat Beckhern die Ansicht, dass „die grossen Schmertzen der Zähnen von den fallenden Flüssen ihren Ursprung nehmen.“ Er empfahl folgendes Mittel (Abb. 5): „Man nehme Hollunderwurtzel fünff Loth/zerschneide sie in Scheiblein: Hollunder oder gemein Essig/gute blancken Wein jedes 12. Loth: koche alles zusammen zu einem Mundwasser/damit man offters das Maul schwencken sol. Oder/man nehme die mittelsten Hollunder Rinden und Blüet jedes eine Handvoll. … Auch können Zahnstecher und Ohrenlöffen aus Holunderholz gegen Zahnschmerzen helfen. Wenn ein Geschwulst auftritt, so soll man auf die Hautoberfläche Holunderöl aus Holunderblüten schmieren.“31.

Im Jahre 1687 empfahl ein anonymer Autor Holunderblüten gegen Zahnschmerzen57: „It Hollunderblüt/Brunellen/Lavendel- und Roßmarienwasser/mit einem Aquavit. vermischet/und warm in den Mund gehalten.“ Purmann58 befürwortete Holunderspiritus: „Der Hollunder-spiritus, in den Mund genommen und auf selbiger Seiten eine weile gehalten/ benimmt unfehlbar die Zahn-Schmertzen“. Zorn59 beschrieb in seinem Buch „Botanologia medica“ die Anwendung von Holunderblüten: „(De Sambuco, Holunder) Eusserlich vertreiben die Blumen die Hitze der Rose/die Milch in den Brüsten/und lindern die Zahnschmertzen.“ Nach Schuster60 sind mehr äußerliche „Artzney-Mittel“ und innerlich „Schweiß-treibende“ Mittel gegen Zahnschmerzen nötig: „In dem languinischen und wäßrichten Zahn-Weh, welche von Anstemmungen dieser Feuchtigkeiten entstehen, sind alle scharffe, hitzige und spiritiöse Sachen zu verwerffen, weil die congestion nur davon vermehret wird. Daher läßt man aus Hollunder-Blüten, Königs-Kertzen, Rosen, Saffran und Milch ein decoctum in Mund nehmen; und wenn der Schmertz hartnäckig ist, so setzet man ein Quentgen Schmertz-stillende Essenz zum decocto; wovon der Schmertz gelindert und die Stockung und Anstemmung vertheilet wird.“

Johann Heinrich Zedlers „Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste“ ist das größte Lexikon des 18. Jahrhunderts. Auf etwa 68.000 Seiten in 68 Foliobänden, erschienen zwischen 1732 und 1754, sind 33 verschiedene Disziplinen und Wissensarten repräsentiert. Dort liest man unter dem Stichwort „Zahnweh“ unter anderem folgende Empfehlungen gegen Zahnschmerzen61: „Hollunderblüten in Weine gekocht und mit dem durchgeseichten Decocte den Mund ausgespühlet. (…) Das thut auch der Hollunderblüt-Geist, eben auf diese Weise gebrauchet. Mit diesem Mittel will Grüling viel Zahnweh vertreiben, und darinne niemahls gefehlet haben.(...) Oder: Kochet die innere grüne Hollunderrinde in Wasser, und brauchet das Decoct, wie vorher gesaget: Solches thut auch gut. (…) Endlich saget Grüling noch, daß, wenn der Backen von dem Zahnschmertze sehr aufschwillet, man alsdenn ein warmes mit trockenen Kammer- oder Chamillenblumen, Hollunderblüten, und Saltz angefülltes Säcklein überlegen müsse.(...) Der Hollundergeist, in den Mund genommen, und auf selbiger Seite eine Weile gehalten, benehme unfehlbar die Zahnschmertzen; wie ingleichen auch das Spikanardenwasser, auf vorige Art gebrauchet. (…) Man könnte den Terpenthingeist, wegen seines unangenehmen Geschmacks, wohl davon lassen, und dafür den Hollunderblütengeist nehmen. Mit diesen Mitteln, hoffet Purmann, werde jeder vergnügt seyn“.

Die Holunderrinde mit Essig gekocht und im Mund gehalten soll nach Matthiä62 „die stockende Feuchtigkeit“ ausziehen und den Zahnschmerz lindern. Schnelle Hilfe bei Zahnschmerzen leiste auch Holunderwurzel in halb Essig und Wein gekocht und öfters im Mund gehalten62,63. Buchan64 empfahl warme Umschläge oder Abkochungen von aufweichenden Gemüse. 

Fahner65 verwies auf weitere „gute und schlechte Mittel ohne Aberglauben“: „Binde die abgeschabte äußere Schale vom Holunderstrauch auf den schmerzhaften Backen. Hat zwar kühlende und zertheilende Kräfte, zumal wenn schon der Backen dick und roth ist; aber für den Zahnschmertz ist dies Mittel wohl zu unkräftig. Vielleicht thut das bloßen Zubinden des Mundes und das dadurch bewirckte Bewahren für dem Zudrange der Luft eben die Dienste.“ Wenn die Zahnschmerzen durch Ablagerung einer serösen Feuchtigkeit ausgelöst werden, so nützen nach Eyerel66 abführende Mittel und nachher ausdünstungsbefördernde Arzneien, Holztrank, Holunderaufguss, Holundermus, Blasenpflaster am Nacken, hinter den Ohren und am Kinnwinkel.

Newman67 empfahl gegen Zahnschmerzen kanadischen Holunder (Sambucus canadensis), eine Unterart des schwarzen Holunders: „Die Rinde von kanadischen Holunder gekocht und auf die Wange appliziert lindert die Zahnschmerzen.“ Die nordamerikanischen Ureinwohner Iroquois hatte Kalm68 selbst die innere Rinde vom kanadischen Flieder (Sambucus Canadensis) kochen und auf diejenige Stelle der Wange legen sehen, unter welcher der Schmerz am heftigsten war. Smith69 empfahl gegen Zahnschmerzen: „nehme eine Unze Holunderbeeren in Brandwein und gurgle damit; oder reibe die Zähne jeden Morgen gründlich mit Zahnpulver und wasche den Mund mit kaltem Wasser aus.“

Die frische und weiche Wurzel des Holunders, deren gelbliche Rinde ohnehin in der Arzneibereitung eine Rolle spielt, wird in Essig gekocht als ein Heilmittel gegen Zahnweh angewendet70. Schmid71 beschrieb in seiner Dissertation „Rätoromanische zahnärztliche Volksmedizin“ alle die Volksmedizin betreffenden Aufsätze in verschiedenen rätoromanischen Kalendern, der rätoromanischen Chrestomathie und auch in dem Oberländer Arzneibuch: 

  • „Hauswurz (Sempervivum tectorum), Holunder (Sambucus nigra), 
  • Gegen Zahnweh … auch die Holderblüte heiss in einem Säcklein (aufgelegt), hat die Tugend, den Schmerz zu beruhigen.
  • Gegen Zahnweh ist gut, Holderblüten zu rösten und sie in einem Säcklein aufzulegen.
  • Gegen Zahnweh … die innere Rinde des Holunders in Wasser gekocht.
  • Gegen die Schwellung bei Zahnweh, um sie vergehen zu lassen, ist gut, aufzuwärmen mit Holderblüten.“

Auch ein Hausmittel „Gegen frischen Katarrh, Husten, Stockschnupfen, trockene schmerzhafte Augenentzündungen, gegen Kopfschmerzen in der Stirne, rheumatische Zahnschmerzen“ sei sehr zu empfehlen72: „Man nehme eine Hand voll Kamillen- und Flieder- (Hollunder-) Blumen, einen Eßlöffel voll Kümmel und eben so viel Anis, lege alles in ein Waschbecken, gieße 2 Maß kochendes Wasser darauf und halte den Kopf 10 bis 15 Minuten über den aufsteigenden Dunst, indem man ein großes Tuch über den Kopf wirft, das über den Rand des Beckens reicht.“

Ein Beitrag von Prof. Dr. med. dent. Cengiz Koçkapan, Radolfzell

Literatur auf Anfrage unter news@quintessenz.de


Titelbild: shutterstock.com/Melica
Quelle: Endodontie, Ausgabe 2/17 Endodontie Zahnmedizin

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