Beim 34. Berliner Zahnärztetag am 21. und 22. Februar 2020 steht im Estrel Convention Center erneut die Endodontie im Fokus: „Endodontie – weil mehr geht, als man denkt“ lautet das Motto. Warum die Endo nach 2014 wieder auf der Agenda steht und was die Kolleginnen und Kollegen aus Berlin und dem ganzen Land erwartet, dazu geben die wissenschaftlichen Leiter des Kongresses, Prof. Dr. Michael Hülsmann (Göttingen) und der Berliner Endodontiespezialist Dr. Jörg Schröder, im Interview Auskunft.
Prof. Hülsmann, 2014 war die Endo zum letzten Mal Kongressthema für den Berliner Zahnärztetag. 2020 steht sie erneut auf dem Programm. Wie kam es dazu?
Prof. Michael Hülsmann: Sechs Jahre sind in der (Zahn-)Medizin eine lange Zeit, es gibt genügend Neuerungen und neues Wissen, über das es sich zu reden lohnt. Die Endodontie hat zudem so viele Facetten und wichtige Aspekte, dass sich damit auch mühelos noch weitere Tagungen füllen ließen.
Prof. Hülsmann, immer wieder gibt es Kritik an der Qualität der praktizierten Endodontie und auch an den Erfolgsraten und der wissenschaftlichen Studienlage. Dabei hat sich dieses Gebiet in den vergangenen Jahren nicht nur technisch doch deutlich weiterentwickelt. Wie ist der Stand der Endo heute aus wissenschaftlicher Sicht?
Hülsmann: Die Qualität und in der Folge auch die Erfolgsquoten endodontischer Behandlungen haben sich in den vergangenen Jahren deutlich verbessert, das ist inzwischen auch in Studien für Deutschland gut dokumentiert. Luft nach oben bleibt trotzdem noch genug. Die Kolleginnen und Kollegen haben in den vergangenen Jahren aber auch sehr intensiv in Kursen, in Curricula, auf Tagungen etc. an der Hebung des Niveaus gearbeitet. Die Entwicklung der DGET mit inzwischen ca. 2.500 Mitgliedern belegt das große Interesse an der Endodontie und das Engagement der Kollegen.
Dr. Schröder, welche Entwicklungen der vergangenen Jahre, sowohl auf der technischen Seite als auch bei den Behandlungskonzepten und Protokollen, haben aus Ihrer Sicht ein besonders großes Potenzial, die Therapieerfolge in der Endodontie in der niedergelassenen Praxis zu verbessern?
Dr. Jörg Schröder: In den vergangenen Jahren lag der Schwerpunkt der technischen Neuerungen aus meiner Sicht insbesondere bei Nickel-Titan-Legierungen mit erheblich verbesserten physikalischen Eigenschaften, rotierenden Aufbereitungssystemen mit einer geringen Anzahl von Feilen und optimierten kabellosen Aufbereitungsmotoren, die vollrotierende und reziproke Aufbereitung miteinander kombinieren und ein effizientes und ergonomisches Arbeiten ermöglichen. Diese Neuerungen versetzen auch nicht spezialisiert arbeitende Kollegen in die Lage, besondere anatomische Herausforderungen, wie stark eingeengte oder gekrümmte Kanalsysteme zu meistern. Die Bilddokumentation zu diesem Interview zeigt ein Beispiel, was mit moderner Bildgebung und den technischen Neuerungen möglich ist.
Die Längenbestimmung per Endometrie hat sich mittlerweile zum Standard entwickelt, da sie gegenüber derjenigen anhand des zweidimensionalen Röntgenbilds erhebliche Vorteile hinsichtlich Wiederholbarkeit, Präzision und Strahlenbelastung aufweist. Eine Bestimmung der Arbeitslänge nach taktiler Rückmeldung, Schmerzempfinden der Patienten oder nach Abschätzen am Röntgenbild eröffnet unzählige Komplikationsmöglichkeiten und führt nur durch Zufall zum richtigen Ergebnis.
Bei den Behandlungskonzepten und Protokollen sehe ich bei der Vitalerhaltung pulpaler Gewebe bei strikter Einhaltung gewisser Kriterien wie absolute Trockenlegung, konsequente Asepsis, Arbeiten mit optischer Vergrößerung große Möglichkeiten. Die Verfahren der partiellen und vollständigen Pulpotomie haben bei richtiger Indikationsstellung in Verbindung mit dem Einsatz biokeramischer Werkstoffe eine hohe Erfolgsprognose. Die benötigte Behandlungszeit ist im Vergleich zur vollständigen Wurzelkanalbehandlung erheblich kürzer, was gerade bei ungeplanten Interventionen vorteilhaft ist.
„Eine – verschiebbare – Richtlinie gibt es nicht.“
Mit der modernen Endodontie lassen sich heute Zähne erhalten, die noch vor wenigen Jahren als hoffnungslos extrahiert worden wären. Wo ist heute die Grenze zur Extraktion?
Hülsmann: Ich denke, sie ist da, wo sie schon immer war: im undefinierten und undefinierbaren Niemandsland! Die Indikation zum Versuch der endodontischen Zahnerhaltung wird immer noch durch zwei zentrale Parameter definiert: die Fähigkeiten und Möglichkeiten des Zahnarztes und die Wünsche und Erwartungen der Patienten und die Bereitschaft, dafür zeitlich und finanziell zu investieren. Eine – verschiebbare – Richtlinie gibt es nicht.
Schröder: Die Grenze des technisch Machbaren hat sich seit dem Abschluss meiner universitären Ausbildung deutlich verschoben. Stiftaufbauten können vorhersagbar entfernt werden. Frakturierte Instrumente können substanzschonend geborgen werden und auch eine nicht erfolgreich verlaufende Wurzelspitzenresektion ist kein zwingender Grund für eine Extraktion.
Der erlittene Zahnhartsubstanzverlust und damit die mechanische Prognose ist für mich einer der entscheidenden Faktoren bei der Empfehlung für eine endodontische Behandlung. Nicht jeder Zahn muss um jeden Preis erhalten werden, und die moderne Implantologie ist manchmal, sowohl hinsichtlich der Vorhersagbarkeit als auch des zu betreibenden therapeutischen und finanziellen Aufwands, die bessere Behandlungsoption. Vertikalfrakturen der Wurzel und sehr weit fortgeschrittene Parodontitiden sind für mich eine Indikation zur Extraktion. Auch allgemeinmedizinische Begleitumstände, wie eine geplante Bisphosphonattherapie, können es sinnvoll machen, einen Zahn zu entfernen.
„Unsere Patienten sind interessierter und informierter geworden.“
Viele der neuen Verfahren müssen vom Patienten privat bezahlt werden. Der Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung deckt nicht alle Indikationen ab, die heute erfolgreich zu behandeln sind. Auf der anderen Seite heißt es immer wieder, dass Patienten der Zahnerhalt wichtig ist. Wie sind Ihre Erfahrungen?
Schröder: Im Vergleich zum Beginn meiner Tätigkeit in freier Praxis vor mehr als 30 Jahren hat sich die Einstellung vieler Patienten zu einem möglichen Zahnverlust erheblich gewandelt. Eine Zahnentfernung und die damit verbundenen Folgebehandlungen werden nicht mehr einfach hingenommen. Unsere Patienten sind interessierter und informierter geworden.
Da die moderne Endodontie die Grenzen des Machbaren deutlich in Richtung vorhersagbaren Zahnerhalt verschoben hat, entscheiden sich viele Patienten nach ausführlicher Aufklärung über Risiken und Chancen einer endodontischen Behandlung gegen eine Extraktion. Wir haben in unserer auf Endodontie und zahnärztliche Traumatologie spezialisierten Praxis kein Vertragsverhältnis mit den gesetzlichen Krankenkassen. Dennoch ist etwas mehr als die Hälfte unserer Patienten, die eine endodontische Behandlung durchführen lassen, gesetzlich krankenversichert. Ich finde, diese Zahl spricht für sich.
Lohnt es sich also, in der Praxis in eine moderne Endo zu investieren?
Schröder: Die meisten unserer Patienten wünschen sich eine umfassende Beratung, die neben den verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten auch die damit verbundenen Risiken und Chancen beleuchtet. Mit Aussagen wie ‚Der Zahn muss entfernt werden‘ geben sich informierte und selbstbestimmte Patienten heute nicht mehr zufrieden. Insofern sollte eine moderne Endodontie auch in einer allgemeinzahnmedizinisch ausgerichteten Praxis zum Behandlungsspektrum gehören.
Die notwendigen Investitionen sind überschaubar: Kofferdam, Endometrie, drehmomentgesteuerter Motor und Nickel-Titan-Feilen, die, wenn steril verpackt und als Einwegprodukt vom Hersteller gekennzeichnet, als Verbrauchsmaterial in Rechnung gestellt werden können, erzeugen Kosten im niedrigen vierstelligen Bereich. Die 3,5- bis 4,0-fach vergrößernde Lupenbrille mit LED-Beleuchtung kann in allen anderen Bereichen des täglichen zahnärztlichen Behandelns eingesetzt werden und ist oftmals bereits vorhanden. In Kombination mit einem fundierten endodontischen Grundwissen können, so ausgestattet, vermutlich 80 Prozent der notwendigen endodontischen Behandlungen erfolgreich und mit Freude durchgeführt werden.
Moderne Endodontie lohnt sich auf jeden Fall: Wir können erfolgreicher behandeln und stärken so die Bindung zwischen Patient und Behandler. Wir fürchten endodontische Behandlungen im Tagesplan nicht, denn gut geplant und vorbereitet, verlieren sie schnell ihren Schrecken.
Der Zeitaufwand für eine moderne Endodontie wird nicht durch die GKV-Vergütung abgebildet. Daher wird ein Selbstzahleranteil bei gesetzlich versicherten Patienten unumgänglich, wenn Endodontie nicht aus Liebhaberei betrieben werden soll.
„Vielleicht können wir beim Thema Trauma ein wenig mehr Sicherheit verschaffen“
Ein schwieriges Thema für viele Zahnärzte sind Traumata, vor allem bei Kindern. Was bietet das Programm des Berliner Zahnärztetags dazu?
Hülsmann: Aus Zeitgründen leider nur zwei kompakte Vorträge; der wichtigste sicher der zur Primärversorgung direkt nach dem Trauma. Aufgrund der Komplexität der Fälle fühlen sich viele Kollegen hier häufig überfordert – oder verfallen in den gegenteiligen Fehler und unterschätzen Ausmaß und Konsequenzen des Traumas. Vielleicht können wir hier mit den Vorträgen ein wenig mehr Sicherheit verschaffen.
Schröder: Mit Dr. Anna-Louisa Holzner und Dr. Christoph Kaaden widmen sich zwei ausgewiesene Experten der zahnärztlichen Traumatologie. Die Behandlung traumatisch geschädigter Zähne ist ein Thema, das leider in der universitären und postuniversitären Ausbildung zumeist ein Mauerblümchendasein fristet. Sie wird hier ausführlich und praxisnah nahegebracht. Dabei liegt der Schwerpunkt auf einer zeitgemäßen Erstversorgung der zumeist sehr jungen Patienten.
Auf welche Themen und Referenten freuen Sie sich besonders?
Schröder: Ein Favoritenthema habe ich persönlich nicht. Ich bin vielmehr gespannt, wie die am Berliner Zahnärztetag teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen das veränderte Format der Veranstaltung annehmen werden. Besonders freue ich mich auf Dr. Holm Reuver, der uns seine mit unglaublichem Aufwand hergestellten Präparate transparent gemachter Zähne präsentiert und uns mit sehr ästhetischen Bildern die Komplexität der Wurzelkanalanatomie vor Augen führen wird.
Hülsmann: Ehrlich gesagt, freue ich mich am meisten auf die Teilnehmer, unter denen sicher viele Absolventen der bisherigen Berliner Endodontie-Curricula sein werden, das gibt bestimmt ein schönes Wiedersehen!
„Ich bin mir sicher, dass die meisten Teilnehmer mehr als eine praxisrelevante Erkenntnis mit nach Hause nehmen werden“
Fortbildungen gibt es viele – warum sollten Zahnärztinnen und Zahnärzte aber unbedingt zu diesem Berliner Zahnärztetag kommen?
Schröder: Weil die Mischung der Referenten und Themen dieses Mal besonders ist. Wir haben großen Wert auf eine Kombination aus Praxis und Wissenschaft gelegt. Nicht nur das „Warum?“, sondern auch das „Wie?“ wird beleuchtet. Hochkarätige Hochschullehrer geben uns wichtige Hintergrundinformationen und lassen uns an ihren aktuellen und praxisrelevanten Forschungsergebnissen teilhaben. Renommierte Praktiker zeigen uns, wie sie dieses Wissen Tag für Tag in ihren Behandlungen umsetzen.
Und auch die Abfolge der Vorträge ist besonders. Der Ablauf einer endodontischen Behandlung war unsere Blaupause. So spielen am ersten Tag die Themen Diagnostik, Anatomie der Kanalsysteme und die endometrische Längenmessung eine Rolle. Im weiteren Kongressverlauf wird auf Aufbereitung, Fülltechniken aber auch Revisionsbehandlungen eingegangen. Eine zeitgemäße endodontische Notfallbehandlung wird vorgestellt und auch das Spannungsfeld Allgemeinmedizin/Endodontie findet Berücksichtigung.
Neu ist zudem ein Format, von dem ich mir persönlich viele Impulse für die Teilnehmer verspreche. Nach thematisch zusammenhängenden Vorträgen finden sich die Referenten auf dem Podium zusammen und führen eine moderierte, im Vorfeld nicht abgesprochene Diskussion zu den zuvor präsentierten Themen. So kann jeder Zuhörer an einem Gespräch teilhaben, wie es sonst nur im kleinen Kreis, zum Beispiel am Rande eines Get-Togethers geführt werden würde.
Außerdem möchten wir erstmals Fragen zu Behandlungsfällen, die dem Referenten sonst gerne beim Pausenkaffee gestellt werden, im Vorfeld sammeln, und diese dann mit den Referenten auf dem Podium beantworten. Die Präsentation der ausgewählten Behandlungsfälle erfolgt anonym.
Wenn man am Montag nach dem Zahnärztetag nur eine Sache umsetzt, für die keinerlei Neuinvestition notwendig war, dann hat sich die Teilnahme schon gelohnt. Und ich bin mir sicher, dass die meisten Teilnehmer mehr als eine praxisrelevante Erkenntnis mit nach Hause nehmen werden.
Hülsmann: Weil der Berliner Zahnärztetag so etwas wie eine Pflichtveranstaltung ist, weil es ein interessantes Programm ist und es (hoffentlich) interessante Vorträge und Diskussionen gibt, weil man viele Bekannte wiedersieht, zum Beispiel Kollegen aus den zahlreichen Curricula des Pfaff-Instituts, und weil man sich natürlich dem unwiderstehlichen Charme des Estrel einfach nicht entziehen kann!
34. Berliner Zahnärztetag
21. und 22. Februar 2020
Estrel Convention Center, Sonnenallee 225, 12057 Berlin
Das Programm für das Team am Freitag, 21. Februar 2020, ist bereits ausgebucht.
Kongressparty Freitag, 21. Februar 2020, ab 18.30 Uhr
14 Fortbildungspunkte
Informationen zum Programm und Anmeldung hier.