Mehr als 7.000 Teilnehmer aus mehr als 100 Ländern wurden vor Ort erwartet, und eine ebenfalls vierstellige Zahl soll noch online dazukommen – die 10. EuroPerio in Kopenhagen soll wieder zu einem wichtigen Player in der „Olympiade der dentalen Kongresse“ werden. Wegen der Corona-Pandemie um ein Jahr verschoben, waren schon vor der offiziellen Eröffnung des weltweit führenden Kongresses für Parodontologie, am Mittwochabend die Freude über die persönliche Begegnung bei Organisatoren, Speakern und Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu spüren.
Lange Schlangen vor dem Bella Congress Center gab es schon am Mittwochmittag, die Besucherinnen und Besucher nicht nur aus Europa strömten in die ersten Sessions, Posterdiskussionen und in die beiden großen Ausstellungshallen. Auf der von Prof. Dr. Bettina Dannewitz, Deutsche Gesellschaft für Parodontologie, moderierten Eröffnungspressekonferenz berichteten die Chairs und Organisatoren, Prof. Phoebus Madianos aus Athen, Prof. Nicola West und Prof. David Herrera aus Madrid, der als wissenschaftlicher Chair das wissenschaftliche Programm zusammengestellt hatte, von den Highlights des normalerweise alle drei Jahre stattfindenden großen Kongresses.
Parallele Live-OPs
Zwei Live-OPs gehören unbedingt zu den Höhepunkten der Veranstaltung. Am Donnerstagmorgen wurden, moderiert von Prof. Otto Zuhr, zwei Fälle zum Weichgewebsmanagement an Zähnen vorgestellt und parallel mit unterschiedlichen Ansätzen von Ion Zabalegui aus Bilbao und Massimo Sanctis aus Florenz operiert. Dies sei wirklich außergewöhnlich, so Madianos, ein Battle oder eine Debatte der Live-Ops, wie auch Herrera unterstrich.
Am Freitagmorgen stellte Istvan Urban einen Fall zum Management des Hartgewebes rund um Implantate vor, das Verfahren zur Vertikal Bone Regeneration im hinteren Unterkieferbereich. Moderiert wurde diese Session vom amtierenden EFP-Präsidenten Prof. Andreas Stavropoulos aus Malmö.
Neue S3-Leitlinie zur Parodontitis Stadium IV
Ebenfalls auf der Agenda: Die neue S3-Leitlinie zur Versorgung von Patientinnen und Patienten mit einer fortgeschrittenen Parodontitis (Stadium IV). Sie ist anlässlich der EuroPerio erstmals im Journal of Clinical Periodontology1 veröffentlicht worden. Stavropoulos erklärte dazu in der Pressemeldung der EFP: „Diese Leitlinie für das Stadium IV der Parodontitis ergänzt die Leitlinie für die Stadien I bis III2, was bedeutet, dass wir nun zum ersten Mal in der Geschichte europäische Empfehlungen für das interdisziplinäre und evidenzbasierte Management aller Stadien dieser Erkrankung haben. Es wird erwartet, dass die Anwendung der Leitlinie die Qualität der Parodontalbehandlung in Europa und weltweit verbessern wird. Die EFP wird mit den nationalen parodontologischen Gesellschaften zusammenarbeiten, um die Leitlinie zu übersetzen und an den lokalen Kontext anzupassen.“ Auf der EuroPerio wird die neue Leitlinie in einer eigenen Session vorgestellt und diskutiert werden. Eine weitere Session befasst sich mit der Leitlinie zur Therapie der Parodontitis der Stadien I bis III.
Grundlage im Workshop im November 2021 gelegt
Die neue Leitlinie beinhaltet Empfehlungen zur Behandlung von Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittener Parodontitis (Parodontitis Stadium IV), die im November 2021 in einem Clinical Guideline Workshop unter der Federführung von Professor David Herrera konsentiert wurden und bei dem auch zahlreiche deutsche Expertinnen und Experten aus allen Bereichen der Zahnmedizin vertreten waren, wie die Deutsche Gesellschaft für Parodontologie in ihrer Meldung zur Veröffentlichung der Leitlinie anlässlich der EuroPerio hervorhebt.
„Durch Zahnfleischbluten, lockere Zähne, Mundgeruch und Verlust von Zähnen, kann Parodontitis erhebliche Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen haben“, so Herrera, der auch den Workshop im November 2021 leitete. „Bei parodontal erkrankten Menschen können Schwierigkeiten beim Kauen oder Probleme mit der Aussprache auftreten. Einige schämen sich für die orale Situation, sind frustriert und hilflos.“ Die Parodontitis-Behandlung sollte daher nicht nur weiteren Zahnverlust verhindern, sondern auch Funktion, Ästhetik und Lebensqualität der betroffenen Patientinnen und Patienten wiederherstellen. Demzufolge sind komplexe, auf die individuellen Bedürfnisse angepasste Therapien unter Beteiligung verschiedener zahnmedizinischer Fachdisziplinen erforderlich und genau hier setzen die Empfehlungen der neuen Leitlinie an.
Literatur
1) David Herrera, Mariano Sanz, Moritz Kebschull, Søren Jepsen, Anton Sculean, Tord Berglundh, Panos N. Papapanou, Iain Chapple, Maurizio S. Tonetti. Treatment of stage IV periodontitis –The EFP S3 level clinical practice guideline. J Clin Periodontol. 2022. doi:10.1111/jcpe.13639.
2) Mariano Sanz, David Herrera, Moritz Kebschull, Iain Chapple, Søren Jepsen, Tord Berglundh, Anton Sculean, Maurizio S. Tonetti. Treatment of stage I-III periodontitis –The EFP S3 level clinical practice guideline. J Clin Periodontol. 2020;47(Suppl 22):4–60. doi:10.1111/jcpe.13290. – Deutsche Version
Zehn bis elf Millionen Menschen von Parodontitis Stadium III und IV betroffen
In Deutschland leiden schätzungsweise zehn bis elf Millionen Menschen an einer schweren Parodontitis (Stadium III und IV). Parodontitis ist damit eine der häufigsten chronisch-entzündlichen nicht übertragbaren Erkrankungen. „Eine alleinige systematische Parodontitistherapie reicht in schweren Parodontitisfällen nicht aus, um die Dentition zu stabilisieren. Daher ist in der Regel für die orale Rehabilitation eine umfassende multidisziplinäre Behandlung notwendig, die auch prothetische, implantologische und/oder kieferorthopädische, Maßnahmen beinhaltet“, so Professor Moritz Kebschull (Birmingham, England), Mitglied des Workshop-Organisationskomitees der EFP und Leitlinien-Beauftragter der Deutschen Gesellschaft für Parodontologie.
Fünf Komponenten der klinischen Diagnose
Die klinische Diagnose einer fortgeschrittenen Parodontitis (Stadium IV) umfasst fünf Komponenten. Zunächst wird der Schweregrad der parodontalen Destruktion, die Beeinträchtigungen der Ästhetik, der Kau- und Sprachfunktion beurteilt. Im zweiten Schritt wird die Anzahl der Zähne, die aufgrund von Parodontitis verloren gegangen sind, ermittelt. Im dritten Schritt wird bestimmt, welche verbleibenden Zähne erhalten werden können. Viertens: Bewertung aller oralen Faktoren, die den Erhalt von Zähnen und/oder das Setzen von dentalen Implantaten erschweren oder begünstigen können, wie zum Beispiel Zahnlücken oder das Knochenangebot. Im fünften Schritt wird die Gesamtprognose der Person beurteilt, einschließlich der Wahrscheinlichkeit eines Fortschreitens oder Wiederauftretens der Erkrankung, unter Berücksichtigung von Risikofaktoren wie Rauchen und Diabetes.
Professor Maurizio Tonetti von der Shanghai Jiao Tong University School of Medicine, Shanghai, China, Mitautor der Leitlinie, erklärt: „Dieser detaillierte Diagnoseprozess ist entscheidend, da er es uns ermöglicht, einen multidisziplinären Behandlungsplan auf der Grundlage dessen zu entwerfen, was technisch und biologisch machbar sowie kostengünstig ist, und dabei die Präferenzen und Erwartungen der Patientinnen und Patienten zu berücksichtigen.“
Der Nachhaltigkeit verschriebener Kongress
Die EuroPerio hat sich auch der Nachhaltigkeit verschrieben, Kopenhagen gilt als Hauptstadt der Nachhaltigkeit, so Madianos, auch in seiner Eröffnung. Dazu gehören unter anderem 50 Prozent weniger bedrucktes Papier, möglichst viel recyceltes Material, Produkte aus der Umgebung auch für das Catering und ein Gratis-Ticket für den öffentlichen Nahverkehr in Kopenhagen für die Dauer des Kongresses.
Mehr als 420 Teilnehmer aus Deutschland dabei
EFP-Präsident Stavropolous war sich in seiner Begrüßung sicher: „Wir werden erleben, was ein Live-Kongress leisten kann – den direkten Austausch mit den Referenten, Gespräche, natürlich auch Gerüchte, Treffen mit alten und neuen Freunden, Mentoren und Partnern – fachlich und vielleicht auch fürs Leben.“ Nicola West, Generalsekretärin der EFP, begrüßte die Teilnehmer aus den Gastländern bei der traditionellen Flaggenparade mit der Zahl der Delegierten. Die Gruppe der Besucher der DG Paro aus Deutschland mit mehr als 420 Teilnehmer gehörte neben Frankreich zu den größten Gruppen in Kopenhagen.
Den besonderen Eröffnungsvortrag hielt diesmal Prof. Katherine Richardson aus Kopenhagen, eine der Autorinnen des Global Sustainable Development Report 2019 und führenden Forscherinnen zum Thema Nachhaltigkeit. Sie beleuchtete die vielen Aspekte der Nachhaltigkeit und die Geschichte der Nachhaltigkeitsbewegung und der Initiativen. Die Klimakrise sei ein Thema, das technisch weitgehend in den Griff zu bekommen sei. Viel schlimmer ist aus ihrer Sicht neben dem viel zu hohen Verbrauch von Ressourcen der Verlust der Biodiversität. Mit jeder aussterbenden Spezies fehle ein Teil des Ökosystems Erde, und dieser Verlust lasse sich nicht umkehren. Was hier verloren ist, bleibt verloren.
Sie beleuchtete als Meeresforscherin auch die Probleme zum Beispiel mit Plastik – dieses Problem sei schon seit den 1950er-Jahren bekannt gewesen, aber nicht beachtet worden. Ihr engagierter Parforce-Ritt durch das Thema beeindruckte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Saal sichtlich.
Vielseitiges und vielzügiges Programm
Am Donnerstagmorgen war vor allem das Interesse an den parallelen Live-OPs groß, am Freitagmorgen füllte Istvan Urban mit seiner Live-OP den Saal. Das mehrzügige Programm mit Break-Out-Sessions der Industriepartner und Sponsoren bietet dazu eine sehr breite Palette an aktueller Wissenschaft für die Praxis. Die Themenpalette reichte von Grundlagenforschung über Mundhygiene, chirurgische und implantologische Techniken und vor allem neue Erkenntnisse und offene Fragen zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Parodontitis und Periimplantitis, zu Diagnostik und Therapieoptionen bei Mukositis und Periimplantitis, zu den Zusammenhängen mit Allgemeinerkrankungen und mit dem Ernährungsverhalten der Patienten, Stichwort Host response. (Weitere Berichterstattung folgt.) Da der Kongress hybrid angeboten wurde, sind die Vorträge für angemeldete Teilnehmerinnen und Teilnehmer noch für drei Monate online abrufbar.
Bei der Closing Ceremony am Samstagmittag zeigten sich die Chairs entspechend zufrieden. Prof. Phoebus Madianos und Prof. David Herrera blickten zusammen mit den Vorsitzenden und wissenschaftlichen Leitern aller bisherigen EuroPerio-Kongresse zurück auf 30 Jahre EuroPerio. Mit kleinen Videos und kurzen Vorträgen reiste das Publikum durch Europa – angefangen 1991 in Paris ging die Reise alle drei Jahre weiter in eine andere Stadt: über Florenz, Genf, Berlin, Madrid, Stockholm, Wien, London und Amsterdam bis nach Kopenhagen. Michèle Reners, die als bisher einzige Frau die EuroPerio9 in Amsterdam geleitet hat, erinnerte sich an ihre Aufgabe als tolle Chance und großartige Erfahrung und sprach einen Appell an die Frauen aus, es ihr gleichzutun.
EuroPerio11: „Vienna calling!“
Die nächste, 11. EuroPerio wird vom 14. bis 17. Mai 2025 wieder in Wien stattfinden. Für den Kongress verantwortlich zeichnen werden Anton Sculean als Vorsitzender, Lior Shapira als wissenschaftlicher Leiter und Elena Figuero als Schatzmeisterin.
Aktualisiert am 18. Juni 2022 um die Closing Ceremony. -Red.