Mutationen im WNT10A-Gen sind ursächlich für verschiedene Formen der ektodermalen Dysplasien. Neben syndromalen Formen werden auch monosymptomatische, schwere Oligodontien im Zusammenhang mit WNT10A-Mutationen beschrieben. Defekte im Wnt/β-Catenin-Signalweg scheinen ursächlich für die Zahnnichtanlagen zu sein. Bislang liegen kaum Daten zu augmentativen und implantologischen Therapien bei Patienten mit WNT10A-Mutationen vor. Die Auswirkungen von Defekten im Wnt-Signalweg auf augmentative Maßnahmen und Osseointegration sind ungeklärt. PD Dr. Marcel Hanisch et al. stellen in ihrem Beitrag für die Implantologie 3/20 die komplexe implantologisch-prothetische Rehabilitation einer Patientin mit einer WNT10A-Mutation vor. Der Fallbericht zeigt, dass eine komplexe implantatvermittelte kaufunktionelle Rehabilitation nach vorheriger Augmentation mit kortikospongiösem Beckenkamm erfolgreich durchgeführt werden kann. Bei kongenitalen Zahnnichtanlagen sollten stets auch eine WNT10A-Mutation und eine humangenetische Beratung in Betracht gezogen werden.
In keiner anderen Disziplin der Zahnmedizin schreitet die Entwicklung so schnell voran wie in der Implantologie. Ziel der Zeitschrift ist es, dem Fortbildungsangebot im Bereich der Implantologie durch die Veröffentlichung praxisbezogener und wissenschaftlich untermauerter Beiträge neue und interessante Impulse zu geben und die Zusammenarbeit von Klinikern, Praktikern und Zahntechnikern zu fördern. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenlosen Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.
Die ektodermalen Dysplasien beschreiben eine heterogene Gruppe hereditärer, kongenitaler Fehlbildungen mit entwicklungsbedingten Dystrophien ektodermaler Strukturen, die etwa einen von 5.000 bis 10.000 Menschen betreffen1. Zu den Derivaten des Ektoderms gehören Haare, Zähne, Nägel, Schweißdrüsen, Talgdrüsen, Brustdrüsen und Wimperndrüsen2−5. An oralen Manifestationen werden bei den verschiedenen Formen der ektodermalen Dysplasie neben Zahnnichtanlagen (Hypodontie, Oligodontie, Anodontie) auch Formanomalien der Zähne wie Mikrodontie oder Zapfenzähne6 beschrieben. Mutationen im WNT10A-Gen sind ursächlich für verschiedene Formen der ektodermalen Dysplasien wie die odont-onycho-dermale Dysplasie und das Schöpf-Schulz-Passarge-Syndrom7. Auch monosymptomatische, schwere Oligodontien werden im Zusammenhang mit WNT10A-Mutationen beschrieben8. Dabei scheinen Defekte im Wnt/β-Catenin-Signalweg für die Zahnnichtanlagen verantwortlich zu sein8,9, welche insbesondere bei der permanenten Dentition auftreten. Milchzähne sind nicht oder nur geringfügig betroffen8. An den bleibenden Zähnen wird zudem gehäuft eine konische Form der mittleren Schneidezähne beschrieben6. Ferner können bei den von einer WNT10A-Mutation betroffenen Patienten neben schweren Oligodontien und Mikrodontien auch Nageldystrophien, Hypotrichose, eine glatte Zunge mit wenigen Papillen sowie palmoplantare Hyperkeratose und reduziertes, aber auch verstärktes Schwitzen beobachtet werden8,10. Aufgrund der fehlenden Zahnanlagen bei Oligodontien wird auch der mit dem Durchbruch des bleibenden Zahns verbundene Wachstumsreiz auf den Alveolarfortsatz nicht ausgelöst, woraus ein reduziertes Knochenangebot resultiert11. Im Rahmen der Implantation muss neben oftmals erforderlichen augmentativen Maßnahmen1 mit einem harten und spröden Knochen gerechnet werden11. Insgesamt zeigen Implantate sowohl bei heranwachsenden als auch erwachsenen Patienten mit ektodermalen Dysplasien hohe Verweilraten12. Zu implantologischen Versorgungen bei Patienten mit WNT10A-Mutationen findet sich bislang nur ein einzelner Fallbericht10. In diesem Beitrag soll die komplexe implantologische, prothetische Rehabilitation einer Patientin mit einer WNT10A-Mutation präsentiert werden.
Fallbericht
Eine damals 20-jährige Patientin (Abb. 1) wurde erstmals Anfang 2016 in der Spezialsprechstunde „Seltene Erkrankungen mit oraler Beteiligung“ zur Beratung bezüglich ihrer Zahnnichtanlagen vorstellig. Äußerlich zeigte die Patientin keine charakteristischen Merkmale einer ektodermalen Dysplasie. Sie berichtete jedoch, dass sie tendenziell wenig schwitze und ihre Haut eher trocken und rissig sei. Beim intraoralen Befund imponierten neben einem ausgeprägten seitlich-offenen Biss und einer auffälligen konischen Form der oberen mittleren Schneidezähne multiple persistente Milchzähne (Abb. 2 bis 4). Zusammen mit der angefertigten Panoramaschichtaufnahme konnte der Verdacht einer ausgeprägten Oligodontie bestätigt werden. Insgesamt waren 26 Zähne inklusive der Weisheitszähne nicht angelegt (Abb. 5).
Auf Grundlage der bestehenden Befunde wurde der Verdacht einer genetischen Ursache der Symptome geäußert und der Patientin zunächst eine molekulargenetische Abklärung mit der Verdachtsdiagnose „genetisch bedingte Zahnnichtanlagen/ektodermale Dysplasie“ empfohlen. Bei der Sequenzanalyse konnte im WNT10A-Gen die Mutation C.433G>A (p.Val145Met) nachgewiesen und somit die klinische Verdachtsdiagnose bestätigt werden. Nun wurde gemeinsam mit der Patientin ein implantatgetragener Zahnersatz zur kaufunktionellen Rehabilitation gemäß § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V geplant, welcher letztlich genehmigt wurde. Nach Entfernung aller Milchzähne wurden Drahtklammerprovisorien im Ober- und Unterkiefer als Sofortersatz eingegliedert. Im Anschluss an eine sechswöchige Abheilung des Weichgewebes erfolgte in Intubationsnarkose die Entnahme eines kortikospongiösen Spans vom rechten Beckenkamm (Abb. 6). Das Augmentat wurde nach der Entnahme mit einer Diamantscheibe in Scheiben geteilt, welche an die Empfängerregion angepasst und mit Osteosyntheseschrauben (Cortical Screws 2.0, Cross-Drive, Fa. Medartis, Basel, Schweiz) fixiert wurden. Als Orientierung für das benötigte Augmentationsvolumen diente eine Augmentationsschablone. Diese wurde im Sinne eines Backward-Plannings auf Grundlage eines digitalen prothetischen Set-ups angefertigt, um die prospektiv prothetisch gewünschten Implantatpositionen festzulegen. Im Oberkiefer erfolge zudem eine beidseitige Sinusbodenaugmentation, im Unterkiefer wurde zur Abstützung des provisorischen Zahnersatzes ein temporäres Implantat (Straumann TempImplant, Straumann, ) inseriert (Abb. 7). Nach Periostschlitzung erfolgten ein spannungsfreier Wundverschluss (Abb. 8) sowie am Folgetag die postoperative radiologische Kontrolle (Abb. 9). Zum Schutz des Augmentats wurde eine sechswöchige Prothesenkarenz angeordnet. Anschließend wurden die Drahtklammerprovisorien basal freigeschliffen und weichbleibend unterfüttert (mollosil plus,Detax). Nach einer Abheilphase von insgesamt vier Monaten zeigte sich ein stabiles Augmentationsvolumen, sodass zwölf Implantate in den ortständigen Knochen implantiert werden konnten (Straumann Bone Level und Bone Level Tapered, Straumann) (Abb. 10). Dazu wurden die vorbeschriebenen Augmentationsschablonen zu Bohrschablonen umgearbeitett. Dies geschah, indem Bohrhülsen (Friadent Select Bohrhülsen D 3,4, Dentsply Sirona) in die festgelegten Implantatpositionen eingearbeitet wurden. Nach einer Einheilzeit von drei Monaten erfolgten die Freilegung (Abb. 11 und 12) und die anschließende prothetische Versorgung. Hierbei wurden die Abformpfosten der jeweils sechs Implantate im Ober- und Unterkiefer mit offener Pick-up-Technik unter Verwendung individualisierter konfektionierter Kunststoff-Abformlöffel mit Flexitime Dynamix Heavy Tray (Kulzer) als Monophasenabformung hergestellt.
Die Kieferrelationsbestimmung erfolgte zunächst in derselben Sitzung unter Verwendung von Bissregistrierhilfen (Straumann). Auf den Implantatmodellen wurden daraufhin laborgefertigte verschraubte Schablonen als Bissregistrierbehelfe angefertigt. Hiermit erfolgte die endgültige horizontale Kieferrelationsbestimmung durch ein Pfeilwinkelregistrat unter vorheriger Bestimmung der vertikalen Kieferrelation durch Differenzmessung, Sprechprobe und Beachtung der Physiognomie des unteren Gesichtsdrittels. Die Arbeitsmodelle wurden nun schädelbezüglich einartikuliert (SAM Präzisionstechnik). Im zahntechnischen Labor wurde zum probatorischen Austesten der ermittelten horizontalen und vertikalen Kieferrelation eine Versorgung mit PMMA-Restaurationen (CORiTEC PMMA Disc, imes-icore) unter Orientierung an den oben beschriebenen digitalen Set-ups eingegliedert. Sechs Monate später schloss sich die endgültige Umsetzung der Restaurationen aus monolithischer, farblich individualisierter Zirkoniumdioxid-Keramik (priti multidisc ZrO2 multicolor Translucent, pritidenta) an (Abb. 13 bis 16). Die Implantatachsen ließen okklusale Verschraubungen der Implantatbrücken in den Regiones 15 bis 13, 23 bis 25, 35 bis 33 und 43 bis 45 sowie der Implantatkrone in Regio 22 zu. Dazu wurden die Restaurationen im zahntechnischen Labor auf Titanklebebasen (Variobase Sekundärteil, Straumann) verklebt. Die Kronenrestauration in Regio 12 sowie die Brückenrestauration in Regio 32 bis 42 wurden auf individuell hergestellten Abutments (Medenika) eingegliedert. Abschließend erfolgte eine Koronoplastik der hypoplastischen Zähne 11 und 21 mit direkten modellierten Kompositrestaurationen (Estelite Sigma Quick, Tokuyama Dental). Die aufgrund der Bisshebung in Infraokklusion befindlichen Zahnpaare 16, 46 und 26, 36 wiesen, wie zu erwarten, keine Elongationstendenz auf. Hier folgt eine Versorgung mittels laborgefertigter Table-Tops zur Integration dieser Zähne in die Okklusion.
Diskussion
Ausgeprägte Oligodontien und Formanomalien der Zähne, wie der konischen mittleren Schneidezähne, werden im Zusammenhang mit WNT10A-Mutationen von mehreren Autoren berichtet6,8,10,13 und konnten auch im hier vorliegenden Fallbericht beobachtet werden (Abb. 2 bis 5). Wie bei Clauss et al.10 lag auch in unserem Fall eine ausgeprägte intermaxilläre Diskrepanz im Seitenzahnbereich vor. Clauss et al. führen diese auf die vorliegende WNT10A-Mutation zurück10, da Wnt-Proteine eine entscheidende Rolle bei der Differenzierung von neuronalen Kammzellen zu Derivaten des kraniofazialen Skeletts einnehmen und somit dessen Wachstum beeinflussen. Defekte dieses Signalwegs könnten somit das fehlende Wachstum der Alveolarfortsätze erklären14. Andere Autoren wiederum begründen das reduzierte Wachstum der Alveolarfortsätze mit der bei Oligodontien fehlenden Zahnanlage. Dadurch werde der mit dem Durchbruch des bleibenden Zahns verbundene Wachstumsreiz auf den Alveolarfortsatz nicht ausgelöst, woraus wiederum ein reduziertes Knochenangebot resultiere. Ob nun bei Patienten mit WNT10A-Mutationen ausgeprägtere knöcherne Defizite vorliegen als bei Betroffenen mit anderen Formen kongenitaler Zahnnichtanlagen, sollte somit Gegenstand zukünftiger Untersuchungen sein. Schwere Oligodontien können bei den Betroffenen zu psychischen Beeinträchtigungen führen16. In einem systematischen Übersichtsartikel zur kaufunktionellen Rehabilitation bei Patienten mit kongenitalen Zahnnichtanlagen11 konnten Terheyden und Wüsthoff die größte Zufriedenheit bei Patienten ermitteln, die mit implantatgetragenem Zahnersatz versorgt wurden. Auch im hier vorliegenden Fallbericht kann von einer hohen Patientenzufriedenheit ausgegangen werden, welche von der Patientin subjektiv berichtet wurde. Die Messung der mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität wurde bei Erstvorstellung anhand des Fragebogens OHIP-14 erfasst und damals durch die Patientin mit 41 Punkten bewertet. Einen Monat nach Abschluss der prothetischen Versorgung wurde der Fragebogen erneut ausgehändigt und nun ein Score von vier Punkten ermittelt, was einem erheblichen Zugewinn an mundgesundheitsbezogener Lebensqualität entspricht. Patienten mit ektodermalen Dysplasien berichten generell vor prothetischer Rehabilitation von einer reduzierten mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität6. Gerade bei jungen Patienten sollte daher die Möglichkeit einer festsitzenden Versorgung diskutiert werden. In den Richtlinien gemäß § 92 Abs. SGB V werden durch den Gemeinsamen Bundesausschuss Ausnahmeindikationen definiert, welche den Anspruch auf implantat-prothetische Versorgungen als Sachleistung nach § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V auslösen17. Unter diese Ausnahmeindikationen fallen folglich auch WNT10A-Mutationen, welche wiederum zu den ektodermalen Dysplasien und damit zu den angeborenen Fehlbildungen des Kiefers zählen. Da insbesondere implantologisch tätige Zahnärzte, Fachzahnärzte und Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgen von Patienten mit Zahnnichtanlagen kontaktiert werden können, sollte stets auch eine genetische Ursache, wie diese bei WNT10A-Mutationen vorliegen, bedacht und eine humangenetische Beratung erwogen werden. Durch die Autoren konnte bislang nur ein Fallbericht10 zur implantat-prothetischen Rehabilitation eines Patienten mit einer WNT10A-Mutation detektiert werden. Es kann jedoch von einer hohen Dunkelziffer an Patienten mit bislang noch nicht diagnostizierten WNT10A-Mutationen ausgegangen werden. Dies konnte bereits im eigenen Patientenkollektiv der Autoren nachgewiesen werden6. Zum Langzeiterfolg von Implantaten in augmentierten Knochen bei Patienten mit ektodermalen Dysplasien liegen bislang keine Daten vor1. Einige Autoren18 berichten von einer schlechteren Knochenqualität und einer verminderten Vaskularisation. Im einzigen bislang publizierten Patientenfall zur implantatvermittelten prothetischen Rehabilitation eines Patienten mit einer WNT10A-Mutation beschreiben Clauss et al.10 deutliche Resorptionen nach Augmentation mit autologen Knochenblöcken vom Beckenkamm, welche eine zweite Augmentation mit intraoral gewonnenen Knochenspänen in GBR-Technik erforderlich machten. Wir konnten unsererseits keine auffälligen Resorptionen beobachten, sodass wir nicht von generell erhöhten Resorptionsraten bei Patienten mit WNT10A-Muationen ausgehen. Clauss et al. berichten von einem stabilen Ergebnis nach einer Nachbeobachtungszeit von drei Jahren, verweisen jedoch auf die Beteiligung des Wnt-Signalwegs am Knochenmetabolismus und an der Osteoblastenproliferation10, welche diese als eine mögliche Erklärung für die von ihnen beobachtete erhöhe Resorptionsrate nach der ersten Augmentation heranziehen. Auch ist nicht klar, ob Defekte im Wnt-Signalweg klinische Auswirkungen auf die Osseointegration von Implantaten zeigen. Sowohl bei Clauss et al.10 als auch in der hier dargestellten Fallstudie konnte dies nicht beobachtet werden. Dies muss jedoch anhand größerer Patientenkollektive mit entsprechenden Langzeitbeobachtungen untersucht werden.
Schlussfolgerungen
Bisher liegen kaum Daten zu augmentativen und implantologischen Therapien bei Patienten mit WNT10A-Mutationen vor. Auch die Auswirkungen von Defekten im Wnt-Signalweg auf augmentative Maßnahmen und Osseointegration sind bislang ungeklärt. Daher gilt es, die Datenlage weiter voranzutreiben. Bei kongenitalen Zahnnichtanlagen sollte stets auch eine WNT10A-Mutation erwogen und eine humangenetische Beratung in Betracht gezogen werden.
Ein Beitrag von PD Dr. Marcel Hanisch, Pascal Hegemann, Dr. Dominik Suwelack, Prof. Dr. Dr. Johannes Kleinheinz, alle Münster
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