0,00 €
Zum Warenkorb
  • Quintessence Publishing Deutschland
Filter
4126 Aufrufe

Misstrauen gegen Machtstrukturen beeinflusst Wahl medizinischer Verfahren – Komplementär- und Alternativmedizin profitiert vom Glauben an Verschwörungstheorien

Westliche Industrieländer verfügen über ein hoch entwickeltes Gesundheitssystem und eine leistungsfähige medizinische Versorgung. Trotzdem wenden sich viele Menschen, gerade auch in Deutschland, komplementären und alternativen Methoden zu, selbst wenn davor ausdrücklich gewarnt wird. Dies hängt nach neuen Studien mit einem starken Hang zum Glauben an Verschwörungstheorien, der sogenannten Verschwörungsmentalität, zusammen.

Eindeutiger Zusammenhang gefunden

„Wir haben einen eindeutigen Zusammenhang gefunden“, sagt Pia Lamberty von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). „Je stärker die Verschwörungsmentalität einer Person ausgeprägt ist, desto mehr befürwortet diese Person alternative Verfahren und umso mehr lehnt sie konventionelle Heilmethoden wie Impfungen oder Antibiotika ab.“ Dies sollte bei der medizinischen Prävention und bei Interventionsprogrammen im Gesundheitswesen berücksichtigt werden.

Stabiles Persönlichkeitsmerkmal

Eine „Verschwörungsmentalität“ gilt unter Psychologen als ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal. Diese Menschen mit einer starken Tendenz, an Verschwörungstheorien zu glauben, denken, dass die Welt von verborgenen Mächten beherrscht wird, vermutlich weil sie selbst eine gewisse Machtlosigkeit empfinden.

Besonders viele Verschwörungstheorien im Gesundheitsbereich

Auffallend ist nicht erst neuerdings, sondern schon seit längerer Zeit, dass besonders viele Verschwörungstheorien im Gesundheitsbereich kursieren, wie zum Beispiel über das Impfen. Impfgegner und Impfbefürworter stehen sich geradezu ablehnend gegenüber.

Aber auch auf anderen Gebieten ist die Alternativmedizin gefragt. Aktuellen Daten zufolge haben 26 Prozent der Europäer im Laufe von zwölf Monaten zumindest einmal zu komplementären oder alternativen Mitteln gegriffen, wobei homöopathische und naturheilkundliche Medikamente am beliebtesten sind. Diese Beliebtheit ist besonders bemerkenswert, weil etwa die Homöopathie über Placeboeffekte hinaus keine messbare Wirkung hat, so die Mainzer Forscher.

In Deutschland starker Zusammenhang erkennbar

Pia Lamberty und Prof. Dr. Roland Imhoff vom Psychologischen Institut der JGU Mainz haben vor diesem Hintergrund mehrere Studien durchgeführt, um den Zusammenhang zwischen Verschwörungsmentalität und der Bevorzugung alternativer Heilmethoden zu untersuchen. Sie befragten ihre Probanden – 392 Studienteilnehmer in Deutschland und 204 in den USA – über die Nutzung von insgesamt 37 verschiedenen Verfahren von Aromatherapie und Bachblüten über Hypnose und Yoga bis zu Antibiotika und Bluttransfusion. Die Teilnehmer sollten beispielsweise angeben, wie häufig sie die jeweilige Therapie nutzen und wie effektiv sie ihrer Meinung nach ist. „In Deutschland fanden wir einen eindeutigen, unglaublich starken Zusammenhang zwischen Verschwörungsmentalität und Befürwortung alternativer Methoden“, so Lamberty. In den USA besteht ebenfalls eine Korrelation, allerdings nicht so stark ausgeprägt.

Einfluss auf grundlegende gesundheitliche Entscheidungen

Zwei weitere Studien untermauerten den Befund und zeigten zudem, dass die psychologische Brücke zwischen einer Verschwörungsmentalität als einer politischen Haltung und der Bevorzugung von Alternativmedizin in einem Misstrauen gegenüber Macht begründet liegt. „Alles, was mit Macht in Verbindung gebracht wird, wie zum Beispiel die Pharmaindustrie, wird von Verschwörungstheoretikern sehr skeptisch beurteilt“, erklärt Lamberty. In einer der Studien sollten die Teilnehmer über die Zulassung eines fiktiven pflanzlichen Medikaments gegen Ängste, Gastritis und leichte Depressionen entscheiden. Personen mit stark ausgeprägter Verschwörungsmentalität bewerteten das Medikament HTP 530 als positiver und wirksamer, wenn es von einer als machtlos geltenden Patientengruppe entwickelt wurde und nicht von einem Pharmakonsortium.

Rationale Überlegungen treten in den Hintergrund

Lamberty und Imhoff heben die Bedeutung dieser Befunde für das Gesundheitswesen hervor, dass ein generalisiertes Misstrauen gegenüber Machtstrukturen die medizinischen Entscheidungen beeinflusst. „Das individuelle Verständnis einer Erkrankung und die Wahl der Behandlung kann also mehr von ideologiegeprägten Persönlichkeitsmerkmalen abhängen als von rationalen Überlegungen“, schreiben die beiden Autoren in einem Beitrag für das Fachmagazin „Social Psychology“. Eine Verschwörungsmentalität kann beeinflussen, was Patienten für die eigentliche Ursache einer Erkrankung halten, was sie als Anfangssymptom und physiologische Reaktion ansehen und wen oder was sie für ihre Behandlung auswählen.

Kein Umkehrschluss

Die beiden Psychologen machen aber auch deutlich, dass für die Interpretation der Studienergebnisse der Umkehrschluss nicht gilt: Nicht jeder, der zu alternativen Heilmitteln greift, glaubt auch an Verschwörungstheorien.

Nach den Studien zur Bedeutung von Verschwörungstheorien im Gesundheitsbereich untersucht Pia Lamberty derzeit im Rahmen ihrer Dissertation die Rolle von Verschwörungstheorien für Radikalisierungsprozesse. Sie arbeitet dazu für ein Jahr in Israel an der Ben-Gurion-Universität des Negev, unterstützt durch ein Minerva-Fellowship.

Quelle


Pia Lamberty, Roland Imhoff: Powerful Pharma and its Marginalized Alternatives? Effect of Individual Differences in Conspiracy Mentality on Attitudes towards Medical Approaches, Social Psychology, 30. Juli 2018 DOI: 10.1027/1864-9335/a000347
https://econtent.hogrefe.com/doi/10.1027/1864-9335/a000347


Titelbild: Polya olya/Shutterstock.com
Quelle: Abteilung für Sozial- und Rechtspsychologie, Universität Mainz Interdisziplinär Zahnmedizin Bunte Welt

Adblocker aktiv! Bitte nehmen Sie sich einen Moment ...

Unser System meldet, dass Sie eine aktive AdBlocker-Software verwenden, die verhindert dass alle Seiteninhalte geladen werden können.

Fair geht vor: Unsere Partner aus der Industrie tragen durch ihre Anzeigen einen maßgeblichen Teil zum Betreiben dieser Newsseite bei. Diese finden Sie in überschaubarer Anzahl auf der Startseite sowie den einzelnen Artikelseiten.

Bitte setzen Sie www.quintessence-publishing.com auf Ihre „AdBlocker Whitelist“ oder deaktivieren Ihre AdBlocker Software. Danke.

Weitere Nachrichten

  
26. Nov. 2024

Neue S3-Leitlinie „Intensivmedizin nach Polytrauma“

Jeder vierte Schwerstverletzte erleidet eine Gesichtsverletzung – MKG-Chirurgen in Primärversorgung gefragt
21. Nov. 2024

Der Beginn der „stillen Revolution“ in der Zahnheilkunde

Das Cerec-System: Von der Inlay-Maschine zur Netzwerk-Instanz (1) – Prof. em. Dr. Dr. Werner Mörmann skizzierte Status und Zukunft
20. Nov. 2024

Überraschende Erkenntnisse zur Blutbildung

Forschende der Uni Mainz und des MPI decken vielversprechende Eigenschaften des Schädelknochenmarks auf
15. Nov. 2024

Mehr als Füllungen und Kronen: künftige Entwicklungen in der Zahnmedizin

Antrittsvorlesung von Prof. Falk Schwendicke an der LMU München handelte von aufsuchender Versorgung, KI und Prävention
14. Nov. 2024

Zahnfleischgesundheit ist wichtiger Teil der Diabetesversorgung

EFP weist zum Weltdiabetestag am 14. November auf Verbindungen von Zahnfleischerkrankungen und Diabetes hin
8. Nov. 2024

Endo, Kronen-Wurzelfraktur, Kindergartenkinder und Ü50-KFO

Die Quintessenz Zahnmedizin 11/2024 zeigt Bandbreite der zahnmedizinischen Disziplinen und Patientengruppen
8. Nov. 2024

eVerordnung für Hilfsmittel direkt auf das Smartphone

Weiterer Baustein zur Digitalisierung des Gesundheitswesens – Kassen stellen Apps zur Verfügung
7. Nov. 2024

Ein Plus für Erweiterung und Neuausrichtung: AGK+

Namenserweiterung der AG Keramik steht für neue Aufgaben und Inhalte